von Dagmar Henn
Olaf Scholz flog nach Litauen, und das ZDF textete gleich: "an einen Ort, an dem die Angst vor Russland und die Enttäuschung über Deutschland ähnlich groß sind" wie angeblich in der Ukraine. Auch der Spiegel ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen, von Scholz ein kriegerischeres Auftreten zu fordern, und zitierte den lettischen Ministerpräsidenten mit der Bemerkung: "Unser Ziel ist eindeutig: Russland muss diesen Krieg verlieren und die Ukraine muss ihn gewinnen."
Und Scholz, berichtet dann nachmittags die Tagesschau (man kann die geschwellte Brust vor sich sehen), sagt "zusätzliche militärische Unterstützung zur Abschreckung und für die Verteidigung gegen einen möglichen russischen Angriff" zu. Es solle "in Richtung einer robusten Kampfbrigade" gehen. Mehr deutsche Soldaten im Baltikum also.
Eigentlich sollte man die deutschen Medien verpflichten, neben jeder Äußerung eines der baltischen Politiker die Einwohnerzahl des betreffenden Staates aufzuführen. Der bevölkerungsreichste, Litauen, bringt es auf nicht ganz drei Millionen. Einmal Berlin, nein, nicht einmal das. Der kleinste, Estland, hat weniger Einwohner als die bayerische Hauptstadt München. Insofern ist es schon erstaunlich, dass solche Äußerungen überhaupt gemeldet werden. Die Ukraine ist pleite und ein politischer Abgrund, aber immerhin noch ein Land mit einer ernst zu nehmenden Einwohnerzahl. Würde man es in Deutschland ernst nehmen, wenn der luxemburgische Ministerpräsident Forderungen an die deutsche Außenpolitik stellte? Eher nicht. Warum also werden die Politiker aus den baltischen Staaten behandelt, als verträten sie politische Schwergewichte? Nur deshalb, weil man sich grundsätzlich auf eine gegen Russland gerichtete Position eingelassen hat.
Wenn man die Geschichte betrachtet, ist es erstaunlich, dass sich diese Staaten jetzt ausgerechnet an die Deutschen wenden. Lettland und Estland sind Gebiete, die einst vom Deutschritterorden erobert und zwangschristianisiert wurden und deren Hafenstädte für die Hanse errichtet wurden; über Jahrhunderte hinweg war die Oberschicht deutsch, und weder Letten noch Esten hatten irgendetwas mitzureden. Auch in der kurzen Phase der Unabhängigkeit nach dem Ersten Weltkrieg blieb das so. Erst der zweite führte dazu, dass sich Letten und Esten selbst regieren durften.
Aber alle drei Staaten haben das gleiche Problem, das alle westorientierten ehemaligen Sowjetrepubliken plagt – sie können sich nur als Nation zu formieren suchen, indem sie mit allen Mitteln gegen die sowjetische Nationalität ankämpfen. Denn in Wirklichkeit ist der Bruch, der durch diese Staaten verläuft, kein ethnischer, sondern ein politischer, der ethnisiert wird, wie auch in der Ukraine. Die Front des Zweiten Weltkriegs verlief mitten durch die Bevölkerungen; es gab nicht nur baltische SS-Einheiten, es gab auch aus jedem der baltischen Länder Einheiten der Roten Armee. Sogar der erste Kommandeur der Roten Armee war ein Lette.
Natürlich ist der Umgang mit der politischen Spaltung, die fast alle europäischen Länder durchzog und auf gewisse Weise heute noch durchzieht, nicht einfach. Und es scheint auf den ersten Blick die einfachste Lösung, die sowjetische Erzählung durch das Gegenteil zu ersetzen; dumm nur, dass dieses Gegenteil Nazi-Deutschland ist.
In einem alten Artikel der Welt von 2012 kann man das sogar offen ausgesprochen finden. Damals sagte der Sprecher des lettischen Verteidigungsministeriums Airis Rikveilis: "Wissen Sie, was das Dilemma unseres Landes ist? Wir haben einfach keine anderen Veteranen, die wir heute ehren könnten. Wir hatten im Krieg nur die SS-Divisionen. Und die Rote Armee."
