Eine Analyse von Bernhard Loyen
Seit gut zwei Jahren wird den Bürgern in diesem Land in beeindruckender Regelmäßigkeit vor Augen geführt, wie sich die kooperierende und ausführende Politik und Teile einer respektierten, also ausgesuchten und geduldeten Wissenschaft, ungeachtet nachweislich negativer (Aus)Wirkungen verordneter Maßnahmen und Wirkstoffe, nur bedingt von dem sich dynamisierenden Leid der Menschen beeindrucken lassen.
Der Ton hinsichtlich der dringlichen Notwendigkeit einer gesamtgesellschaftlichen Aufarbeitung der Coronakrise, verschärfte sich in den zurückliegenden Wochen – ausgehend von einer zunehmenden Zahl medialer Berichte über massive Impfstoff-Nebenwirkungen, aber gerade auch über das stille Leiden der Kinder und Jugendlichen, alleinerziehender Erwachsener, sozial-prekärer Gesellschaftsgruppen bis hin zu den bekannten Auswirkungen der Maßnahmen im Bereich von Pflege- und Altenheimen.
Der mit Spannung erwartete Bericht der Mitglieder der Sachverständigenkommission wurde nun schließlich am 1. Juli im Rahmen einer Pressekonferenz den politischen Entscheidern, in dem Fall dem Gesundheitsminister Karl Lauterbach, überreicht. Irritierenderweise fehlte an diesem wichtigen Tag im politischen Berlin jedoch das Gesicht der zweitwichtigsten verantwortlichen Behörde in der Coronakrise neben dem Bundesgesundheitsministerium (BMG), Lothar Wieler, der Chef des Robert-Koch Instituts. Der Welt-Journalist Tim Röhn informierte am 1. Juli via Twitter, dass eine Interviewanfrage an Wieler, "der als Präsident des so scharf kritisierten RKI natürlich in der Verantwortung steht", ergangen sei. Am Nachmittag folgte die ergänzende Information: "Aus dem Gespräch mit RKI-Präsident Wieler wird nichts. Hat mir gesimst, er sei im Urlaub."
Irritierend, da Lothar Wieler sich rückblickend ansonsten sehr regelmäßig und ambitioniert in den Räumlichkeiten der Bundespressekonferenz zeigte, zum Mahnen, Warnen und Einstimmen auf weiterhin schwierige Zeiten im Land. Dabei hatte er sich fortlaufend auf Daten gestützt, die jedoch laut Einschätzung der Mitglieder der Sachverständigenkommission in der Gesamtbetrachtung so unzureichend sind, dass sie in das Gutachten nicht sinnbringend eingebunden werden konnten. So heißt es in einem Welt-Artikel zur Veröffentlichung:
"In seiner Evaluierung der Corona-Politik in Deutschland übt ein interdisziplinärer Sachverständigenausschuss tiefgreifende Kritik an den politischen Entscheidungsträgern und dem Robert Koch-Institut (RKI). Auf Dutzenden Seiten beschreiben die 18 Ratsmitglieder – darunter Juristen, Virologen und Naturwissenschaftler – die von Politik und Behörden zu verantwortende katastrophale Corona-Datenlage in Deutschland, die der Grund dafür sei, dass man die meisten von der Politik verordneten Maßnahmen nur unvollständig habe bewerten können."
Das besonders scharf kritisierte RKI hat innerhalb der letzten 24 Stunden noch keinen einzigen Kommentar zu den dargelegten Kritikpunkten in dem Guthaben veröffentlicht, der Chef weilt im Urlaub, obwohl seit Ende April der Termin zur Gutachten-Veröffentlichung bekannt war. Ein weiterer Skandal, bis dato ohne politische Kommentierung oder Konsequenz. Lediglich FDP-Vize Wolfgang Kubicki reagierte dahingehend, dass er Minister Lauterbach (SPD) medial aufforderte, den "RKI-Präsidenten Lothar Wieler als Verantwortlichen dieser Misere" zu entlassen.
