Ein Kommentar von Igor Karaulow
In einer Ansprache an die Staats- und Regierungschefs der G7 erklärte der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij erneut, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für Verhandlungen mit Russland sei. Um solche Verhandlungen zu führen, müsse die Ukraine eine stärkere Position einnehmen, sagte er.
Dieses Verhalten ähnelt ein wenig dem eines Zockers, der all sein Geld verloren hat und verzweifelt versucht, dennoch zu gewinnen. Er setzt seine Uhr, seine Manschettenknöpfe, seine Krawatte und sein Hemd aufs Spiel – und verliert. Was setzt Herr Selenskij aufs Spiel? Weitere Abertausende von Menschenleben, Strapazen und Entbehrungen für Millionen ukrainischer Familien. Wie sollte es denn auch anders sein, wenn seine "Experten" wie Alexei Arestowitsch regelmäßig darauf hinweisen, dass ein Wendepunkt an den Fronten bevorsteht? Im April versprach man einen Durchbruch bis Juni, jetzt verspricht man einen bis August. Folglich ist der Durchbruch immer zwei Monate entfernt. In einem legendären Moskauer Schnapsladen war ein ständiges Inserat angebracht: "Morgen ist das Bier kostenlos." Dasselbe gilt für die umfassende ukrainische Gegenoffensive.
Die Logik nach dem Motto "wir werden nur in einer starken Position verhandeln" ist jedoch ziemlich angreifbar. Wird die Partei in der schwächeren Position dazu neigen, die Verhandlungen auf für sie bessere Zeiten zu verschieben? Außerdem ist nicht sichergestellt, dass eine stärkere Position die Ukraine zu Verhandlungen bewegen würde. Im Gegenteil würde sie auf ihrem Erfolg aufbauen und den Donbass erobern und auf die begehrte Krim gelangen wollen. Immerhin wird auch Russland nicht aufhören. Jetzt, wo sich der Prozess der Befreiung des Donbass spürbar beschleunigt hat.
Übrigens, die Verwendung der Formulierungen "Selenskij sagte" oder "Selenskij denkt" ist nur in einem sehr bedingten Sinne möglich. Die Kommunikation zwischen dem ukrainischen Präsidenten und den Mächtigen des Westens folgt einem kreisförmigen Schema. Selenskij sagte, was ihm gesagt wurde, nur um im Gegenzug etwas anderes zu hören, das ebenfalls erwartet und im Voraus vereinbart wurde. Welch ein Kasperletheater. Doch nicht umsonst werden Regime wie das in Kiew seit jeher als Marionettenregime bezeichnet.
Weil in den Reihen der Strippenzieher nicht wirklich Uneinigkeit, sondern bestimmte Interessengruppen herrschen, kann davon ausgegangen werden, dass Selenskijs Ablehnung von Verhandlungen vor allem die britische Sichtweise widerspiegelt. Anscheinend sind Deutschland, Frankreich und Italien, die den Kern Kontinentaleuropas bilden, bereit, schon morgen zu verhandeln. Und zwar unter Bedingungen, die sie als erhebliche Zugeständnisse zugunsten Russlands ansehen.
Indessen haben die Briten größere Ambitionen. Von London aus wird die Situation wie folgt gesehen: Sind die Feindseligkeiten ausgebrochen, muss man die Gelegenheit nutzen, um Russland mit den Ukrainern bis zum Gehtnichtmehr zu schlagen. Und wenn ihnen die Ukrainer ausgehen, dann mit den Polen, Litauern, Rumänen und anderen Völkern, die für London von geringem Wert sind. Auf einen Schlag den Rosenberg-Plan, Churchills "Operation Unthinkable" und all die anderen russophoben Pläne und Projekte umsetzen. Auf diese Weise will Großbritannien aus einem lokalen Konflikt einen gesamteuropäischen, wenn nicht gar einen weltweiten Krieg machen.
Wie steht es mit den USA, der Spitze der westlichen Nahrungskette? Die USA fungieren als Schiedsrichter. Einerseits lehnen sie Verhandlungen nicht ab und bekunden ihr Interesse an einer Lösung des Konflikts in absehbarer Zeit, andererseits liefern sie unermüdlich immer mehr Waffen an die Ukraine und tragen so zu einer Verlängerung der Feindseligkeiten bei.
