von Igor Karaulow
Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass die Abschaffung der russischen Kultur nur ein Spiegelbild der Abschaffung der europäischen Kultur ist, die in den letzten Jahren von Dunkelhäutigen, Frauen- und anderen engagierten Minderheitsaktivisten angestrebt wurde – und das ziemlich erfolgreich. Ja, es handelt sich um ein verstärktes, konzentriertes und weit verbreitetes Spiegelbild, auch wenn diese Bereitschaft, die Abschaffung eines anderen zu akzeptieren, vielleicht auf den unbewussten Wunsch der Europäer zurückzuführen ist, sich zu rächen und jemanden zu finden, der es noch mehr wert ist, abgeschafft zu werden als sie selbst.
Die europäische Kultur (einschließlich der europäischstämmigen Amerikaner) müsse abgeschafft werden, weil sie von Grund auf kolonial, imperial und weiß-suprematistisch sei – kurz gesagt, eine Kultur, die jahrhundertelang methodisch Triebe ausgemerzt hat, die der Menschheit ganz andere kulturelle Ergebnisse beschert und sie zu anderen Horizonten geführt hätten. So üben die Völker und Gruppen Vergeltung aus, die erwachsen werden und sich ihres Erbes beraubt sehen. Gleichermaßen ist es auch Ressentiment gegen eine Geschichte, die in keiner Weise verändert werden kann – ein Versuch, etwas auszulöschen, etwas zu verfälschen und so zu tun, als wäre es so gewesen.
Nun, die russische Kultur befindet sich in der gleichen Position gegenüber ihren Verfolgern, wie dies bei europäischen Kulturen der Fall war. Auch hierin zeigt sich paradoxerweise ihr europäischer Charakter. Vereinfacht gesagt, ist sie den gleichen hohen und zugleich absurden Forderungen ausgesetzt, sowohl von den ausländischen Abolitionisten als auch von denen, die im russischen Inland mit ihnen sympathisieren. In einer Online-Diskussion hieß es: "Die russische Kultur trägt die imperiale Idee in sich und programmiert die Menschen darauf, sie in die Realität umzusetzen." Es gibt da nichts zu widersprechen, so ist es nun einmal.
Und unser geliebter Dostojewski, der über die "Träne eines Kindes" schrieb, war ein entschiedener Befürworter der imperialen Expansion. Und unser geliebter Puschkin wollte keine andere Heimat für sich anstelle des weiten und expandierenden russischen Raums.
Das Imperiale oder der Imperialismus ist heute für viele ein Schimpfwort. Übersetzt man dies jedoch in eine stilistisch neutrale Sprache, so kann man sagen, dass die russische Kultur einfach die Kultur einer großen Nation (russ. "народ") ist. Das ist es, was manche Menschen anzieht und andere abschreckt.
Und eine Nation wird nur durch Expansion groß – zivilisatorisch, wirtschaftlich, aber vor allem militärisch. Durch die Zusammenstöße mit anderen Nationen. Durch Siege in diesen Kämpfen. Durch die Assimilierung großer andersartiger Menschenmassen. Durch Interaktion und gegenseitige Durchdringung mit ihren Kulturen. Deshalb gibt es auch so viele Russen. Das ist der Grund, warum sie so unterschiedlich sind. Deshalb passt ihr Weltbild nicht in den Horizont eines typischen Nationalstaates.
Die Russen haben das Leben eines großen Volkes gelebt; ihr Schicksal hat sich erfüllt und es wird kein anderes geben. Sie wurden angegriffen, und sie haben sich gewehrt. Sie wurden erobert, und sie haben sich befreit. Sie haben, wie alle anderen Völker auch, viele Kriege geführt. Das ist der Lauf der Geschichte. Manchmal ist ein Angriffskrieg nur schwer von einem Verteidigungskrieg zu unterscheiden. Manchmal folgt das eine auf das andere. Wer sich für diese Geschichte schämt, sollte wohl nicht nur auf die Krim oder nach Donezk reisen, sondern auch nach Astrachan, Tjumen und Wyborg. Das hat uns geprägt, ob wir wollen oder nicht. In einer alternativen Geschichte wäre der bereits erwähnte Dostojewski kein Russe, sondern ein polnischer Schriftsteller.