In den beiden deutschen Staaten wurden bis 1989 unterschiedliche Modelle verfolgt, mit dieser historischen Spaltung umzugehen. Im Westen wurde schlicht so getan, als gäbe es sie nicht; man setzte den Antikommunismus nahtlos fort, übernahm die Nazifunktionäre in den neuen Staatsapparat und erwartete im Grunde, dass jeder, auch sozialdemokratische Verfolgte beispielsweise, sich brav und ohne jedes Zögern mit jenen an einen Tisch setzte. Das Dilemma, wen man denn nun ehren solle, hat man weitgehend durch Nichtehrung gelöst, mit ein paar Randphänomenen zwischen Bendlerblock-Gedenken und Mittenwalder Gebirgsjägertreffen.
In der DDR wurden die Gegner der Naziherrschaft geehrt, aber im Gegensatz zur Bundesrepublik gab es einen gesellschaftlichen Raum, in dem auch die Erfahrung des Belogen- und Ausgenutztwordenseins einen Raum hatte und sich ausdrücken konnte; in Romanen wie Hermann Kants "Aufenthalt" beispielsweise. Es gab also zumindest die Möglichkeit, auch um jene zu trauern, die für die falsche Sache verheizt worden waren, was die erste Voraussetzung ist, um über diesen historischen Graben hinweg zu so etwas wie einer gemeinsamen Erzählung zwar nicht mit den Tätern der Naziherrschaft, aber mit ihrem Kanonenfutter zu kommen.
Die feindliche Übernahme hat dann nicht nur das zunichtegemacht, was die DDR an positiver nationaler Erzählung schaffen konnte, sondern letztlich auch noch das Stück Wahrheit beseitigt, das durch die politischen Kämpfe in der BRD freigelegt worden war. Das Vakuum, das die Entsorgung der DDR-Geschichtsschreibung (die auf vielen Feldern, dem ökonomischen beispielsweise, Großartiges geleistet hatte) hinterlassen hat, wird jetzt im Gefolge der "Solidarität mit der Ukraine" wieder mit der alten Geschichte besetzt, erst zögerlich, inzwischen im Eilmarsch. Auch die wirkliche deutsche Erzählung ist noch nicht geschrieben.
Dennoch ist es erstaunlich, wie völlig kritiklos und ohne jeden Rückbezug mit der Realität die Aussagen baltischer Politiker genutzt werden, um die Stimmung in Deutschland noch weiter zu verschärfen. Kann man es wirklich ernst nehmen, wenn der litauische Präsident Nausėda erklärt, "wir werden Russland im Sinne Macrons erniedrigen, sowohl militärisch als auch wirtschaftlich"? Mit drei Millionen Einwohnern?
Natürlich, auf einer Seite der baltischen Geschichte, der, die dann auch die SS-Divisionen hervorbrachte, hat die Russophobie eine starke Tradition. Paul Rohrbach, der beträchtlich dazu beigetragen hatte, im wilhelminischen Deutschland eine gegen Russland gerichtete Stimmung zu verbreiten, war Deutschbalte; ebenso wie Alfred Rosenberg, dem die Welt die NS-Rassenideologie verdankt und der während des Zweiten Weltkriegs für die Betreuung all dieser Hilfstruppen zuständig war.
Als der Kalte Krieg zu Ende war und selbst Radio Free Europe in München abgewickelt wurde, schien es so, als sei die Zeit dieser Leute vorüber. Rund um München waren sie alle zu finden, die Ustascha-Kroaten, die Bandera-Ukrainer, die Exilbalten. Hätte man mich damals gefragt, ich wäre mir sicher gewesen, dass sich das biologisch löst und diese ganzen Hinterlassenschaften des braunen Spuks bald verschwunden sein werden. In Wirklichkeit geschah aber etwas völlig anderes. All diese Leute, die sich in der "Antibolschewistischen Liga der Nationen" gesammelt hatten, die man zwar für verknöcherte, bösartige Faschisten hielt, aber politisch ein Relikt, machten sich mit dem Ende der Sowjetunion auf, sich ihre Ursprungsländer zu unterwerfen. Die Ukrainerin Jaroslawa Stezko ist da nur ein Beispiel.
