von Jewgeni Krutikow
Je näher die Niederlage der größten Gruppe der ukrainischen Streitkräfte im Donbass rückt, desto häufiger wird in den letzten Monaten die Frage gestellt: Wie geht es weiter? Wie und was wird das weitere Vorgehen der russischen Armee und der Donbass-Milizen sein? Trotz der Unvorhersehbarkeit militärischer Operationen – aus gutem Grund – lassen sich wohl einige Ziele künftiger Schläge vorhersagen.
Eines der größten Rätsel dieser Tage ist die Frage, warum Kiew den "Fall von Mariupol" wiederholt und seine Donbass-Gruppierung mit neuen Einheiten auffüllt, anstatt die Truppen aus dem Gebiet um Slawjansk und Kramatorsk abzuziehen. Die Lösung liegt viel eher im Bereich der Außenpolitik als im Militärischen.
In Kiew ist man offenbar der Ansicht, dass die Beibehaltung der gegenwärtigen Frontlinie (selbst unter großen Verlusten) notwendig sei, um Zeit für die Bildung einer neuen Armee zu gewinnen, die vollständig mit den erhofften, aus dem Westen gelieferten Waffen ausgerüstet ist.
Daher könnten sich die Kämpfe um den Ballungsraum Slawjansk-Kramatorsk auch vor dem Hintergrund mehrerer erfolgreicher Durchbrüche des Gegners in benachbarten Frontabschnitten (Solotoje, Awdejewka) noch hinziehen. Früher oder später wird diese Gruppierung jedoch zerstört werden. An dieser Stelle stellt sich die sprichwörtliche Frage: Was nun? Es könnte mehrere Optionen geben.
Das wichtigste Ziel der militärischen Sonderoperation in der Ukraine ist die Beseitigung aller militärischen und politischen Bedrohungen für die Donezker (DVR) und die Lugansker Volksrepublik (LVR) und für die im diesem Gebiet der ehemaligen Ukraine lebenden russischen Bürger. Ein weiteres derartiges Ziel ist bekanntermaßen die Entnazifizierung. Was bedeutet das im aktuellen Kontext?
Damit Russland die Zivilbevölkerung im Donbass schützen und seine eigenen Sicherheitsinteressen wahren kann, müssen der Ukraine alle Offensivwaffen, jegliche Artillerie, Raketenwerfer Systeme, Flugzeuge und die Marine entzogen werden. Der Teil der schweren Ausrüstung, der nicht zerstört wird, muss registriert und kontrolliert werden. Der Ukraine sollte es in Zukunft untersagt sein, westliche Waffen zu erhalten, sich auf andere Weise aufzurüsten und ein Arsenal von Offensivwaffen aufrechtzuerhalten.
Nur die physische Zerstörung von Offensivwaffen kann als Beseitigung der Bedrohung für die DVR und die LVR sowie für Ukrainer, Russen und Russischsprachige in anderen Regionen dieses Landes angesehen werden. Folglich reicht die Zerstörung der Streitkräfte der Ukraine im Donbass allein gar nicht aus, es müssen neue Offensivoperationen folgen.
Und die Richtung dieser Operationen darf nicht mehr von rein militärischen, sondern muss von politischen und sozialen Überlegungen bestimmt werden. Entnazifizierung im weitesten Sinne des Wortes kann nicht nur die Beseitigung bewaffneter neonazistischer Gruppen und der Ideologie selbst bedeuten. Das bedeutet auch, dass die russischsprachige Bevölkerung und die historischen Gebiete von Noworossija (Neurussland) und Malorossija (Kleinrussland) geschützt werden müssen. Der Schutz der russischen Kultur, der russischen Identität in der Ukraine als solcher ist unabdingbar.
Und das gilt trotz der Tatsache, dass die vorrangigen Ziele der russischen Streitkräfte derzeit bevölkerungsreiche Knotenpunkte sind, die mit Transport, Versorgung des Hinterlandes und Logistik zu tun haben. Dies ist ein Nebeneffekt der Strategie der Bildung von Kesseln. Es ist immer noch schwer zu sagen, wie autonom solche operativen Lösungen ohne taktische Einkreisung einer gegnerischen Gruppe sind.
Es herrscht jedoch die Meinung, dass angesichts der zunehmenden Bedeutung westlicher Ausrüstungs- und Waffenlieferungen an die Ukraine die Besetzung logistisch grundlegender großer Bevölkerungszentren notwendig sein wird. Vor einiger Zeit gab es Berichte, dass ein Vormarsch auf Tschernigow und sogar Kiew wiederaufgenommen werden könnte.
