von Wladislaw Sankin
Seit nun schon mehr als acht Jahren erfüllen die Angehörigen des sogenannten "Asow-Regiments" eine Reihe wichtiger Funktionen innerhalb des ukrainischen Staates. Zu allererst war es aber die Funktion der "Kettenhunde", die stellvertretend für das damals noch junge nationalistische Regime das "Problem der separatistischen Regionen" im Südosten selbst in die Hand nehmen sollten. So ist Asow aus den damaligen Charkower Neonazis und Fußball-Ultras gewachsen, die bereits am Ersten Mai 2014 als Gruppe eines bewaffneten und maskierten "schwarzen Korps" in ihrem "Begrüßungsvideo" versprach, kurzerhand alle "Separatisten verschwinden zu lassen".
Für die Putsch-Regierung des "Interimspräsidenten" Turtschinow war es damals höchste Zeit, der drohenden Abspaltung des Südostens der Ukraine nach dem Maidan ein Ende zu setzen. Das Krim-Referendum lag zu diesem Zeitpunkt nur sechs Wochen zurück, die Proklamation der Donezker Volksrepublik nur drei Wochen. Auch in anderen Städten brodelte es. Auch Charkow wagte es, eine Volksrepublik auszurufen, die allerdings nach wenigen Tagen mit tatkräftiger Hilfe solch eines "schwarzen Korps" zerschlagen wurde. In Odessa demonstrierten Zehntausende für eine Föderalisierung des Landes, Proteste gab es auch in anderen Städten.
Der nationalistische Putsch in Kiew kam im Südosten gar nicht gut an. Die Bandera-Ideologie der Westukrainer wurde Anfang des Jahres 2014 von der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung im Südosten als etwas Fremdes und Feindliches angesehen. Nazi-Kollaborateure als Helden zu verehren, das war schlichtweg ein Albtraum im Osten der Ukraine.
Dabei war bereits der "Rechte Sektor" wegen seiner maßgeblichen Rolle auf dem Kiewer Maidan und beim Odessa-Massaker am 2. Mai als kampfstärkste neonazistische Formation in aller Munde. Aber die vom "Rechten Sektor" allein wären nicht imstande gewesen, den "Strafvollzug" für die neuen Machthaber in der ganzen Region zu erfüllen: Die schwarz-rote frühere Fahne der OUN und UPA des Rechten Sektors müsste durch etwas anderes ersetzt werden.
Das Regime verstand – die Rebellion im Südosten müsste dort mit den eigenen Händen erstickt werden, mit einer Ideologie, die akzeptiert wird, wobei die Zielgruppe für Propaganda die marginalisierten Schichten in russischsprachigen Städten sein sollten. Diese Städte spielten einst in der imperialen Premium-Liga der Sowjetunion. Charkow, Dnjepropetrowsk und Donezk konnten auf Augenhöhe mit Sankt Petersburg, Nowosibirsk, Alma-Ata oder Baku in allen Bereichen mithalten – in Industrie, Wissenschaft und Sport.
Mit dem Zerfall der Sowjetunion war es aber vorbei mit dem großen Land. Im Unterschied zum eher ländlich geprägten Westen und Zentrum war für den Süd-Osten die Ukraine nach all dem territorialen Zugewinn der Sowjet-Ära immer noch zu klein. Schließlich hatte auch diese Region ihr Entstehen der imperialen Ausdehnung des russischen Reiches zu verdanken. Mental lebten viele russische Ukrainer noch Jahrzehnte nach 1991 mit den Russen, Weißrussen, Kasachen, Moldawiern, Aserbaidschanern und anderen gefühlt in einem größeren Land.
Die Charkower Nazis, um deren gerade aus dem Gefängnis freigelassenen Ideologen Andrej Bilezkij geschart, haben den ukrainischen Nationalismus in seiner Ost-Variante neu entdeckt und modernisiert. Bilezkij träumte von einem noch größeren und stärkeren Land als es die Ukraine insgesamt bereits war, er dachte über Rassen nach, über das Imperium, über das Starksein. Sein Nazismus war nicht rückwärtsgewandt wie etwa der westukrainische Banderismus mit seinem ewigen Bandera-Kult.
Seine Organisation schlüpfte unter die Fittiche von Arsen Awakow, ehemaliger Oberbürgermeister von Charkow und Innenminister in den Jahren 2014-2021, dem Mini-Oligarchen und Gouverneur des Gebiets Charkow in den Jahren 2005 bis 2010. Awakow, geboren in der aserbaidschanischen Hauptstadt, war ein kosmopolitischer russischsprachiger Armenier und nebenbei Organisator der Science-Fiction-Festivals. Mit seiner Hilfe feilte nun auch Bilezkij an einem utopischen Techno-Faschismus, der die ethnisch-nationalen Schranken der Bandera-Ideologie sprengte und auf eine klare rassistische Überlegenheitsideologie, auf perfekte technische Ausstattung und auf ein attraktives Erscheinungsbild setzte.
