Ein Kommentar von Daniel Kovalik
Unlängst am 23. Juni veranstaltete eine vom US-Kongress finanzierte Organisation – die Kommission für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, auch bekannt als Helsinki-Kommission – eine virtuelle Konferenz, auf der zur "Entkolonialisierung Russlands" aufgerufen wurde. Dies wirft die Frage auf, warum man nicht längst die Entkolonialisierung der Vereinigten Staaten anstrebt. Schließlich wurde diese Nation buchstäblich von Nachfolgern weißer Kolonisten gegründet, die erst einen Ozean überqueren mussten, um dann dieses Territorium den Ureinwohner gewaltsam zu entreißen.
Während die Redner der Konferenz, die man sich hier anhören kann, die aktuelle Krise in der Ukraine zum Ausgangspunkt nahmen, forderten sie von der Russischen Föderation eine "Entkolonialisierung" von Regionen und Republiken, die – wie Sibirien und Tatarstan – seit dem 16. Jahrhundert oder – wie zum Beispiel Tschetschenien – seit dem frühen 19. Jahrhundert von Moskau aus regiert werden.
Eine solche Forderung wäre gleichbedeutend mit der Aufforderung an die USA, ihr gesamtes Territorium vom Atlantik bis zum Pazifik aufzugeben, ganz zu schweigen von neueren Annexionen, wie zum Beispiel Hawaii, das erst 1959 ein vollwertiger Bundesstaat der USA wurde. Als ein Teilnehmer der Konferenz fragte, wie die USA angesichts dieser Diskussion über eine "Entkolonialisierung von Russlands" mit dem Thema Hawaii umgehen sollten, salbaderten die Podiumsredner um diese Frage herum und wechselten alsbald das Thema, um damit letztlich nur zu beweisen, dass man sich nicht wirklich so sehr mit einer "Entkolonialisierung" befassen wollte, sondern in Wirklichkeit mehr daran interessiert ist, die Russische Föderation in Einzelteile aufzuspalten.
Die Redner der Konferenz konzentrierten sich stark auf "Russland" in der Sowjetzeit, obwohl die von ihnen erwähnten übrigen Sowjetrepubliken lange vor der Revolution von 1917 bereits Teil des zaristischen Russlands waren. Wenn überhaupt, verlieh die UdSSR all diesen Gebieten mehr Unabhängigkeit als sie je zuvor hatten. Das Gespenst der Sowjetunion heraufzubeschwören und es mit dem heutigen Russland zu verschmelzen, ist die Standardfinte, die jeweils angewendet wird, um Hysterie gegen Moskau als eine Art imperiale Macht zu schüren, die angeblich versucht, die Welt zu erobern.
Aber solch ein Versuch ist von vorneweg zum Scheitern verurteilt. Wie bereits namhafte Historiker – wie Eric Hobsbawm und Jean Bricmont – betont haben, besteht die Ironie natürlich darin, dass es außer der Sowjetunion bisher keine andere Nation auf der Welt gab, die einen Befreiungskampf der Dritten Welt gegen den Kolonialismus aktiv unterstützte. Und sicherlich waren es nach dem Zweiten Weltkrieg die USA, die sich gnadenlos für den Erhalt des westlichen Kolonialismus einsetzten.
Wenn man sich also Fälle wie Korea, Vietnam, Kuba, Palästina oder Nicaragua ansieht, um nur einige Beispiele zu nennen, war es die UdSSR, die jeweils die nationalen Unabhängigkeitskämpfe dieser Länder unterstützte, während die USA die "Alten Regimes" militärisch verteidigten. Der bemerkenswerteste Fall waren natürlich Südafrika und die südafrikanischen Frontstaaten, wo die USA und Israel verzweifelt versuchten, die Apartheid und die koloniale Herrschaft der Siedler aufrechtzuerhalten, während die Sowjetunion und ihr Verbündeter Kuba dagegen kämpften – und das sogar ziemlich erfolgreich – um diese Herrschaften zu besiegen.
