von Rachel Marsden
Die jährlich stattfindende "Konferenz zu den Reformen in der Ukraine", bringt seit 2017 westliche Offizielle und ihre ukrainischen Fußsoldaten in der "Zivilgesellschaft" zusammen, um zu diskutieren, wie die Ukraine die im Lande grassierende Korruption bekämpfen könnte. Dieses Jahr fand die Konferenz im schweizerischen Lugano statt. Zu diesem Anlass wurde ihr Name kurzerhand in "Konferenz zum Wiederaufbau der Ukraine" geändert.
Aber vielleicht fand man es einfach nicht praktisch, unnötig Aufmerksamkeit auf die Existenz des Korruptionsproblems in der Ukraine zu lenken; sowie auf die schweren Strafen, die in dem Land eingeführt werden mussten, um Investitionen zu unterbinden, mit denen die Korruption weiter angeheizt wird. Doch bloß das Etikett der Konferenz auszutauschen, ändert nichts an der Realität. Auch für die Ukraine selbst ist dies eher kontraproduktiv und sorgt dafür, dass die systemischen Ursachen der Korruption weiterhin bestehen bleiben, die das Land am Vorwärtskommen hindern.
"Die ukrainischen Behörden verzögern die Umsetzung vieler wichtiger Vorhaben bei der Korruptionsbekämpfung", so Andrei Borowik, Exekutivdirektor des ukrainischen Büros von Transparency International, einer von westlichen Regierungen und multinationalen Unternehmen finanzierten Organisation. Was den ukrainischen Präsidenten betrifft, so "scheint die Korruption Herrn Selenskij nicht viele Sorgen zu bereiten – zumindest dann nicht, wenn die darin Verwickelten ihm nahe stehen", schrieb Olga Rudenko, eine Redakteurin beim Kyiv Independent – einer aus dem Westen finanzierten Medienorganisation –, in einem Gastbeitrag für die New York Times im vergangenen Februar kurz vor Beginn der russischen Militäroperation. Selenskij scheint somit nicht gerade der Typ zu sein, den man sich für die Aufsicht über riesige Investitionsprojekte wünscht, sollte man meinen.
Aber heutzutage tritt bei dem westlichen Vorstoß, der die Ukraine als ein typisches europäisches Land darstellen will, die Bekämpfung der grassierenden Korruption in den Hintergrund. "In den vergangenen zwei Jahren haben wir breite Themen zu europäischen Werten diskutiert, hauptsächlich als theoretische Debatte", sagte der slowenische Ministerpräsident Janez Janša:
"Doch jetzt wurde uns klar, dass diese europäischen Grundwerte tatsächlich existieren, dass sie bedroht sind und dass die Europäer sie verteidigen. Mit ihrem Leben. In der Ukraine."
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen räumte zwar ein, dass die Ukraine "eine Reihe wichtiger Reformen" durchführen müsse, sagte aber: "Die Ukraine hat eindeutig ihr Engagement gezeigt, den europäischen Werten und Standards gerecht zu werden und hatte sich bereits vor dem Krieg auf den Weg in die EU gemacht." In Wirklichkeit hat sich jedoch nur geändert, dass westliche Offizielle jetzt eine Möglichkeit sehen, die zurzeit breite Sympathie für die Ukraine – oder je nach Standpunkt: die breite Ignoranz gegenüber ihren Problemen – auszunutzen, um Akzeptanz für eine Idee zu gewinnen, die unter normalen Umständen dem durchschnittlichen EU-Bürger nur schwer zu verkaufen wäre; die Idee, dass die Ukraine ein Nettogewinn für die EU sei anstatt deren künftige Achillesferse und ein Korb voller Probleme, der überhaupt nicht die Anforderungen erfüllt, in die Union aufgenommen zu werden, in der freier Personen- und Warenverkehr zwischen den Mitgliedsstaaten besteht.
Die Staats- und Regierungschefs der EU führen ihre Bürger in jeder erdenklichen Weise direkt in eine Katastrophe, indem sie den militärischen Konflikt selbst hauruckartig handhaben und ihren Fokus auf den Wiederaufbau der Ukraine richten, während die Bomben und Granaten noch durch die Lüfte fliegen und die Korruption im Land weiter wütet. Die westlichen Waffen, die an die Ukraine geliefert wurden – und jetzt offenbar auf Marktplätzen im Dark Web angeboten werden –, sind ein Beispiel für die potenziell tödlichen Folgen dieser Unfähigkeit der EU. Jürgen Stock, der Chef von Interpol, hat insbesondere die Staaten der Europäischen Union davor gewarnt, dass "die breite Verfügbarkeit von Waffen im aktuellen Konflikt, zur illegalen Verbreitung dieser Waffen in der Nachkriegsphase führen wird".