Welcher Bürger hat die Kraft und Muße, die insgesamt 160 Seiten zu studieren? Zu einer Einschätzung, einer komprimierten Kurzdarlegung, schalten daher die den öffentlich-rechtlichen Medien Auskunft gebenden Minister in entsprechende Sendungen. So erfährt der Bürger nicht nur Teilinhalte des Papiers, sondern er erlebt erneut und in beeindruckender Nachhaltigkeit die gelebte Arroganz der Macht, in diesem Falle par excellence gespiegelt durch Gesundheitsminister Karl Lauterbach.
Beim Auftritt im Heute-Journal des ZDF am Abend des 1. Juli lautete die Anmoderation: "Aus Fehlern sollte man lernen, das gilt immer im Leben". Damit wurde Lauterbach zu Beginn des Interviews dezent die Chance gegeben, den Zuschauern zumindest im Ansatz etwas reflektierte Hinterfragung der zurückliegenden Aktivitäten durch die mit dem Gutachten gewonnenen Erkenntnisse zu vermitteln. Fehlanzeige – unbeirrt und überzeugt von seiner Leistung, entgegnet er vermeintlich selbstbewusst:
"Ich weiß nicht, ob man von Fehlern hier reden kann, aber es gibt Anregungen."
Dann wird unmittelbar knallhart – nennen wir es: geschwindelt. Ausgehend von der eindeutig formulierten Kritik in dem Gutachten des Sachverständigenausschusses formuliert Lauterbach die unbelegte Behauptung, dass sich die Realität der Nichtexistenz von Datenerhebungen, zum Thema Maßnahmen-Effektivität, nun zwar zeitnah ändern würde, "aber die hätten wir auch verändert ohne das Gutachten, weil wir diese Probleme ja kannten." Teil zwei der Antwort stimmt zumindest, denn die Umstände mangelnder Datenanalysen sind dem RKI seit Jahren bekannt.
Ob diese Aussage zutreffend, frech oder anmaßend ist, muss jeder Bürger für sich entscheiden. Tatsache bleibt, die handelnde und einfordernde Politik sieht weiterhin nur sehr wenig Bedarf für eine Aufarbeitung der gesellschaftlichen Ereignisse seit Beginn des Jahres 2020. Es sei jedoch daran erinnert: Ohne die nötige Zustimmung eines Großteils der sogenannten gewählten Volksvertreter im Deutschen Bundestag wäre die Umsetzung, also Einforderung der nun kritisierten Maßnahmen nicht möglich gewesen. Lauterbach gesteht dann überraschend freimütig zum Thema Lockdown-Verordnungen zu:
"Klar ist, dass Lockdown-Maßnahmen, also Regeln, weltweit wenig gebracht haben, nach dem Beginn der Pandemie, somit glaube ich nicht, dass wir das jemals nochmal vorsehen werden, das sind jetzt auch ganz andere Verhältnisse."
Andere Verhältnisse gegenüber dem Herbst 2020 oder 2021, als die jeweiligen Lockdown-Maßnahmen politisch bedingt tausenden Menschen die individuelle Biografie zerstörten? Wie hieß es doch zu Beginn des Interviews: "Ich weiß nicht, ob man von Fehlern hier reden kann." Der Glaubwürdigkeitseffekt, eine bekanntermaßen schwierige Größe in der Politikerkaste.
Eine Schwäche des Gutachtens sei laut Lauterbach, dass die Ergebnisse der Maßnahmen-Auswertungen aussagen, dass "sie helfen, aber wir wissen nicht, wie stark sie helfen." Helfen? Auch diese Wahrnehmung ist politisch professionell formuliert, aber anmaßend. Die Realität für Millionen Bürger lautet in der Rückbetrachtung, dass die Maßnahmen äußerst stark in den Alltag der Menschen eingriffen, jedoch sehr wenig in Bezug auf ihre gesundheitspolitische Begründung brachten, nur sehr bedingt geholfen und in vielen Fällen auf zwischenmenschlicher Ebene geschadet haben. Lauterbach mit leichtem Schulterzucken zum Ende des Interviews hin:
"Ich fand das Gutachten spannend, aber auf der anderen Seite ist es auch nur ein Baustein."
Dann der Wechsel am selben Abend zu den Tagesthemen in der ARD. Gleich zu Beginn die entlarvende persönliche Sicht es Ministers auf das kritische Gutachten sowie auf seine politische Tätigkeit als Minister. "Und selbst wenn es so wäre, wenn das Gutachten das sagen würde [dass die politischen Maßnahmen tendenziell ineffektiv waren und zum Teil erhebliche gesellschaftliche Schäden hervorriefen]:
"Das ist hier keine Bibel aus der zu zitieren ist."