Darüber hinaus muss betont werden, dass es mehr als jede andere Nation die Sowjetunion war, die in den 1940er Jahren den Kampf gegen den Versuch Nazi-Deutschlands anführte, Europa – und letztendlich auch noch den Rest der Welt – zu kolonisieren. Die UdSSR opferte dabei 27 Millionen Menschen.
Unterdessen haben die USA seit dem Zweiten Weltkrieg ein Imperium von bisher weltweit unbekanntem Ausmaß geschaffen. Es wird geschätzt, dass die Vereinigten Staaten ungefähr 800 formelle Militärbasen in 80 Ländern betreiben, eine Zahl, die 1.000 überschreiten könnte, wenn man die Truppen mitzählt, die in Botschaften, Missionen und sogenannten "schlafenden" Stützpunkten stationiert sind und die etwa 138.000 im Ausland stationierte Soldaten umfasst. Keine andere Nation der Welt hatte jemals oder hat heute eine solche militärische Reichweite. In der Tat haben die relativ wenigen anderen Länder, die Militärstützpunkte im Ausland haben, zusammengenommen nicht einmal ein Zehntel der Anzahl der Stützpunkte der USA.
Tatsächlich betreiben lediglich elf weitere Nationen Stützpunkte im Ausland, die zusammengezählt etwa 70 ausmachen. Russland hat schätzungsweise 26 bis 40 Stützpunkte in neun Ländern, hauptsächlich in ehemaligen Sowjetrepubliken sowie in Syrien und Vietnam. Apropos Syrien: Während die Redner der Helsinki-Kommission versuchten zu behaupten, Russland sei dort in eine Art neokoloniale Bestrebung verwickelt, sind es in Wirklichkeit die USA, die als ungebetener – und daher illegaler – Eindringling in Syrien auftreten und ein Drittel des Landes gegen den Willen der syrischen Regierung besetzen und unter Verletzung der Genfer Konventionen in diesem besetzten Land regelmäßig syrisches Öl für sich plündern.
Unterdessen behält Washington weiterhin seinen kolonialen Einfluss auf Territorien wie Puerto Rico, Guam, Guantanamo Bay und Hawaii, ganz zu schweigen von der Tatsache, dass das gesamte Gebiet der heutigen Vereinigten Staaten von Amerika und Mexiko Land darstellt, das indigenen Völkern gestohlen wurde.
Kurz gesagt, die US-Regierung und ihre gefügigen NGOs haben keine moralische Grundlage, um irgendjemanden zu "dekolonisieren", bevor sie sich an die Dekolonisierung ihrer eigenen Territorien gemacht haben.
Eine solche Anstrengung könnte mit der Entfernung von US-Militärstützpunkten auf der ganzen Welt und dem damit einhergehenden Abzug aller ausländischen US-Truppen beginnen sowie mit der Rückgabe aller gestohlener Vermögenswerte und Ressourcen an Länder wie Afghanistan, Syrien, Venezuela und Russland, die Rückgabe von Guantanamo Bay an Kuba, das Abhalten von Referenden in Puerto Rico und Hawaii über deren Unabhängigkeit und die Zahlung weitreichenderer Reparationen an die Ureinwohner der Vereinigten Staaten und an die Nachkommen ehemaliger Sklaven.
Eine Fokussierung auf die Sünden des eigenen Landes wäre nicht nur richtig, sondern auch erfolgsversprechender und vermeidet auch die Risiken, die mit dem Befürworten der Zwangszersetzung anderer Nationen wie der Russischen Föderation verbunden sind – wie es die Helsinki-Kommission in ihrem zumindest implizit ergangenen lautstarken Appell einer "Entkolonialisierung Russlands" fordert.
Daniel Kovalik lehrt Internationale Menschenrechte an der University of Pittsburgh und ist Autor des kürzlich erschienenen Buches 'No More War: How the West Violates International Law by Use "Humanitarian" Intervention to Advance Economic and Strategic Interests'.
Übersetzung aus dem Englischen
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