von Anton Gentzen
Die russisch-chinesischen Beziehungen haben sich über Jahrhunderte entwickelt und kannten ihre Höhen und Tiefen. Da war zunächst an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert der russische Versuch, die nordöstlichen Teile Chinas unter koloniale Kontrolle zu bringen. Nach der Oktoberrevolution verabschiedete sich der neue Sowjetstaat von kolonialen Ambitionen und schenkte die als deren Vehikel erbaute Eisenbahnlinie kurzerhand dem chinesischen Volk. Später war man verbündet im 2. Weltkrieg, der für China weitaus früher begonnen hatte als an dem in der westlichen Hemisphäre einzig anerkannten 1. September 1939. Die sowjetische militärische und wirtschaftliche Hilfe für China floss auch in den für die Sowjetunion selbst dunkelsten Jahren 1941 bis 1943.
Als dann gar die Kommunisten in China den anschließenden Bürgerkrieg für sich entschieden hatten, schien das Fundament zu einer unverbrüchlichen Freundschaft des sowjetischen und des chinesischen Volkes gelegt. Das änderte sich mit dem Tod Stalins und der Ideologiewende, die sein Nachfolger Chruschtschow binnen weniger Jahre hinlegte und die der chinesische Kommunisten- und Staatsführer Mao Zedong nie akzeptierte. Es folgte eine Entfremdung, die gar in einem blutigen Scharmützel rund um eine kleine Insel, eher eine Sandbank im Grenzfluss, gipfelte.
Ab da gingen beide Länder unterschiedliche Wege: Die Sowjetunion wickelte sich bald ohne größere Not selbst ab und Russland baute den Manchesterkapitalismus mit demselben kompromisslosen Enthusiasmus und demselben Sendungsbewusstsein auf, mit denen man einst den Kommunismus zu errichten versuchte. China dagegen erstickte 1989 den ihm zugedachten Maidan aka Platz des Himmlischen Friedens und machte sich an Wirtschaftsreformen, die es binnen drei Jahrzehnten zur führenden Wirtschaftsmacht der Welt aufsteigen ließen.
Heute gibt es nur wenige Russen, die nicht anerkennen, dass der chinesische Weg der bessere war. Neidisch rechnet man sich in der Phantasie aus, wo man denn heute dastehen würde und wie man leben würde, hätte man damals, im fernen Jahr 1991 (wahrscheinlich eher im Jahr 1985, da wurden die Weichen gestellt), nicht den destruktiven Weg beschritten, sondern eben den evident erfolgreichen chinesischen.
In der Mehrheit gönnen Russen dem großen Nachbarvolk seinen Erfolg. Der "Schüler" von einst hat den "kommunistischen Lehrmeister" von einst weit überholt und das verdient in den Augen der Bürger der Russischen Föderation Respekt und Anerkennung. Insgeheim hoffen viele, dass etwas von diesem Erfolg an Russland zurückfällt und dass die Genossen in Bejing Moskau an die Hand nehmen und beibringen, wie man ein Land zu atemberaubenden Erfolgen führt.
Wie aber ist umgekehrt die Einstellung der Chinesen zu Russland und seinen Einwohnern? Man könnte es nicht verübeln, wenn angesichts der Erfolge Chinas etwas Arroganz und Überheblichkeit mitschwingen würde. Eine im März dieses Jahres durchgeführte soziologische Untersuchung eines tschechischen Forscherteams offenbarte da Überraschendes:
- 82 Prozent der Chinesen glauben, dass Russland einen starken Einfluss auf China hat, 79 Prozent halten diesen für positiv.
- 79 Prozent der Chinesen sagen, dass sich ihre Haltung gegenüber Russland in den letzten 3 Jahren noch weiter verbessert hat. Dagegen bekunden 59 Prozent, dass sich ihre Einstellung gegenüber den USA im gleichen Zeitraum verschlechtert hat.
- 79 Prozent der Einwohner des "Reiches der Mitte" halten Russland für einen wichtigen Partner für die eigene wirtschaftliche Entwicklung.
- 74 Prozent der Chinesen befürworten die Freundschaft ihres Landes mit Russland, während 61 Prozent eine härtere Politik gegenüber den USA befürworten.
- 71 Prozent halten Russland für das attraktivste Land der Welt in Bezug auf die Kultur.
- 58 Prozent halten Russland für das begehrteste Land für Touristenbesuche.
- 52 Prozent halten Russland für das beliebteste Land für die Hochschulbildung.
Wäre Russland eine Frau und China ein Mann, müsste man feststellen, dass China in Russland verknallt ist. Und das Liebesobjekt durch die für eine frische Liebe notorische rosarote Brille sieht. Die letzten drei Zahlen zeugen jedenfalls kaum von einem realistischen Blick der Chinesen auf Russland heute.
Der chinesische Bräutigam ist reich und stark und er liebt die Braut. Eine bessere Partie wird Russland nicht finden. Das einzige, das einer glücklichen Ehe noch im Wege steht, sind Teile der russischen Eliten, die irgendwann in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts den Entschluss gefasst haben, Russland zu einem Teil Europas, zu einem Teil des "kollektiven Westens" zu machen. Dass dieser Plan spätestens jetzt krachend gescheitert ist, sehen noch lange nicht alle ein. Selbst nachdem Europa alle Türen zuschlug und bei der Gelegenheit alle russischen Konten leerräumte, hoffen einige noch auf Versöhnung und gute Beziehungen in der Zukunft.
Doch die wird es nicht geben: Niemals wird sich der kollektive Westen auf gleichberechtigte Beziehungen mit Russland einlassen. Von einer russisch-europäischen Liebeshochzeit ganz zu schweigen.
Verlässt man die Metapherebene und wendet sich der Ernsthaftigkeit der Geopolitik zu, so ist den Worten des russischen Militärexperten Boris Roshin zur Bedeutung guter russisch-chinesischer Beziehungen nichts weiter hinzuzufügen:
"Natürlich werden die USA ernsthafte Anstrengungen unternehmen, um Keile in die Partnerschaft zwischen Russland und China zu treiben, die für beide Länder von entscheidender Bedeutung ist - einzeln sind sie schwächer als die US-Koalition, aber wenn sie gemeinsam handeln, wird der globale Kampf um die künftige Weltordnung ganz anders aussehen, und das ist kein Zufall, Ein Teil des US-Establishments befürwortete einen Deal mit Russland als dem wirtschaftlich schwächsten Mitglied des globalen Trios und spielte das gleiche Spiel, das Nixon in den 1970er Jahren mit China gegen die UdSSR spielte, nur dass Russland jetzt gegen China im Austausch für eine Normalisierung der Beziehungen und die Anerkennung seiner Einflusssphären vorgehen sollte. Sowohl in den USA als auch in Russland gab es Gruppen, denen es nichts ausmachte, ein solches Szenario durchzuspielen, aber die starrköpfige Haltung der Demokratischen Partei in den USA machte all diese Bemühungen zunichte und trieb Russland und China aufeinander zu."
Der zitierte Bericht der tschechischen Forscher beruht auf einer groß angelegten Online-Umfrage zur öffentlichen Meinung in der Volksrepublik China, die zwischen dem 9. März und dem 23. März 2022 durchgeführt wurde. Es wurden insgesamt 3.039 Personen befragt, die für die chinesische Bevölkerung in Bezug auf Geschlecht, Alter (18-65 Jahre) und Landesregion repräsentativ sind. Die Untersuchung war Teil eines umfassenderen Forschungsprojekts "Sinophone Borderlands - Interaction at the Edges", finanziert durch den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung
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