von Dagmar Henn
Gibt es eine Grenze für den westlichen Zynismus? Wenn man sich die Entwicklung der weltweiten Ernährungsprobleme betrachtet, muss man leider sagen, es gibt keine. Im Gegenteil. Das, was sich im Kleinen beobachten ließ, als der Westen nach dem Sieg der Taliban erst die Auslandsreserven Afghanistans beschlagnahmte, wodurch das Land keine Nahrungsmittel mehr kaufen konnte, um dann den Hunger zu beklagen und ein paar Brosamen als Hilfe zuzuwerfen, wiederholt sich gerade auf globaler Skala. Und die Belege mehren sich, die die Notlage als gewünschte erkennen lassen.
Aber blicken wir doch zuerst einmal zurück, ins Jahr 2015, als sich Hunderttausende syrische Flüchtlinge auf den Weg nach Deutschland machten. Über den Auslöser dieser Bewegung wurde damals so ungern gesprochen wie heute: Die EU hatte ihre Mittel für das UN-Flüchtlingshilfswerk halbiert; das führte dazu, dass es in den Flüchtlingslagern schlicht nicht mehr genug zu essen gab. Es handelte sich um echte Not, aber um eine gezielt herbeigeführte.
Und heute? Interessant ist eine Pressemitteilung des Welternährungsprogramms WFP – das in diesem Fall zuständig ist, denn es geht ja nicht um Flüchtlinge. Es teilte mit: "Beinahe ein Drittel der Sudanesen mit akut unsicherer Ernährung, die das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen in diesem Jahr unterstützen wollte, werden aufgrund kritischer Finanzprobleme ohne Unterstützung bleiben, was die Gefahr des Verhungerns für 1,7 Millionen Menschen erhöht."
Und weiter? "Die humanitären Bedürfnisse übersteigen bei Weitem die Mittel, die wir für dieses Jahr erhalten haben." Schon im vergangenen Jahr, so das WFP, seien die Rationen aus dem gleichen Grund halbiert worden. Für die sechs Millionen Menschen, die allein im Südsudan versorgt werden, benötigt das WFP 426 Millionen Dollar.
Nun gibt es viele Faktoren, die zu dieser Lage beigetragen haben. Das beginnt mit den Corona-Maßnahmen in den Industrieländern, die in anderen Teilen der Welt zu Arbeitslosigkeit und Hunger führten, geht über die hemmungslose Gelddruckerei von FED und EZB, die eben nicht nur in den USA und Europa, sondern auch im Rest der Welt die Preise steigen ließen, bis hin zu politischen Maßnahmen, die die Verfügbarkeit von Kunstdünger begrenzten und damit die Ernteerträge schrumpfen ließen. RT hatte vor einiger Zeit ein gutes Interview zu diesen Zusammenhängen veröffentlicht. Die Mittel des Welternährungsprogramms zu kürzen ist gewissermaßen nur das Sahnehäubchen.
Dabei darf man nicht vergessen, dass in vielen Regionen der Welt, in denen Hunger herrscht, dieser davor schon das Produkt westlicher Sanktionen war. Im vergangenen Jahr schon waren die meisten Länder, in denen akute Hungerprobleme herrschten, von solchen Sanktionen betroffen. Sanktionen, die in der Regel nicht durch den UN-Sicherheitsrat verhängt wurden, der als einziges Gremium das Recht dazu hat, sondern von den USA und der EU; was sie zu völkerrechtswidrigen kriegsähnlichen Maßnahmen macht.
Dazu kommt, dass die Preise für Getreide und andere Grundnahrungsmittel nicht in einem "reinen" Prozess von Angebot und Nachfrage entstehen. Neben den politischen Verzerrungen gibt es auch noch den Warenterminhandel, das heißt, es kann mit den Preisen von Nahrungsmitteln spekuliert werden, an der Weizenbörse von Chicago beispielsweise, und diese Spekulation, die sich immer verstärkt, wenn starke Preisausschläge zu erwarten sind, trägt ihrerseits wieder zum Anstieg der Preise bei. Wie im Zusammenhang mit Corona, als völlig unbekannte Firmen plötzlich Milliarden wert waren und einige sich ungeahnt daran bereichern konnten, wird auch die Spekulation mit Nahrungsmitteln wieder die Taschen der Milliardäre füllen.