Die Korruptionsprobleme der Ukraine kompromisslos in den Hintergrund zu rücken, nur um ungestörter mit dem Narrativ der Notwendigkeit von Investitionen unter dem Deckmantel eines "Wiederaufbaus" hausieren gehen zu können, stellt eine Bedrohung für die EU dar – und ein Narrativ, das westliche Offizielle nur allzu gerne unterstützen. Zwangsläufig wirft dies die Frage auf, warum das so ist.
Es ist kein Geheimnis, dass westliche Nationen in der Vergangenheit ihre Auslandshilfen dafür benutzt haben, um wirtschaftlich und politisch in anderen Ländern Fuß zu fassen, entweder durch staatlich unterstützte Förderprogramme, die Finanzierung der jeweiligen Zivilgesellschaft oder durch wirtschaftliche Perspektiven für die lokale Wirtschaft.
Aber es gibt einen Haken. Unter den derzeit geltenden Gesetzen, wie dem amerikanischen Gesetz zu den Praktiken ausländischer Korruption, dem britischen Gesetz gegen Bestechlichkeit oder dem französischen Gesetz Sapin II, sind alle Unternehmen oder Einzelpersonen, die im Ausland investieren, dazu verpflichtet, korruptionsfreie Transaktionen sicherzustellen. Sollten die Investitionen westlicher Unternehmen in den ukrainischen Wiederaufbau also in die falschen Hände geraten, müssen deren Vorstandsmitglieder, Mitarbeiter und Manager am Ende mit Gefängnisstrafen rechnen.
Die Strafverfolgung in solchen Fällen ist allerdings naturgemäß sehr selektiv. Wie oft hört man zum Beispiel von US-Unternehmen, die wegen ihrer Geschäfte im von Korruption verseuchten Nigeria strafrechtlich verfolgt wurden? Nie. Denn Nigeria ist ein Jagdrevier Washingtons.
Das amerikanische Recht wurde im wirtschaftlichen Wettbewerb zudem oft genug als Instrument zur selektiven Strafverfolgung gegen europäische Unternehmen eingesetzt. Aus diesem Grund führte eine Reihe europäischer Länder ihre eigenen, den US-Gesetzen ähnlichen Regelungen ein, um rechtliche Instrumente zur Verfügung zu haben, die eigenen Leute strafrechtlich zu verfolgen und zugleich amerikanischen Bestrebungen zuvorzukommen, die ausländische Konkurrenz juristisch schachmatt zu setzen.
Westliche Unternehmen haben ein wirtschaftliches Interesse daran, die Ukraine als sicheren Ort für Investitionen darzustellen. Andernfalls werden sie zur leichten Beute für die Behörden anderer Länder, wenn diese sich dazu entschließen, die Verfolgung korrupter Investitionsgeschäfte in der Ukraine zu nutzen, um ausländische Konkurrenten vom Spielfeld zu drängen.
Das vornehmliche Interesse westlicher Unternehmen bestand stets darin, Russland als Handelspartner der Ukraine an den Rand zu drängen, um dann in dem Land wie in einem neuen Goldrausch zu agieren. Diese Unternehmen beabsichtigen, dem Steuerzahler zu Hause die Risiken für ihre Geschäfte im Ausland aufzuerlegen, während sie gleichzeitig Pläne hegen, später gegeneinander um den Reichtum zu kämpfen, den sie erzielt haben. Zusätzlich fällt für Washington der strategische Effekt ab, mit der Isolierung Russlands auch die EU zu schwächen. Um von den Durchschnittsbürgern und Steuerzahlern dafür grünes Licht zu bekommen und diese davon zu überzeugen, das Risiko zu finanzieren, müssen die beteiligten Akteure ihr Vorhaben so wohlwollend wie möglich klingen lassen – daher auch die Vergleiche zum Marshall-Plan, der nach dem Zweiten Weltkrieg Deutschland aus seinen Trümmern auferstehen ließ – und alle Hinweise auf Korruption auf die kleinstmögliche Flamme reduzieren.
Übersetzt aus dem Englischen.
Rachel Marsden ist Kolumnistin, politische Strategin und Moderatorin eines unabhängig produzierten französischsprachigen Programms, das auf Sputnik France ausgestrahlt wird. Ihre Webseite ist rachelmarsden.com.
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