Dafür eigneten sich auch zahlreiche heidnische Elemente, von denen die Asow-Ästhetik nur so strotzt. Der Nationalistenführer des Westens Stepan Bandera wuchs als Sohn eines Priesters der griechisch-katholischen Kirche auf. Die Rolle dieser regionalen westukrainischen kirchlichen Institution war in der Verbreitung des Banderismus von großer Bedeutung. Der Nationalismus nistete sich in den christlichen Ritus ein: in den Gebeten nahm langsam die Ukraine den Platz Jesu Christi ein, die "Helden" des Maidan wurden als eine Art neue Heilige verehrt.
"Asow" hatte dagegen weder mit der Orthodoxie noch mit dem Katholizismus etwas am Hut. Nach der Stadt Asow im Gebiet Rostow im russischen Südwesten und zugleich nach jenem an Russland und die Ukraine angrenzenden Nebenmeer benannt, band Bilezkij vielmehr schon in den Namen Asow seiner Bewegung künftige territoriale Ansprüche an Russland ein. Bei Asow geht es um Naturelemente, Geographie, Raum. Asow ist Geopolitik. Auch das macht Asow moderner. Heidnische Ästhetik, gemischt mit slawischen und germanischen Elementen sorgte dafür, dass Asow auch im Ausland populär wurde. Als bewaffnete Einheit wurde Asow bereits vier Jahre nach seiner Gründung zu der erfolgreichsten rechtsextremen Bewegung weltweit.
Aber die Bewegung hat sich nicht nur im militärischen Bereich etabliert. Sie spaltete sich auf in drei Zweige – eine gesellschaftliche Bewegung "Asow", die vor allem im Bereich Bildung und Erziehung eine aktive Rolle einnahm, in die politische Partei Nationaler Korps, die auch eine Armee kampfbereiter "Straßenaktivisten" umfasste und in die bestens bewaffnete militärische Elite-Einheit "Regiment Asow", eine Art SS-"light". Mit eigenen digitalen Medien, Verlag und PR-Abteilung verfügte Asow nun über genügend gesellschaftliche Strahlkraft.
Dabei stand Asow durchaus mit anderen neonazistischen Organisationen der Ukraine in "befreundeter" Konkurrenz. Auch zusammengenommen gar nicht so zahlreich, übten sie enormen Einfluss auf die gesamte ukrainische Politik aus. Unter der unermüdlichen Aufsicht der Neonazisten mussten alle ukrainische Parteien wetteifern, wer der bessere "Patriot" sei und wer eine noch härtere Linie gegen alle Feinden der Ukraine – gegen Russland, gegen die "inneren" Separatisten und gegen all die anderen "Moskautreuen" führen würde. Dafür brauchte Asow nicht einmal im Parlament eine Vertretung. Die innenpolitische Rhetorik wurde durch diesen Einfluss immer hemmungsloser, die Gesellschaft ideologisch immer aufgeheizter.
Seit Beginn des Donbass-Krieges der Kiewer gegen die Ostukrainer vor acht Jahren erfüllen "Asow" und ähnlich gesinnte Formationen wie "Aidar" auch die Funktion der rückwärtigen Absperreinheit für kampfunwillige Truppen, für die es nach Aussagen eines ukrainischen Grenzschutzbeamten üblich sei, "das ganze Magazin in die Menschenmenge einfach abzurotzen".
Jetzt hat "Asow" in Mariupol, in seinem Hauptquartier, endlich kapituliert. In einer Stadt, wo Asow seine ersten militärischen Kämpfe lieferte, hat es sein militärisches Ende gefunden. Nach Schätzungen des russischen Rossia 1-Korrespondenten Alexander Sladkow befinden sich noch etwa 800 Asow-Kämpfer von insgesamt 2.500 in den Bunkern des riesigen gleichnamigen Stahlwerkes und sind nun dabei, sich nach wochenlanger Belagerung in die Hände der russischen Justiz zu ergeben.
Das Russische Ermittlungskommitee ist seit Beginn der Militäroperation am 24. Februar mit einem Team in der Region zahlreich vertreten. Es ist zu erwarten, dass das russische Oberste Gericht Asow am 26. Mai zu einer terroristischen Organisation erklären wird. In diesem Fall drohen den Asow-Kämpfern in Russland bis zu zwanzig Jahre Haft. Kein Wunder, dass die "Beiträge zur Aufmunterung", die Asow-Gründer Bilezkij in sozialen Medien verfasst, viel eher Epitaphien auf Grabsteinen ähneln.
In Kiew sitzend, erinnert sich nun der ehemalige "weiße Führer" gerne an die "glorreichen" Anfänge seiner Bewegung. So postete er am 1. Mai wieder jenes schon erwähnte Video, als seine ersten Kämpfer den Separatisten in Charkow mit deren "Verschwinden" drohen.