Ohne all diese politischen und ökonomischen Verzerrungen wäre das Problem leicht lösbar. Die entscheidende Frage, die sich dabei stellt, lautet allerdings: Ist das überhaupt beabsichtigt? Der Ökonom Michael Hudson kommt zu dem Schluss, dass die Hungerkrise so gewollt ist.
Er schrieb Anfang Juni in einem Artikel mit der Überschrift "Sorgen die USA und die NATO (mithilfe des WEF) für eine Hungersnot im globalen Süden?" über die Folgewirkungen der Sanktionen gegen Russland für die Ernährungslage: "Es ist unvorstellbar, dass die Konsequenzen für Länder außerhalb Europas und der Vereinigten Staaten nicht berücksichtigt wurden, denn die Weltwirtschaft ist ein miteinander verbundenes System. Die meisten Störungen bewegen sich in einer Größenordnung von zwei bis fünf Prozent, aber die heutigen Sanktionen von USA und NATO sind so weit jenseits der historischen Norm, dass die Preissteigerungen weit über diese historische Spanne steigen werden. In jüngerer Zeit hat es nichts Vergleichbares gegeben."
Und er kommt zu einem auf den ersten Blick überraschenden Schluss: "Das legt nahe, dass das, was im Februar ein Krieg zwischen Ukrainern und Russen zu sein schien, in Wirklichkeit ein Auslöser ist, der eine Umstrukturierung der Weltwirtschaft auslösen soll – und dies in einer Art und Weise, die die Kontrolle der USA über den globalen Süden zementiert."
Diese Kontrolle ist in den letzten Jahren beträchtlich ins Wanken geraten. Sie war im Gefolge des Zusammenbruchs der Sowjetunion gewaltig gewachsen, weil es schlicht keine Alternative zu den Strangulierungsprogrammen des Internationalen Währungsfonds IWF mehr gab. Damals war China auf dieser Bühne noch kaum vertreten, erste zaghafte Programme der Zusammenarbeit gab es Ende der 1980er mit Angola. Inzwischen ist China aber ein echter und gefährlicher Konkurrent geworden. In den meisten Staaten Afrikas und Lateinamerikas ist es längst größter Handelspartner, und die Projekte, die mit chinesischer Unterstützung in Afrika begonnen wurden, sei es der grüne Gürtel rund um den Sahel oder der Bau von Eisenbahnlinien quer durch den Kontinent, sind eine direkte Bedrohung für die Kontrolle des Westens. Die Maßnahmen des IWF, die diese Länder nötigen, auf Exportprodukte zu setzen statt auf Entwicklung der Binnenwirtschaft, greifen nicht mehr, wenn es andere Kreditgeber gibt.
Wenn diese Länder vor der Wahl stehen, ihre Bevölkerung hungern zu lassen oder um neue Kredite zu IWF-Konditionen zu betteln, werden sie sich für Letzteres entscheiden; das, so Hudson, war zumindest die Erwartung. Indem man Russland von der Möglichkeit ausschließt, Nahrungsmittel zu liefern, was durch die Sanktionen erreicht werden sollte, bliebe ihnen gar nichts anderes übrig. Damit wäre die gegebene Machtstruktur wieder eine Zeit lang gesichert.
"Die NATO-Politik hat den Ländern des globalen Südens keine andere Wahl gelassen, als ihren Versuch zurückzuweisen, den globalen Süden über die Blockade jedes russischen Wettbewerbs über die Ernährung in den Würgegriff der USA zu bringen, indem der weltweite Getreide- und Energiehandel monopolisiert wird."
