von Dagmar Henn
Wirklich, es war keine Einbildung. Ich hätte nur nicht gedacht, dass man inzwischen tatsächlich Screenshots von Google News machen muss. Und dass sich Schlagzeilen so schnell und so einheitlich ändern.
Am Freitagvormittag gab es noch ein verblüffendes Bild bei den Meldungen aus der Ukraine: mit Ausnahme der Frankfurter Rundschau titelten alle auf Google News angezeigten Medien mit "Hohe Verluste der Ukraine". Zwei Stunden später hatte sich das Bild komplett gedreht und die Schlagzeilen lauteten einheitlich "Schwere Verluste für Russland".
Es gibt viele Gründe für die Einheitlichkeit der deutschen Medienlandschaft, die nichts mit irgendwelchen Vorgaben aus irgendeiner Quelle zu tun haben. Die Tatsache, dass sich die Journalisten bei den führenden Medien weitgehend aus einer relativ kleinen Schicht des gehobenen Bürgertums rekrutieren, beispielsweise. Oder dass es neben den öffentlich-rechtlichen Anstalten, den leicht verkleideten Staatssendern also, nur noch fünf Medienkonzerne gibt, die sich den gesamten Markt aus Gedrucktem und Gesendetem teilen. Dazu kommt dann noch das Arbeitsrecht mit seiner Bestimmung des "Tendenzbetriebs", die bedeutet, dass jeder Journalist, der etwas schreibt, das der Meinung des Medienbesitzers widerspricht, fristlos entlassen werden kann.
Aber sowas? Eine volle Kehrtwende in so kurzer Zeit? Da müssen dann doch einige Telefone geklingelt haben. So, wie womöglich auch bei Lauterbach und Özdemir, die heute die Ukraine heimsuchten. Hauptsache, das Thema steht wieder auf Position eins bei Heute und den Tagesthemen. Und man vermeldet brav die Behauptungen eines "Gouverneurs von Lugansk" namens Alexej Resnikow, also eines Menschen, der in der Region, die er angeblich regiert, bestimmt nicht mehr anzutreffen ist, weil die längst vollständig zur Lugansker Volksrepublik geworden ist.
Dieser Herr hat nämlich Folgendes geäußert, und das findet sich ganz folgsam auch überall wiedergegeben: "Die Russen haben wesentlich mehr Verluste als die Ukrainer," und dann setzt er noch nach, das Verhältnis liege "bei eins zu zehn." Wirklich, alle beten sie das nach. Manchmal mit dem Nachsatz, das sei unabhängig nicht zu prüfen.
Nein, so eine Aussage muss man gar nicht prüfen. Weil sie vollständiger Unfug ist. Sein muss. Wie bitte soll das gehen? Nehmen wir doch einfach Mariupol. Die Angaben über die Zahl ukrainischer Truppen dort zu Beginn schwanken, zwischen 15.000 und 20.000; nehmen wir sicherheitshalber die Untergrenze. Es ist bekannt, dass aus Asow-Stahl sich etwa 2.500 Mann ergeben haben. Von den ansonsten bekannten weiteren mindestens 5.000 ukrainischen Kriegsgefangenen dürfte ein Teil auch aus den Kämpfen um Mariupol stammen; sagen wir einfach, es seien insgesamt 5.000 in Gefangenschaft geraten.
Dann bleiben ganze 10.000 ukrainische Soldaten übrig, die aber aufgrund der Einkreisung nicht in irgendwelchen Kliniken verschwunden sein dürften, die wären ja dann jetzt in Gefangenschaft. Diese 10.000 haben also die Kämpfe nicht überlebt.
Würde die Aussage dieses "Gouverneurs von Lugansk" stimmen, entsprächen dem russische Verluste von – ja – 100.000. In und um Mariupol. Wirklich? Ernsthaft? Das wären zwei Drittel der ursprünglich in Bewegung versetzten Truppen. Die sich bekanntlich über eine weit größere Fläche verteilten als nur Mariupol.
Die Schlagzeilen des Vormittags stammen übrigens auch aus ukrainischer Quelle. Der dortige Verteidigungsminister Resnikow hatte auf Facebook geschrieben, täglich würden bis zu hundert ukrainische Soldaten getötet, und der Präsidentenberater Podoljak hatte sogar auf 200 erhöht. Aber die Überschrift, die wird dennoch aus den Fantasien des "Gouverneurs von Lugansk" gebildet. Dabei ist es ganz egal, welche der beiden Geschichten zuerst als Meldung auftauchte – in den Überschriften stehen jetzt nur noch russische Verluste…
An ganz anderen Orten, in der wichtigsten außenpolitischen Denkfabrik der USA, dem Council on Foreign Relations, lassen sich Aussagen finden, die deutlich mehr Wahrheitsgehalt haben als die Geschichten jenes vertriebenen Luganskers. Dort äußerte sich Ende Mai der ehemalige stellvertretende Kommandeur von EUCOM (des europäischen Kommandos der US-Armee), Stephen M. Twitty, recht deutlich über die Lage in der Ukraine:
"Und gerade jetzt, wenn man auf die Ukraine schaut und auf Russland schaut, da ist es etwa eins zu eins. Der einzige Unterschied ist, dass Russland eine ganze Menge mehr Kampfkraft hat als die Ukrainer. Also gibt es keinen Weg, dass die Ukrainer jemals die Russen zerstören oder besiegen können."
Er lieferte sogar eine passende Antwort auf das Schlagzeilentheater des heutigen Morgens:
"Ich möchte Sie auch daran erinnern, dass wir viel über russische Gefallene und russische Verluste hören. Wir hören sehr wenig über ukrainische Verluste, und denken Sie daran, sie verlieren in diesem Krieg ebenfalls Soldaten. Sie haben mit etwa zweihunderttausend angefangen. Wer weiß, wo sie heute sind?"
Twitty ist auch deshalb interessant, weil er ein völliges Fehlen jeder Diplomatie beklagt und, unter Wahrnehmung dessen, dass die meisten westlichen Sprecher in Russland ohnehin nicht mehr ernst genommen werden, dann überlegt, ob nicht doch durch Vermittlung der Türkei, Ungarns oder Chinas wieder so etwas wie Diplomatie möglich sei... Auch das ein deutschen Medien fremder Gedanke.
Die Märchenstunden des Herrn Resnikow sind in Deutschland auf jeden Fall beliebter. Die FAZ zitiert ihn noch mit "Sie sterben wie die Fliegen." Das russische Militär. Der Satz ist sehr populär, auch der Tagesspiegel übernimmt ihn. Hauptsache, dieser Ausrutscher mit den ukrainischen Verlusten wird möglichst schnell wieder aus dem Gedächtnis gelöscht.
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