Es ist verständlich, dass von Washington aus ein viel umfassenderes Bild zu sehen ist als von London oder Berlin aus. Wenn beispielsweise Johnsons Ambitionen nur von persönlichen Komplexen und Phantomschmerzen über das ehemalige Imperium geleitet werden, muss der globale Hegemon die Gesamtheit seiner Interessen auf verschiedenen Flanken berücksichtigen. Deshalb wird die Entscheidung zwischen Verhandlungen und einem großen Krieg letztlich von den Interessen der USA abhängen.
Der gesamte NATO-Gipfel war damit beschäftigt, die Ukraine davon zu überzeugen, bis zum Schluss durchzuhalten. Selbst Spaniens Premierminister bediente sich des Signets "No pasaran!". Allerdings, je weiter die Entwicklung voranschreitet, desto mehr scheint es, dass das Schicksal der Ukraine, wie auch immer es letztlich ausgeht, eine vergangene Phase in der strategischen Planung des kollektiven Westens ist. Die Ukraine mag verschwinden, sie mag fortbestehen, sie mag Gebiete verlieren, doch sie hat die Aufgabe, Russland vor einer weiteren, noch nicht absehbaren Runde von Konfrontationen zu zermürben. Heute wird die Ukraine ermutigt, so gut es geht, und morgen, wenn ihre Mission als erfüllt gilt, wird das, was von ihr übrig geblieben ist, ein geiziges europäisches Merci erfahren. Möglicherweise wird es in den Schulbüchern sogar einen Satz über die Verdienste des ukrainischen Volkes bei der Verteidigung Europas gegen die "östliche Barbarei" geben.
In diesem Sinne könnten Friedensgespräche nur mit den USA geführt werden. Selbst eine Teilnahme ihrer engsten Verbündeten, ganz zu schweigen von Vertretern Kiews, wäre überflüssig. Sie würden nur im Weg stehen. Und diese Verhandlungen könnten jederzeit beginnen. Zum Beispiel, wenn sich etwas rund um Taiwan oder auf dem Parkett der New Yorker Börse ereignet. Auf der anderen Seite, obwohl Bidens Berater Sullivan gesagt hat, dass es nicht im Interesse Kiews sei, den Konflikt zu verlängern, könnten die Gespräche auf unbestimmte Zeit verschoben werden. Nicht in Erwartung eines Wendepunkts an den Fronten, sondern einfach, weil die NATO Zeit braucht, um weitere militärische Einheiten entlang der Grenze zu Russland zu stationieren.
Somit versteht Moskau, mit wem genau man über die Ukraine sprechen muss. Aber Moskau ist sich auch darüber im Klaren, dass mit dieser Seite im Moment kein dauerhafter und fundamentaler Frieden ausgehandelt werden kann. Sobald sie eine Auszeit benötigen, werden sie diese mit der gleichen Entschlossenheit einfordern, mit der sie jetzt die Ukrainer zur Schlachtbank treiben. Und dann wird das Schicksal des "Friedens" davon abhängen, welche Seite eine solche Atempause am besten zu nutzen weiß.
Einen echten Frieden kann Moskau nur mit dem ukrainischen Volk aushandeln. Vorausgesetzt, die Marionettenregierung in Kiew wird durch eine national orientierte Regierung ersetzt. Natürlich klingt das völlig unrealistisch. Aber der Erfolg der russischen Truppen in Verbindung mit dem moralischen Verfall des Kiewer Regimes könnte Wunder bewirken. Letztendlich könnte eine paradoxe Situation entstehen, in der Russland in der Lage wäre, dem ukrainischen Staat ein besseres Angebot zu machen als die Länder, die sich als seine "Verbündeten" bezeichnet haben. Erst dann könnten in Kiew Menschen hervortreten, mit denen realistische, aufrichtige Verhandlungen möglich wären.
Übersetzt aus dem Russischen
Igor Karaulow ist ein russischer Dichter, Übersetzer und Publizist.
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