von Seyed Alireza Mousavi
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat schon des Öfteren für Überraschungen gesorgt. Nachdem die USA im Zuge des Ukraine-Krieges wiederholt Schweden und Finnland zum Beitritt in das transatlantische NATO-Bündnis gedrängt hatten, kündigte der türkische Präsident plötzlich sein Veto dagegen an. Die Türkei erlaubte am Mittwoch bei dem Treffen des NATO-Rats nicht einmal den offiziellen Startschuss für den Beginn von Beitrittsverhandlungen mit Schweden und Finnland.
Erdoğan stellt in dem von ihm somit ausgelösten Konflikt um diese "Nord"-Erweiterung der NATO zwar "nur" Forderungen an Schweden und Finnland – wie etwa die Auslieferung von angeblichen PKK-"Terroristen" –, aber im Grunde genommen sitzt in Washington, D.C. der Hauptadressat der türkischen Führung. Nachdem in Europa zunehmend eine Kompromissbereitschaft im Ukraine-Konflikt signalisiert wurde, weil man im Gegensatz zu den USA und Großbritannien mehrheitlich kein Interesse daran hat, die Eskalationsspirale weiter hochzuschrauben, zielten die USA durch den Schritt eines NATO-Beitritts von Finnland und Schweden darauf ab, jegliche Einigung zwischen Europa und Russland zu torpedieren und die Lage zugunsten der US-Interessen und zulasten der EU auf dem Territorium Europas weiter eskalieren zu lassen.
Der französische Präsident Emmanuel Macron soll Mitte Mai die ukrainische Führung in Kiew aufgefordert haben, Zugeständnisse an Russland zu machen und den Status quo auf der Frontlinie zu akzeptieren, um dem russischen Staatschef Wladimir Putin dabei zu helfen, "gesichtswahrend" den Krieg beenden zu können. Der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij machte Macron daraufhin klar, sich "vergeblich" um "einen Ausweg" für Russland zu bemühen. Aus dem Élysée-Palast wies man zwar später die Vorwürfe Selenskijs zurück, aber es gibt keinen Zweifel daran, dass Berlin und Paris ein ganz anderes Narrativ als die USA über den Ukraine-Krieg vertreten. Nach Darstellung der US-Amerikaner und Briten habe Kiew nun "seine Ziele" neu formuliert. Die Ukraine wolle nun den Krieg "gewinnen". Diese Linie der US-Regierung stößt jedoch nicht überall in Europa auf Zustimmung.
Bundeskanzler Olaf Scholz drückte sich bislang erkennbar vorsichtiger aus. Er erklärte, dass Russland den Krieg gegen die Ukraine nicht gewinnen dürfe. Scholz und Macron unterscheiden sich damit auch erheblich von der Position des britischen Premierministers Boris Johnson, der von einem bevorstehenden "Sieg" der Ukraine gesprochen hat. Frankreich und Deutschland sind aus einem einfachen Grund vorsichtiger: weil der Krieg gerade vor der Haustür der EU stattfindet und nicht an den Grenzen der USA.
Spätestens jetzt ist es Erdoğan bewusst geworden, dass USA auch durch die Aufnahme Schwedens und Finnlands in die NATO die Lage in Europa noch leichter weiter eskalieren lassen können, um damit ihr eigentliches Ziel – nämlich die "Schwächung Russlands" – auf geopolitischer Ebene zu erreichen. Es scheint der türkischen Führung gelegen zu kommen, damit jetzt vom Westen substanzielle Zugeständnisse zu erpressen, da diese NATO-Mitgliedschaftserweiterung einstimmig beschlossen werden muss. Die USA hatten früher bereits die Türkei vom Bau und der späteren Lieferung der Kampfjets F-35 ausgeschlossen und Sanktionen gegen sonstige türkische Waffenbeschaffungen verhängt, weil Ankara im Jahr 2019 trotz der Warnungen und Proteste aus Washington das Flugabwehrsystem S-400 von Russland gekauft hatte.
Ankara will daher nun den USA auch wieder die Beteiligung am F-35-Programm sowie die Aufhebung aller US-Sanktionen gegen türkische Waffenbeschaffungen – und zwar trotz des Kauf des russischen Flugabwehrsystems S-400 – abtrotzen und erst im Austausch für diese Gegenleistungen den Weg für die Aufnahme der beiden skandinavischen Ländern in die NATO freimachen.
Dass manche europäischen Politiker nun Erdoğan eine "Basar"-Mentalität unterstellen, ändert nichts an der Tatsache, dass die USA für ihre abenteuerlichen Ziele auf europäischen Boden von der Türkei "grünes Licht" zum NATO-Beitritt von Schweden und Finnland dringend brauchen.
Je länger sich die Debatte um diese NATO-Norderweiterung hinzieht, desto schwieriger könnte es für die US-Führung werden, zu einem guten Abschluss zu kommen. Die zweifellos "transatlantisch" orientierte Tageszeitung FAZ warnt, die öffentliche Meinung in Schweden und Finnland könne sich auch wieder ändern: "Und im Laufe der Zeit könnten bei manchen Verbündeten Sorgen entstehen, dass die Verlängerung der NATO-Außengrenze zu Russland um 1.300 Kilometer vielleicht doch zu konfrontativ wäre." Diese Gemengelage macht die USA für Erdoğan noch erpressbarer, nun endlich den Forderungen der Türkei nachzukommen. Insofern handelt es sich bei dieser Debatte über die NATO-Norderweiterung nicht um eine Frage der Sicherheit Europas, sondern um ein Geschäft zwischen USA und Türkei auf Kosten der Sicherheit aller Europäer.
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