von Dagmar Henn
In Madrid will die NATO beschließen, ihre "schnelle Eingreiftruppe" von 40.000 auf 300.000 Soldaten aufzustocken – wie üblich: wegen der "russischen Bedrohung". "Schnell" heißt in diesem Zusammenhang eine Mobilisierbarkeit zwischen zehn und fünfzig Tagen. Die Tagesschau berichtete, die Truppen sollten zudem bestimmten Einsatzgebieten zugeordnet werden, und folgerte dann: "Damit könnten deutsche Soldaten etwa fest dafür eingeplant werden, litauische Truppen im Falle eines russischen Angriffs zu unterstützen." Die Redaktion scheint pessimistisch davon auszugehen, dass Deutschland das kürzeste Streichholz zieht und ausgerechnet den verrücktesten Staat im irren baltischen Trio zugewiesen bekäme.
Das ist natürlich im Moment noch nur eine Runde Flügelschlagen und Gackern, mehr nicht. Schließlich ist mittlerweile bekannt, wie sich die Mengen der auf Seiten der NATO vorhandenen Munition zu jenen verhalten, die im Verlauf der russischen Militäroperation von den tapferen Ukrainern bereits verbraucht wurden. Und die gesamte derzeitige Produktionskapazität der NATO ist derart lächerlich, dass sich die besagten zusätzlichen 260.000 Mann genauso gut auch jetzt gleich händchenhaltend an die östliche Grenze von Litauen stellen könnten.
Die Ukraine immerhin hatte im Februar noch weitaus mehr Soldaten und feuert auch bis heute noch immer mit Resten des alten sowjetischen Arsenals (Totschka-Raketen beispielsweise), nur bleibt unklar, wieviel davon jetzt noch übrig ist. Die Tatsache, dass Donezk inzwischen mit NATO-Haubitzen mit 155 mm Granaten beschossen wird, könnte andeuten, dass diese alten Bestände inzwischen zur Neige gegangen sind.
Aber diese Wunschträume vom beeindruckenden Aufmarsch der NATO "an der Ostflanke" hat noch ein ganz anderes Problem. Selbst Soldaten zum Händchenhalten sind gar nicht mehr so leicht aufzutreiben. Die Bundeswehr hat im vergangenen Jahr nur noch 16.000 Rekruten gewinnen können; vor drei Jahren waren es noch 20.000 "Soldatinnen und Soldaten".
Die US-Armee, immerhin in der gesamten NATO nach wie vor die größte, verfehlt ihr Rekrutierungsziel so eklatant, dass inzwischen in den ersten Denkfabriken Überlegungen lauter werden, ob überhaupt das Konzept einer Freiwilligenarmee aufrechterhalten werden kann.
Das Thema ist nicht unproblematisch; schließlich war die Umstellung von einer Armee aus Wehrpflichtigen zu einer Armee von Berufssoldaten vor fast vierzig Jahren nicht nur eine Reaktion auf die Proteste gegen den Vietnamkrieg, sondern vor allem auf das zunehmende Desertieren von frisch Einberufenen. Damals gab es in ganz Europa länderübergreifende Unterstützungsnetze, die es solchen kriegsunwilligen "GI"s ermöglichten, kurzerhand abzutauchen.
Inzwischen sind 77 Prozent der US-amerikanischen jungen Erwachsenen zwischen 17 und 24 Jahren wehruntauglich (2017 waren es erst 71 Prozent). Etwa jeder Vierte von ihnen hat keinen High-School-Abschluss. Ein stetig weiter steigender Anteil ist übergewichtig oder hat andere Gesundheitsprobleme, wobei als Ursache wohl die Qualität der Ernährung, die für Ärmere erreichbar ist, eine große Rolle spielt. Drogengebrauch und Vorstrafen führen zu einer weiteren Verringerung der Jugendlichen, die akzeptiert werden können. Von den Verbleibenden sind allerdings wiederum nur 9 Prozent überhaupt noch daran interessiert. Das bedeutet, die US-Armee rekrutiert sich aus weniger als zwei Prozent der entsprechenden Altersgruppe.
Entsprechende Klagen seitens der US Army, das Angebot reiche nicht aus, sind ebenfalls nicht neu. Die sozialen Verhältnisse, die sich in den USA in der Breite immer weiter verschlechtert haben, spiegeln sich in diesen Statistiken ebenso wider, wie jene in Englands Fabriken im 19. Jahrhundert, als die Abschaffung der Kinderarbeit vor allem dadurch motiviert wurde, dass aus diesen Kindern irgendwann nur noch verkümmerte, also fürs Militär untaugliche Erwachsene wurden.
Eine Umfrage unter US-Jugendlichen, warum sie nicht am Militärdienst interessiert seien, ergab, dass 57 Prozent davon ausgingen, sie hätten danach emotionale oder psychische Probleme, und fast die Hälfte ging davon aus, dann möglicherweise auch unter körperlichen Problemen zu leiden. Familien aus der schrumpfenden Mittelschicht legen zudem Wert darauf, dass ihr Nachwuchs zumindest das College abschließt, ehe er einen Beruf wählt.
Drei Monate vor dem Ende des Rechnungsjahres am 30. September hat das US-Militär sein Rekrutierungsziel für 2022 erst zu 40 Prozent erfüllt und hofft jetzt auf die High-School-Abgänger dieses Sommers. Dabei schlagen die Folgen der Corona-Maßnahmen erst ansatzweise durch. Eine weitere Verschlechterung des Lebensstandards infolge der Sanktionen sowie die Erkenntnis der Tatsache, dass Kriege gegen andere Industrieländer wesentlich intensiver sind als neokoloniale Expeditionen, dürfte die Bereitschaft und Tauglichkeit nicht nur in den USA weiter senken.
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