von Dagmar Henn
Inzwischen sind ein weiteres Mal die Schweizer Neutralität und Waffenlieferungen an die Ukraine aufeinandergeprallt. Diesmal geht es um den Schweizer Schützenpanzer Piranha, den Dänemark im Bestand hat und von denen jetzt 20 Stück Richtung Kiew rollen sollen.
Die Entscheidung über die Legalität von Waffenexporten liegt in der Schweiz – wie in der Bundesrepublik – bei einer Abteilung des Wirtschaftsministeriums, dem SECO. Nachdem Dänemark beim Kauf dieser Schützenpanzer zugesichert hatte, sie nicht ohne Genehmigung weiterzuverkaufen, wird nun eine Erlaubnis des SECOs benötigt. Und sie wurde verweigert.
Wenn die dänischen Politiker darauf reagieren wie die deutschen, werden sie die Schweiz zur Genehmigung drängen. Der deutsche Wirtschaftsminister Habeck jedenfalls hat bei seinem Auftritt in Davos letzte Woche gefordert, er wünsche "maximale Unterstützung" für die Ukraine und seine Partei mit dem Satz "Wir müssen unsere eigene Haltung an der Wirklichkeit messen" dafür gepriesen, alle Reste friedenspolitischer Positionen endgültig entsorgt zu haben.
Der deutsche Fall, bei dem es um die Munition für den Flugabwehrpanzer Gepard geht, wird diese oder nächste Woche beim Schweizer Bundesrat entschieden werden, der die Entscheidungen des SECO überstimmen kann.
Allerdings, für die Schweiz geht es um weit mehr als um ein wenig Munition oder ein paar Panzer. Wenn man bedenkt, dass die Lieferung der Gepard-Panzer mitsamt Ausbildung der Mannschaften in Deutschland eigentlich die Grenze zur Kriegsbeteiligung überschreitet, ist leicht erkennbar, dass eine Implikation der Schweiz darin für die Neutralität verheerend ist. Schließlich gibt es Neutralität nicht dann, wenn sie erklärt wird, sondern nur dann, wenn sie von allen Seiten anerkannt wird. Man könnte fast vermuten, die Schweiz dürfe auf keinen Fall abseitsstehen, wenn sich der Rest Europas ein Messer in die Brust rammt.
Die Schweizer Neutralität hat eine lange Geschichte. Die Kernschweiz, die aus einem Aufstand gegen die Habsburger Herrschaft entstand und einen der frühesten bürgerlichen Staaten Europas bildete, entdeckte schnell, dass die einzige Art, sich sowohl gegen die Habsburger als auch gegen Frankreich zu behaupten, darin bestand, sich aus den Händeln in Europa im Großen und Ganzen herauszuhalten. Außerdem exportierte die Schweiz über lange Zeit Söldner; ein Überrest davon sind heute noch die Schweizer Garden des Vatikans; vor Jahrhunderten war das eine Möglichkeit, zum einen die eigene Bevölkerung möglichst verteidigungsbereit zu halten und zum anderen die Kosten dafür auf die Kundschaft abzuwälzen.
Immerhin, in all den Wirren mit Reformation, Dreißigjährigem Krieg bis hin zu Napoleons Feldzügen gelang es dem kleinen Staat auf diese Weise, erfolgreich zu bestehen. Und im Laufe der Zeit entwickelten sich daraus zwei besondere Einkommenszweige – die berühmt-berüchtigten Schweizer Banken mit ihren Nummernkonten, bereit, jedes Geld anzunehmen, ohne zu fragen, und die Rolle der Schweiz als Sitz diverser internationaler Institutionen, die mit dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz ihren Anfang nahm, unter denen sich heute auch (in Nachfolge des Völkerbunds) auch die UN, die OPCW, die Internationale Luftverkehrsvereinigung IATA und die Internationale Arbeitsorganisation ILO befinden. Da die Schweiz klein ist und viele solcher Organisationen beherbergt, ist auch das ein ganz realer Wirtschaftsfaktor.
Außer diesen beiden Sektoren hat die Schweiz noch hoch spezialisierte Industrie, beispielsweise (verblüffenderweise) den Bau von Schiffsturbinen und die Rüstungsindustrie. Für diese gelten natürlich die gleichen Folgen wie für Industrie an anderen Orten, was die Energieversorgung betrifft.
Natürlich war die Neutralität der Schweiz niemals vollkommen. Im Zweiten Weltkrieg gab es deutliche Sympathien für Nazi-Deutschland, und man war sehr hilfreich dabei, in ganz Europa zusammengeraubtes Vermögen über den Zusammenbruch des Hitlerreiches zu retten. Die damalige Weigerung, jüdische Flüchtlinge aufzunehmen, ist ebenfalls bekannt. Die Gebrüder Dulles aus den USA trafen ihre Absprachen mit der Nazi-Elite, die das Nachkriegseuropa und den Kalten Krieg bestimmen sollte, ebenfalls in der Schweiz. Aber mit "Dora" befand sich auch eine der wichtigsten Spionagezentralen der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg dort und nutzte die Nähe zum Nazireich, um Verbindungen in den deutschen Widerstand zu knüpfen und kriegswichtige Informationen nach Moskau zu liefern.