Im Text erinnerte er auch an den Nationalisten der ersten Stunde Nikolai Michnowski, der im Jahre 1900 in Charkow als einer der ersten das umfassende politische Programm des ukrainischen Nationalismus formulierte und territoriale Ansprüche an Belgorod und den Nordkaukasus stellte:
"Dieses Video ist acht Jahre alt.
Am 1. Mai 2014 haben wir als Partisanengruppe, das Schwarze Korps, die Ausrufung der Charkower Volksrepublik verhindert. Vor acht Jahren hatten wir so gut wie keine Waffen und Munition, aber wir waren entschlossen, die Stadt, in der der ukrainische Nationalismus seinen Ursprung hatte, um keinen Preis den Russen zu überlassen.
Einige Menschen in diesem Video sind bereits in den Schlachten des Jahres 2022 gefallen, andere kämpfen in den Ruinen von Asowstal."
Nun sind die Kämpfe beendet – mit einem vollständigen Sieg der Donezker Volksrepublik und ihrer russischen Verbündeten. Vor ihrer Kapitulation haben sich die eingebunkerten Asow-Kommandeure mehrfach in flehenden Videos an die eigene Regierung und die Führer der westlichen Welt gewandt und um die "Extraktion" in sichere Drittländer gebeten. Die Asow-Frauen drücken in westlichen Talkshows auf die Tränendrüsen, mit ihrer Mission schafften sie es sogar bis zum Papst und zu Erdoğan. Handeln denn so die von Bilezkij gepriesenen "Menschen aus Stahl"?
Nach all den Massakern, nach der vorsätzlicher Zerstörung der Städte wie Mariupol vor den Augen ihrer Einwohner glauben die Asow-Kämpfer anscheinend wirklich, dass die Donezker Volksrepublik, die acht Jahre unter dem Asow-Nazismus mit seinem Hass auf alle "Separatisten" gelitten hat, sie einfach so gehen lässt.
Das wird aber nicht passieren. Die Kapitulation des Asow-Regiments in Mariupol ist einer der entscheidenden Momente dieses Krieges. Mit ihrer Lizenz zum Foltern, zum Töten und zum Hassen handelten bislang ukrainische Neonazis aller Couleur weitgehend in einem rechtsfreien Raum. Zum ersten Mal werden sie nun in die gerechten Mühlen der Justiz und der öffentlichen Ächtung geraten.
"Die 'Kosaken' wollten Moskau stürmen und Smolensk plündern, müssen nun aber bestenfalls die Flora und Fauna von Transbaikalien studieren. ... Das Schicksal von Asow ist unter dem Gesichtspunkt der Beeinflussung von Jugendlichen interessant, die sehen werden, wozu die 'Jagd auf Russnjaken und Separs' [abschätzige Titulierungen für Russen und Separatisten) führt", schreibt der Journalist und Kenner der Region Semjon Uralow.
Die militärische und moralische Niederlage von Asow wird nicht nur zum Ermatten seines bisherigen "Glanzes" in der nazifizierten ukrainischen Gesellschaft und im Bildungswesen führen. Sie wird zur Entfremdung zwischen den Nationalisten-Bataillonen und dem ukrainischen Staat führen. Dieser Staat wird derzeit noch verkörpert vom Comedy-Schauspieler Selenskij und seinem "kreativen" PR-Team, die sich in die noch in der Sowjetzeit errichteten Kiewer Machtstuben verirrt haben. Weder der in den Medien nun omnipräsente Selenskij noch der verbündete Westen, der – ohne sich die Hände schmutzig zu machen – seine geopolitischen Ziele verwirklichen will, haben die Asow-Krieger retten können oder wollen.
Welche politische Dynamik in Kiew jetzt konkret zu erwarten ist, bleibt schwer vorherzusagen. In Kiew herrscht de facto eine Militärdiktatur. Aber die Kapitulation von Mariupol ist durchaus mit der legendären Kapitulation der 6. Armee Nazi-Deutschlands in Stalingrad zu vergleichen – und dies wird sehr weitreichende Folgen haben und das ukrainische Machtgefüge verändern.
Denn wie jede Chimäre ist der Nazismus auf einem Mythos gebaut. Die Entzauberung des neonazistischen Asow-Mythos leitet damit Prozesse ein, die am Ende zur Demontage des ukrainischen Staates in seiner Post-Maidan-Variante führen werden. Massive Waffenlieferungen an Kiew aus dem Westen, die Mobilisierung aller Männer, gepaart mit Propaganda und Siegesrhetorik aus dem offiziellen Kiew werden diesen Prozess wohl in die Länge ziehen können. Aber nach der Kapitulation von Asow-Nazis in Mariupol scheint die Kapitulation von Bandera-Nazis und anderer Hasspropheten, etwa in Lwow, ein nicht mehr sehr unwahrscheinliches künftiges Szenario zu sein.
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