Wer trägt also nun die politische Verantwortung für das vollkommen ausgetrocknete Daten-Flussbett? Auf die Feststellung der Tagesthemen-Moderatorin, dass für die von Lauterbach wie auf Knopfdruck mantraartig vorgetragene Herbst-Maßnahmen-Ankündigung, die anvisierte unmittelbar startende Sieben-Punkte-Planung, wie eindrücklich durch das Gutachten belegt, jegliche Datenbasis fehle, "auf der sie weiter entscheiden könnten", antwortete der Gesundheitsminister vollkommen unbeeindruckt vom Leid und Kummer von Millionen Bürgern in diesem Land:
"Also, ich blicke ja nicht zurück, was damals gewesen ist, wir haben damals nicht die perfekten Daten gehabt. Ich blicke nach vorne und mit dem Pandemieradar, den wir heute beschlossen haben, also bessere Daten tagesaktuell ab September … – ich schaue einfach nach vorne."
Er möchte also nicht zurückblicken, der permanente Mahner, Warner und Maßnahmen-Einforderer der Jahre 2020 und 2021. Und wie sieht es mit dem persönlichen politischen Radar des seit Dezember 2021 gesamtverantwortlichen Ministers Lauterbach aus? Nicht der Hauch eines Ansatzes reflektierender Selbstkritik, aus der in der Summe der Ereignisse von Fehlwarnungen, Fehleinschätzungen und Fehlentscheidungen eigentlich nur ein Rücktritt erfolgen kann, ist zu erwarten.
Abermillionen von Impfstoffdosen mit nahendem Verfallsdatum, die auch noch in Verantwortung seiner Ministertätigkeit aufgestockt wurden, beunruhigen den Minister nicht im Geringsten. Auch die ausbleibende Einlösung der Versprechen der Pharmaindustrie, die desaströs niedrige Rundum-Effektivität der Wunder-Wirkstoffe der Hersteller BioNTech und Moderna, geben ihm anscheinend nicht zu denken. Dafür vermittelt er – mal wieder – den Bundesbürgern für den Herbst ein bedenkliches Potpourri gefühlten Wissens:
"Wir werden also adaptierte (angepasste) Impfstoffe haben, ich hoffe, wir bekommen die früh, es könnte aber sein, dass wir die erst Mitte/ Ende Oktober bekommen, die werden dann sehr wirkungsvoll sein."
Mit den Erfahrungswerten vorhandener (Wirkstoff-)Daten und stetig steigenden Meldungen von massiven Impfnebenwirkungen (ab Min. 18:40) offenbart sich hier erneut das rein spekulative und anmaßende Wunschdenken eines gesamtverantwortlichen politischen Amtsträgers. Lauterbachs Resümee des Gutachten-Tages gegenüber den Zuschauern, also betroffenen Bürgern, zeigt die sich anbahnende "Weiter-So"-Politik aus dem BMG, hinsichtlich erneuter drohender Einschränkungen des Lebens im Herbst und Winter 2022:
"Das neue Gutachten ist da wichtig, darf aber kein Bremsklotz sein."
Es folgen Beispiele aus dem Gutachten – als Dokumente einer nur sehr bedingt effektiven Corona-Politik in diesem Land:
- Zum Thema Ausweitung des IfSG (Seite 14): "Für das IfSG als Rechtsgrundlage der Pandemiebekämpfung besteht erheblicher Reformbedarf. So stellt die 'Feststellung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite' (§ 5 Abs. 1 IfSG) eine juristisch fragwürdige Konstruktion dar."
- Zum Thema Meinungsfreiheit (Seite 55): "Kontroverse Meinungen gehören zu einer demokratischen Debatte dazu. Abweichende Ansichten müssen daher erlaubt sein. Die Gesellschaft sollte sich damit konstruktiv auseinandersetzen."
- Zum Thema Impfungen (Seite 72): "Die Wirksamkeit der Impfung ... kann aus Gründen der Komplexität nicht behandelt werden. ... Die Evaluationskommission verweist daher auf das Robert-Koch-Institut und die STIKO."