Das Bankensystem der Schweiz profitierte gewaltig von der Neigung aller möglicher Diktatoren, ihre Vermögen dort unterzubringen. In Nigeria hieß es beispielsweise über den Militärdiktator Abacha, er habe 80 Milliarden Dollar außer Landes gebracht. Die Neutralität war und ist also auch der Hebel, über den die Schweiz sich eine Scheibe von den kolonialen Machtverhältnissen abschneiden kann, ohne selbst direkt daran beteiligt zu sein.
Außerdem sind zumindest halbwegs neutrale Orte immer wieder wichtig, wenn es um Verhandlungen geht. Diesen Ruf konnte die Schweiz jahrzehntelang wahren. Sie war während des gesamten Kalten Krieges kein Mitglied eines Militärbündnisses; das war die Voraussetzung dafür, dass sich so viele internationale Organisationen dort ansiedeln konnten. Die Unvollkommenheiten wurden dabei hingenommen.
Wenn jetzt diese Neutralität infrage gestellt wird, geschieht das zu einem Zeitpunkt, an dem die gesamte gegebene Struktur internationaler Organisationen bereits brüchig ist. Im Gegensatz zum Kalten Krieg scheint der Westen darauf bedacht, alles in Stücke zu hauen, das ein Zurück zu einer Kultur des Aushandelns ermöglicht. Das war bereits im Sommer 2014 zu sehen. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz äußerte nicht einmal leisen Protest, als Hilfslieferungen in den Donbass blockiert wurden, obwohl die Genfer Konventionen das klar untersagen. Auch als dann der erste große russische Hilfskonvoi kam und tagelang von ukrainischer Seite nicht über die Grenze gelassen wurde, war nichts aus der Schweiz zu hören.
Zu der zweifelhaften Rolle, die die OPCW (Organisation für das Verbot chemischer Waffen) unter anderem in Syrien spielte, findet sich andernorts mehr. Auch hier passierte das Gleiche – das Renommee wurde für einen kurzfristigen Vorteil verheizt. Ähnlich wurde in den letzten Jahren mit den Wiener Vereinbarungen verfahren, die den diplomatischen Umgang zwischen Ländern regeln. Das, was als "regelbasierte Weltordnung" so lautstark vertreten wird, beruht in Wirklichkeit auf der Aufhebung einer Regel nach der anderen.
Nun existiert die Diplomatie vor allem für eines – Kriege zu beenden. Je mehr Organisationen und Strukturen vom Westen in seinen Kreuzzug eingebunden werden, desto weniger Möglichkeiten bleiben für eine Rückkehr zur Diplomatie. Ein Ende der Schweizer Neutralität wäre dabei ein gravierender Schritt. Für die Schweiz würde das mindestens massive ökonomische Verluste bedeuten, für die globale Entwicklung würde es signalisieren, dass eine Rückkehr zum Frieden einzig über eine vollständige Niederlage des Westens möglich ist.
Die internationalen Organisationen wie die UN stehen ohnehin bereits vor einer Spaltung. Die Vehemenz, mit der die westlichen Kernländer ihre Positionen durchsetzen wollen, und ihre Verweigerung jeglicher Verhandlungsbereitschaft werden auf kürzere Frist bereits den Sitz New York unmöglich machen. Fällt die Schweizer Neutralität, käme auch Genf nicht mehr infrage. Ohne einen Tagungsort, der von beiden augenblicklich formierten Seiten getragen wird, hat die Organisation selbst keine Grundlage mehr.
Diese Neutralität wurde weder im Ersten noch im Zweiten Weltkrieg noch im Kalten Krieg angetastet, weil sie – siehe Raubgold – auch immer als Brücke in ein "Danach" nützlich war. Wenn sie jetzt um jeden Preis getilgt werden soll, signalisiert der kollektive Westen auch, dass er ein "Danach" nicht im Blick hat. Im Gegenteil, die Schweiz soll mit in den europäischen Selbstmordpakt gezwungen werden.
Es ist noch nicht klar, ob sich die Schweizer das antun werden. Laut Berichterstattung des Schweizer Fernsehens sind zumindest die SVP (Schweizerische Volkspartei) und die Grünen dagegen, während die Grünliberalen und die Mitte dafür sind.
Die nüchterne Tatsache, dass diese Lieferungen nur dazu dienen, die liefernden Länder tiefer in den Konflikt zu verstricken, aber am militärischen Resultat nichts ändern werden, spielt bisher auch in der Schweizer Debatte keine Rolle. Alles tut so, als würde an diesen Waffen das Schicksal der Ukraine hängen. Dem ist nicht so. Aber das der Schweiz sehr wohl.
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