Optimistischen Schätzungen zufolge könnte die Kampffähigkeit der ukrainischen Einheiten nach der Zerstörung der Gruppierung der ukrainischen Streitkräfte im Donbass schnell zusammenbrechen. Unter diesem Gesichtspunkt wäre es nur logisch, dass Kriwoi Rog, das nur einen eintägigen Vormarsch einer Panzerkolonne entfernt ist, sowie Dnjepropetrowsk und Saporoschje die nächsten Zielgebiete für eine weitere Offensive der russischen Streitkräfte sein werden. Charkow müsste als ein spezieller Fall betrachtet werden, denn die Verschärfung der Kampfeinsätze um diese Stadt ist bei jedem Szenario unvermeidlich. Und zu Angriffsschwerpunkten gehören nach wie vor Nikolajew und dann auch Odessa.
Die Front in der Nähe von Nikolajew ist nur deshalb lange Zeit stabil geblieben, weil die russischen Streitkräfte derzeit keine nennenswerten Kräfte in diesem Gebiet haben. Es ist erstaunlich, dass die ukrainische Führung in diesem Gebiet die Idee eines Gegenangriffs auf Cherson noch immer nicht aufgegeben hat, was wahrscheinlich eher auf politische als auf militärische Überlegungen zurückzuführen ist. In Kiew ist man der Ansicht, dass Cherson vor dem Hintergrund der Niederlage im Donbass ein sehr gutes Ziel für eine Offensive sei.
Bisher haben die ukrainischen Gegenangriffe über den Fluss Ingulets [an der nordwestlichen Grenze des Cherson-Gebiets] jedoch nur zu schweren Verlusten für die ukrainischen Streitkräfte geführt. Der Abzug großer Teile der russischen Truppen aus dem Donbass wird es ermöglichen, die Offensive in neue Richtungen zu verlagern.
Die Entwicklung der Offensive in mehrere Richtungen von Nikolajew aus (z.B. in Richtung Odessa und auch Kriwoi Rog) hängt davon ab, welche Teile der russischen Streitkräfte von den im Donbass freiwerdenden Kapazitäten dem südlichen und südwestlichen Abschnitt der Front zugeteilt werden. Wenn die Operation zur Einnahme von Nikolajew nur kurze Zeit in Anspruch nimmt, hat die Garnison in Odessa keine Zeit, die Verteidigung aufzustellen.
Odessa als Ziel ist nicht nur als solches oder aus ideologischen und historischen Gründen wichtig, sondern vielmehr auch als Korridor nach Transnistrien. Außerdem ist Odessa eine Drehscheibe für westliche Waffenlieferungen, die geschlossen werden muss.
Eine andere Frage ist der rechtliche Status der befreiten Gebiete, die immer noch nicht ganz geklärt ist. Die Beantwortung kann wahrscheinlich erst dann erfolgen, wenn die maximal möglichen militärischen Ziele erreicht sind. Diese schließen Odessa, Kriwoi Rog, Sumy, Charkow und Dnjepropetrowsk ein.
So kann sich eine politische Lösung bis zum Ende des Kalenderjahres verzögern. Der Ausgang der taktischen Militäroperationen kann jetzt zwischen zwei Monaten (um Slawjansk und die Gruppierung im Donbass) und vier Monaten (um Kriwoi Rog, Nikolajew, Saporoschje und möglicherweise Dnjepropetrowsk) geschätzt werden.
Wie die militärische und politische Realität in der Ukraine in den kommenden Monaten aussehen wird, ist weitgehend unvorhersehbar. Aber einige Überlegungen lassen sich dennoch zusammenfassen. Zunächst einmal tun die Verantwortlichen in Kiew und einige ihrer westlichen Sympathisanten alles, um die aktiven Kampfeinsätze vor Ort zu verlängern. Dies geschieht sowohl durch das selbstzerstörerische Festhalten an im Grunde unhaltbaren Positionen als auch durch das Aufpumpen Kiews mit immer neuen Waffen.
Nach der unvermeidlichen Niederlage der ukrainischen Streitkräfte im Donbass könnte sich jedoch die gesamte politische und soziale Lage in der Ukraine aufgrund der raschen Entwicklungen an anderen Fronten, insbesondere im Süden und Südwesten, neu gestalten. Der Befreiung von Nikolajew und Odessa kommt in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung zu.
Übersetzt aus dem Russischen
Jewgeni Krutikow ist Balkan- und Kaukasusexperte, Militärjournalist und Kolumnist bei IZ, VZ und anderen russischen Medien.
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