Und wir sind tatsächlich darauf programmiert, diese "imperiale Idee" in die Zukunft fortzuführen. Es ist kein leichtes Erbe. Oft scheitern die Kinder großer Väter an einem unerreichbaren Erbe, während sich ein Emporkömmling aus der Unterschicht mit einem Minimum an Erfolg im Leben begnügt, damit "alles ist wie bei den anderen". So begnügen sich die Nationalisten der kleinen Nationen mit einem erfundenen Stammbaum und bunten Trachten, mit ihrem ordentlichen Garten und den wenigen Landsleuten, die es geschafft haben, in der großen Welt etwas aus sich zu machen.
Der Chor der kleinen Nationen, der fordert, den imperialen Nerv der russischen Kultur zu töten – das heißt, praktisch alles, was an ihr herausragend ist –, protestiert in Wirklichkeit gegen den Lauf der Geschichte selbst. Gegen die Falschheit von Fukuyama mit seinem angeblichen "Ende der Geschichte". Denn damit die Geschichte ihren Lauf stoppen kann, muss sich das Große vor dem Kleinen verbeugen und sich in ihm auflösen. Die Russen sollten geschrubbt, von ihrem Russischsein befreit, wie Erdbeeren auf dem Markt in kompakte ethnische Koffer gepackt und gezwungen werden, mit allen anderen in die Nachgeschichte zu marschieren.
In gewisser Weise ist es gut, dass in den Köpfen der Gegner Russlands diese kristalline, widersprüchliche Klarheit eingetreten ist. Es ist gut, dass sie keine Illusionen mehr über die russische Kultur haben. Früher haben sie die russische Kultur und den russischen Staat gegenübergestellt. Putin war eine Sache (und davor alle russischen/sowjetischen Herrscher außer Peter III., Gorbatschow und Jelzin), und der wunderbare Tschaikowski, der die beste Weihnachtsmusik für uns geschrieben hat, eine andere. Nun wurde ihnen eine enttäuschende Wahrheit offenbart: Tschaikowski, Tschechow, Lewitan, Strawinsky, Malewitsch und Brodsky gehören zum selben Team wie Ermak, Potemkin, Suworow, Jermolow, Skobelew und Schukow (die Namen russischer Heeresführer und imperialer Beamter – Anm. der Red.)
Und wir sind gezwungen, dem zuzustimmen, allerdings in einem positiven Sinne. Es als gegebene Sache und als Gnade anzusehen. Das Schicksal der russischen Kultur ist untrennbar mit dem Schicksal des russischen Staates verbunden, selbst dort, wo sie sich ihm widersetzt. Und in der Zukunft können wir keine würdige Fortsetzung unserer Kultur erwarten, wenn wir unsere Geschichte verleugnen, wenn wir unsere einheitliche Identität in Dutzende von erfundenen oder rekonstruierten Identitäten umpacken.
Die Versuchung der Selbstverkleinerung hat die gebildeten Russen lange geplagt – vom "Bürger des Kantons Uri" über die Liebesaffäre der sowjetischen Intelligenz mit Polen und den baltischen Staaten bis hin zum Traum der postsowjetischen Mittelschicht, in eine ruhige europäische Stadt mit Ziegeldächern zu ziehen. Jetzt tummeln sich ukrainische Flüchtlinge unter diesen Dächern, während die Russen vor die Tür gesetzt werden. Und das ist gut so, denn hinter dieser Tür befindet sich die ursprüngliche Weite, die sich nach dem Tätigen und dem Schöpfer sehnt.
Übersetzt aus dem Russischen.
Igor Karaulow ist ein russischer Dichter, Übersetzer und Publizist.
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