Ukrainische Großoffensive in den Startlöchern

Die mehrmals angekündigte große Gegenoffensive des ukrainischen Militärs wird immer realer. Die Vorbereitungen dafür sind abgeschlossen oder stehen unmittelbar vor dem Abschluss. Die kommenden Wochen könnten kriegsentscheidend sein, dabei ist der Ausgang völlig offen.

Von Anton Gentzen

Dass die Ukraine für einen der Sommermonate eine groß angelegte Gegenoffensive plant und vorbereitet, ist kein großes Geheimnis. Darüber sprachen Offizielle wie der Berater des ukrainischen Präsidenten Alexei Arestowitsch oder der ukrainische Chefaufklärer Kirill Budanow mehrmals öffentlich. 

Derzeit mehren sich Informationen, die dafür sprechen, dass die Vorbereitungen dieser Offensive abgeschlossen sind und ihre Umsetzung unmittelbar bevorstehen könnte. 

Entgegen vollmundiger Ankündigungen ist es den alliierten Truppen Russlands und der beiden Volksrepubliken auch nach vier Monaten nicht gelungen, größere Verbände ukrainischer Truppen einzukesseln und zu schlagen. Dort, wo die (pro-)russische Seite Erfolge erzielt, geschieht dies durch ein mühsames und verhältnismäßig langsames Verrücken der Frontlinie, sodass es dem ukrainischen Militär größtenteils gelingt, sich auf vorab vorbereitete Verteidigungslinien weiter westwärts zurückzuziehen.

Trotz lokaler Erfolge hat die Zerschlagung der ukrainischen Gruppierung im Donbass weiterhin keinen durchschlagenden Erfolg. Selbst russische Experten gestehen mittlerweile ein, dass die ukrainische Militärführung taktisch überaus geschickt vorgeht und eine ihr günstige Balance zwischen der Verzögerung des russischen Vormarsches mithilfe erbittert verteidigter Knotenpunkte und taktischem Rückzug auf gut vorbereitete neue Verteidigungslinien gefunden hat. Zusätzlich werden neu mobilisierte Kräfte der nächsten Frontstufe inzwischen an den westlichen Grenze der Regionen Donezk und Lugansk konzentriert.

Diese seit Monaten aufgebaute neue Front frischer und mittlerweile gut ausgerüsteter Truppen wurde an den noch immer tief im ukrainischen Hinterland gelegenen Grenzen des von den Volksrepubliken beanspruchten Gebietes nicht dazu konzentriert, diese Grenzen defensiv zu halten. Vielmehr sind die rückwärtigen Stellungen als Basis einer Offensive vorbereitet, die gleich in ihrer ersten Etappe die Großstadt Donezk und ihre Agglomeration überrollen soll.

Russische Militärexperten sind sich inzwischen einig, dass die Wahrscheinlichkeit einer kritischen Eskalation auf dem Frontabschnitt bei Donezk in den kommenden Wochen sehr hoch ist. Derzeit konzentrieren die ukrainischen Streitkräfte ihre Kräfte im Raum Pawlowka, offenbar um einen Gegenangriff in Richtung Donezk zu starten.

Doch der Donbass ist bei Weitem nicht die einzige Region, in der es im Juli, spätestens im August, "heiß" zu werden droht: Gleichzeitig werden ukrainische Truppen nämlich massiv aus den westlichen Regionen des Landes in den Süden verlagert. In der Region Cherson sieht sich die russische Seite mit der Aussicht auf einen ukrainischen Gegenschlag konfrontiert, der im Rahmen einer komplexen Operation an mehreren Fronten gleichzeitig erfolgen könnte.

Die beobachtete Verlegung ukrainischer Einheiten, die bislang an der ukrainisch-weißrussischen Grenze stationiert waren, nach Nikolajew wird von russischen Experten zugleich als sicheres Anzeichen dafür gewertet, dass die Ukraine Garantien des polnischen Militärs hat, hier zum gegebenen Zeitpunkt einzumarschieren. Eine Wiederholung des russischen Angriffs auf Kiew vom Norden her wird im ukrainischen Generalstab offensichtlich nicht mehr befürchtet.

Eine dritte, kleinere Front, die jedoch von großer strategischer Bedeutung für die Kontrolle des Schwarzen Meeres ist, ist die von der Ukraine angekündigte Rückeroberung der Schlangeninsel. Für den unmittelbar bevorstehenden Beginn dieser Operation sprechen zahlreiche Anzeichen, unter anderem der sich intensivierende Beschuss der Insel und der russischen Schwarzmeerflotte von Odessa aus.

Der Hauptgrund für den ausbleibenden Generalerfolg der Alliierten ist der Mangel an militärischem Personal, der es nicht erlaubt, ein ausreichendes Truppenübergewicht an den für ein Einkesselungsmanöver entscheidenden Stellen aufzubauen. Russland setzt weiterhin allein auf die Berufsarmee und scheut vor einer allgemeinen Mobilisierung zurück. Die Volksrepubliken haben ihr Mobilisierungspotential inzwischen weitgehend erschöpft. Personelle Hilfe angeblicher Verbündeter wie China oder Syrien, über die in den ersten Kriegswochen spekuliert worden war, blieb Wunschdenken. Russland hat wie stets in der Geschichte zweifelhaftes "Glück" mit seinen Verbündeten.

Wir kennen die Pläne und zugrundeliegenden Berechnungen des russischen Generalstabs nicht, doch fragen sich immer mehr sachkundige Beobachter, wie dieser ohne eine Mobilisierung den quantitativen Vorteil der ukrainischen Seite ausgleichen will, zumal der qualitative Vorsprung russischer Waffen in Artillerie und Lufthoheit bisher nicht kriegsentscheidend war und zusätzlich durch die westlichen Waffenlieferungen zunehmend schmilzt.

Die Ereignisse beschleunigen sich, und wir sehen eine starke Zunahme des Tempos der Operation aufseiten der ukrainischen Streitkräfte. All dies trifft in kritischer Weise auf eine Routinisierung des Konflikts auf russischer Seite. Die Ukraine führt den Krieg ernsthaft und bereitet eine Gegenoffensive vor, die – in die eine oder die andere Richtung – kriegsentscheidend werden dürfte.

Die entscheidende Frage ist, ob Russland und die Volksrepubliken die Kraft haben, den angehäuften Reserven der Ukraine Widerstand zu leisten und die bevorstehende ukrainische Gegenoffensive zu zerreiben. Das werden die kommenden Wochen zeigen.

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