- Zum Thema Inzidenzwerte (Seite 80): "Auffällig ist der Rückgang der Inzidenzen ab Ende Dezember 2020 bis Februar 2021, der Maßnahmenindex steigt währenddessen weiter. ... Insgesamt ist ein Zusammenhang zwischen der Höhe der Inzidenz und der Maßnahmenstärke nicht erkennbar."
- Zum Thema 2G-/ 3G-Regelungen (Seite 87): "Die wenigen vorliegenden Studien ergeben zudem ein sehr heterogenes Bild, insgesamt erscheint die nachgewiesene Wirkung auf Bevölkerungsebene aber eher gering."
- Zum Thema "Unerwünschte Wirkungen" von Kontaktpersonennachverfolgung (KPN) (Seite 90): "Zusätzlich ist zu bedenken, dass die Anordnung und Kontrolle von Isolierung oder Quarantäne sowie die Befragung durch die Gesundheitsämter durch die örtlichen Ordnungsbehörden einen Eingriff in die Privatsphäre darstellen und Gefühle von Angst und Misstrauen hervorrufen können."
- Zum Thema Schulschließungen (Seite 96): "Während der Schulschließungen wurden auch Depressionen bei Elternteilen als Auslöser für die Entwicklung von psychologischen Problemen bei Kindern festgestellt. Kinder waren der Gefahr ausgesetzt, sich den emotionalen Stress der Eltern anzueignen. Dies betrifft vor allem die sehr jungen Kinder, die solche Situationen noch nicht kannten."
- Zum Thema "Wirkmechanismus von Masken" (Seite 99): "Ob das korrekte Tragen von Masken durch öffentliche Kampagnen gefördert und damit die Effektivität der Prävention gesteigert werden kann, ist plausibel, aber nicht untersucht."
- Zum Thema "Verordnungsermächtigung (...) § 28c IfSG (Seite 151): "Ob geimpfte/genesene und möglicherweise auch getestete Personen von Schutzmaßnahmen ausgenommen werden, ist eine in hohem Maße grundrechtsrelevante Frage, die nicht dem Verordnungsgeber überlassen werden darf. Es empfiehlt sich daher, zumindest den Status des 'Immunen' in den Katalog der Begriffsbestimmungen des § 2 IfSG aufzunehmen und in den §§ 28ff. IfSG."
- Zum Thema Lockdown - "Individuen: Bestandsaufnahme und Folgen im Psychosozialen Bereich" (Seite 104): "So ergab eine Auswertung von GoogleTrends-Daten, dass im Vergleich zum entsprechenden Zeitraum im Jahr 2019 die Suchanfragen zu den Themen 'Langeweile', 'Einsamkeit', 'Sorgen' und 'Traurigkeit' signifikant angestiegen sind."
Für sehr, sehr viele Menschen in diesem Land lautet das kritische Resümee für die Jahre 2020 bis in die Gegenwart: Nicht Corona, nicht COVID-19, hat mein Leben, das meiner Angehörigen, eingeschränkt, massiv manipuliert, auch zerstört. Nicht Corona hat dazu geführt, dass der Arbeitsplatz verloren ging, die Privatinsolvenz Realität wurde, oder dass die Liebsten nicht mehr gesehen werden durften. Nicht das Virus hat die Wirtschaft in den freien Fall gestürzt. Nicht Corona hat die geistige Gesundheit, die Entwicklung behindert oder zerstört, den Körper psychisch wie physisch malträtiert. Corona hat nichts von alledem getan. Verantwortlich dafür waren Politiker, die Regierung, die unterstützenden Abgeordneten.
Der Charité-Virologe Christian Drosten twitterte nach seinem Rückzug aus dem Sachverständigenrat, kurz vor Veröffentlichung des Gutachtens, für ihn und seine Fan-Fraktion vermeintlich amüsant: "So einfach werdet Ihr mich nicht los :-)". Drosten gilt nachweislich als regierungskonformer, protegierter und die Maßnahmen unterstützender Wissenschaftler. Daher könnte dieses mutmaßliche "Witzchen" für viele Menschen, in Verbindung mit der Reaktion von Minister Lauterbach auf das Gutachten, je nach Wahrnehmung, auch als Drohung verstanden werden.
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