Wenn man weiß, wie man die Formulierungen übersetzen muss, lässt sich diese Absicht auch in einem Vortrag finden, den die IWF-Direktorin Kristalina Georgieva im April in Washington hielt. Darin ist die Rede von Sonderziehungsrechten, die gewährt werden sollten, um die Folgen von Corona, Klimakrise und Sanktionen zu bewältigen. Sonderziehungsrechte ist die Bezeichnung für neue Kredite des IWF, die selbstverständlich mit den üblichen Auflagen versehen gewährt werden. Auflagen, die dafür sorgen, dass der Reichtum des kreditnehmenden Landes abfliesst und alle politischen Maßnahmen unterbleiben, die eine unabhängige Entwicklung ermöglichen könnten. Wer sich genauer damit befassen will, welche Rolle der IWF gespielt hat und spielt, kann "Die Schock-Strategie" von Naomi Klein studieren oder die "Bekenntnisse eines Economic Hitman" von John Perkins.
Diese Länder sollten stattdessen, so Hudson, die laufenden Kredite des IWF zu abscheulichen Schulden erklären. Abscheuliche Schulden ist ein internationaler Rechtsbegriff ("odious debts"), der sich auf illegitim aufgebürdete Schulden bezieht, die ein Land nicht anerkennen muss. Dieser Schritt wäre möglich, wenn eine Alternativstruktur imstande wäre, als Kreditgeber an die Stelle des IWF zu treten und eine echte Internationale Entwicklungsbank zu gründen. Die Zusammenarbeit zwischen Russland und China könnte die Grundlage dafür sein.
Da aber der vereinte Westen diesen Schritt nicht ohne Weiteres hinnehmen würde, wäre es außerdem erforderlich, dass die jeweiligen Länder eine militärische Allianz eingehen, um dem Schicksal etwa Libyens oder des Irak zu entrinnen. Dies sei möglich, weil die militärische Stärke der USA ein Papiertiger sei.
Mit seiner Warnung vor der westlichen Reaktion hat Hudson mit Sicherheit recht. Und vieles spricht für seine Deutung, dass die augenblickliche globale Not ein Manöver ist, um die Kontrolle über den globalen Süden zurückzuerlangen. Schließlich verbirgt sich auch hinter der Klimapolitik letztlich ein Versuch, die ökonomischen Entwicklungsmöglichkeiten außerhalb des jetzigen industriellen Kerns zu blockieren. Nachdem dieser Ansatz sich weitgehend als nicht durchsetzbar erwiesen hat, warum sollte dann nicht zu bösartigeren Methoden gegriffen werden? Schließlich belegt bereits die Sanktionspolitik der vergangenen Jahrzehnte, dass keine Hemmungen bestehen, Länder mit künstlich geschaffenen Hungersnöten zu überziehen.
So hoch wie dieses Mal war der Einsatz allerdings noch nie. Nicht nur, weil die Zahl der betroffenen Menschen alles bisher Dagewesene übersteigt. Auch, weil das westliche Manöver tatsächlich krachend scheitern könnte. Es gibt ein kleines Detail, das darauf hinweist, wie dieses Scheitern aussehen kann: die Tatsache, dass Russland die diesjährigen Getreideüberschüsse bereits an China verkauft hat. Dabei geht es nicht um die Ernährung der Chinesen. China hat die weltgrößte Handelsflotte, sie ist nicht auf die Dienstleistungen westlicher Versicherer angewiesen (deren Weigerung, den Transport russischen Getreides zu versichern, Teil des Manövers ist), und ganz nebenbei hat China viele neue Kriegsschiffe mit hochmodernen Raketen, die imstande wären, solche Transporte gegen jede mögliche Art von Ärger abzusichern. Eine solche Absicherung fiele übrigens auch unter die jüngst beschlossene Ermächtigung der chinesischen Armee zu nicht militärischen Einsätzen.
Schon die Bilder, die dabei entstünden, wären für den Westen verheerend. Dass er überhaupt ein solches Risiko eingeht, zeigt, wie verzweifelt er bemüht ist, seine Machtstellung zu halten. Und es wird deutlich sichtbar – wenn es zu einem globalen Umbruch kommt, dann ist das keine Frage von Jahren oder Jahrzehnten. Die USA und die NATO haben alles auf diese Karte gesetzt. Die Entscheidung über Sieg oder Niederlage wird in den nächsten Monaten fallen.
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