Und man muss zugeben, die deutsche Beteiligung an diesem Phänomen ist nicht gering. Es gab zwar noch andere Länder, die die geschlagenen NS-Hilfstruppen aufnahmen, die USA und Kanada beispielsweise (Stichwort Operation Paperclip), aber auch in Deutschland wurde ihnen immer Unterstützung in einer Art gewährt, die dafür sorgte, dass ihre Strukturen und ihre Ideologie weiterexistierten. Ihnen eine tragende Rolle in den ehemaligen sowjetischen Staaten zu ermöglichen, mag anfänglich reiner machttechnischer Opportunismus gewesen sein – man konnte die politische Kontrolle über Gebiete erringen, die zuvor Teil der Sowjetunion gewesen waren, und griff dafür schlicht zu jenen Truppen, die man hatte –, und es mag ebenso sein, dass die örtlich vorhandenen politischen Kräfte aus gleichermaßen opportunistischen Gründen kooperierten, weil es wie eine einfache Lösung für das Dilemma der geschichtlichen Erzählung schien; aber das Ergebnis ist fatal.
Eine Generation später sind die im Grunde sowohl ahistorischen wie apolitischen, dafür vollkommen ethnisierten Erzählungen, die die Antibolschewistische Liga der Nationen in ihrem kleinen, geheimdienstfinanzierten Nazireservat vor sich hin spann, zum offiziellen Geschichtsbild diverser Länder geworden, und über diese auch nach Deutschland zurückgewandert, sodass deutsche Journalisten sich bei Nausėdas Ankündigung, Russland zu demütigen, nicht vor Lachen auf dem Boden wälzen, sondern sie nutzen, um der deutschen Politik noch die letzten Anwandlungen von Vernunft auszutreiben. Hätte man nicht jeden Blick auf die materiellen Grundlagen von Politik mit einem Tabu belegt, seien es ökonomische, seien es demografische oder infrastrukturelle, man würde den Balten schlicht entgegnen, dass jeder Kleinstaat auf diesem Planeten einen Weg finden muss, mit seinen großen Nachbarn gut auszukommen. Die Luxemburger stellen sich auch nicht hin und erklären, sie würden Deutschland demütigen, oder Frankreich, oder auch nur Belgien.
Die Rolle, die die Balten dabei spielen, lässt sich am besten so formulieren: "Halb zog sie ihn, halb sank er hin." Denn völligen Unwillen, diesen so unsinnigen wie gefährlichen Forderungen nachzukommen, zeigt ja nicht einmal Olaf Scholz. Und so geht es weiter, Schritt für Schritt, Wahn um Wahn.
Nein, selbst wenn man um die ökonomischen Triebkräfte weiß, die hinter dem irrwitzigen Verhalten des Westens stehen; wenn man weiß, dass es eigentlich darum geht, ob die koloniale Ordnung weiterbesteht oder untergeht; selbst wenn man weiß, welche Mischung aus sorgfältiger sozialer Auslese und subtiler Bedrohung die Uniformität der Meinung in deutschen Redaktionsstuben sichert, und mit welchen Methoden dafür gesorgt wurde, dass die deutsche Politik von hirnlosen transatlantischen Sprechpuppen bevölkert wird; selbst wenn man weiß, welche Faktoren zu diesem bizarren NS-Revival von Kroatien bis Reval führten – es bleibt eine Mischung aus Irritation und Trauer. Dass sich alles, was in den Jahren ab 1989 geschah, als so durch und durch verhängnisvoll erweisen sollte. Man möchte nicht immer seinen schlimmsten Befürchtungen glauben müssen. Aber ein Reenactment des Zweiten Weltkriegs in dieser Größenordnung, das hatte wohl selbst der größte Pessimist damals nicht vor Augen.
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