von Sachar Prilepin
Die Leute, die unseren Feind befehligen, sind durch und durch zynisch. Klar, auch auf unserer Seite kommt es vor, dass wir etwas verbergen, etwas verschweigen, etwas erst später einräumen. Doch für uns es gibt zwingende, ja unaussprechliche Grenzen jeder Manipulation. Alle wissen, welche Grenzen nicht überschritten werden dürfen.
Die gegnerische Seite kennt diese Grenzen kaum noch.
Das härteste und schmerzhafteste Beispiel dafür: die Gefallenen.
Zum ersten Mal sind wir in Cherson darauf gestoßen.
Bei dem Einmarsch der Russen hatten die ukrainischen Streitkräfte bis zu 500 Kämpfer in der Stadt zu beklagen – darunter einige Einheimische, aber auch zahlreiche Berufssoldaten aus anderen Regionen der Ukraine.
Man bot Kiew an, die sterblichen Überreste zu übergeben, aber Kiew ging nicht darauf ein.
Davon in Kenntnis gesetzt, zuckten unsere Leute mit den Schultern: Nun ja, die ersten Tage – ein Durcheinander, die Kiewer Dienste sind noch nicht organisiert. Man hat sie dann selbst bestattet.
Danach gab es Angriffe auf die Kasernen von Nikolajew und ernsthafte Kämpfe in den Außenbezirken der Stadt. Die Leichenhäuser in Nikolajew waren überfüllt.
Aus Nikolajew hörten wir: Es stellt sich heraus, dass Kiew seine Gefallenen nicht annehmen möchte und darum bittet, sie vor Ort zu begraben.
Es waren da Menschen – nun sind sie nicht mehr. Weshalb soll man sie hin und her transportieren.
Es kam noch heftiger.
Von der gesamten Front berichten Kriegsreporter, Kameraden, Mitstreiter tagtäglich die gleiche Botschaft: In neun von zehn Fällen will die andere Seite ihre Gefallenen nicht bergen. Wo sie starben, dort liegen sie nun. Der ukrainischen Seite werden gar Waffenstillstandsvereinbarungen angeboten: Holt sie nur ab. Aber nein, sie wollen sie nicht.
So liegen sie, bis unsere Leute sie bergen – egal wer es war, es waren Menschen, warum sie nach dem Tod dann so entwürdigen? Doch während unsere Jungs die Leichen einsammeln, kommt es auch vor, dass von der anderen Seite die Bergungsmannschaft unter Feuer gerät.
In Mariupol geben unsere Jungs gerade wieder das Signal an die andere Seite: Nehmt eure Toten mit, es sind viele hier. Als Antwort kommt keine Reaktion. Wozu auch? Fängt man an, sie überall in der Ukraine zu beerdigen, so werden sich die Menschen dort wohl Sorgen machen.
Wieder einmal bestatten wir sie.
Wir erörterten hier in Donezk mit unseren Sturmtruppen, welches Kampfmodell von der anderen Seite angewandt wird. Sowohl bei der Verteidigung als auch bei Gegenangriffen stellen sie Neulinge, Reservisten und den Volkssturm der Territorialverteidigung in die vordersten Reihen, während erfahrene "Veteranen der Antiterroroperation" immer, so oder so, hinter ihren Rücken stehen: Sie kontrollieren die Neulinge, leiten sie an und hindern sie, wenn nötig, an einer Flucht.
Zu Beginn war das sicherlich anders, doch die Anzahl der Veteranen ist endlich: Man beschloss sie zu schonen. Besonders geschont werden die Offiziere – denn es gibt immer weniger von ihnen.
Im Grunde genommen ist die Taktik zwar unmenschlich, aber rational: Ein Volkssturmist, der einen, zwei oder drei Tage Artilleriebeschuss überlebt, der gar einen Gegenangriff mitmacht, ist nach einer Woche an der Front - schlecht oder recht - bereits ein Kämpfer.
Dass es dabei mitunter zu grausamen Opfern kommt, ist für Kiew nicht von Belang.
Auch das entbehrt nicht einer Logik: Wären die neuen Rekruten in der zweiten Verteidigungslinie eingesetzt worden, müssten sie einen ganzen Monat lang lernen, wie man kämpft.
Deshalb werden sie sofort in das kochende Wasser geworfen. Bis zu 50 Prozent sind unwiderruflich verloren, bei 25 Prozent wird – wie man im Donbass sagt – unweigerlich "die Sicherung durchbrennen" (sie brauchen dann dringende psychologische Hilfe). Dafür werden die restlichen 25 Prozent, die abgebrüht und gehärtet, standhielten, bereit sein weiterzumachen.
Das politische Kiew stört auch nicht die Tatsache, dass im Falle erfahrener Soldaten an der vorderen Front die Verluste drastisch geringer ausgefallen wären (die alten Soldaten wissen, wie man sich eingräbt und wegkriecht, und sie haben im Allgemeinen viel mehr Verstand und vernünftige Disziplin). Die Kiewer brauchen Ergebnisse. Sie benötigen eine wütende, erfahrene und motivierte Armee.
Kiew hat noch ein enormes Mobilisierungspotential, noch jede Menge Leute in Reserve, Hunderttausende.
Sind Hunderte, Tausende getötet worden? Das macht doch nichts. Dafür gehen aus jeder an der Front aufgeriebenen Hundertschaft ein oder zwei Dutzend neue hervorragende Kämpfer und fünf zukünftige Offiziere hervor.
Voraussetzung erfolgreicher künftiger Mobilisierungen scheint für Kiew zu sein, dass die Unglücklichen, die den Crashkurs in den Schützengräben nicht überlebt haben, nicht in Särgen in die Westukraine zurückkehren. Denn sonst würde es zweifellos schwieriger sein, neue Hundertschaften zu rekrutieren.
Sind die Vorteile eines solchen Ansatzes nicht evident? Doch, ganz offensichtlich.
Gibt es auch Nachteile? Selbstverständlich gibt es welche.
Doch in Kiew ist man der festen Überzeugung, dass die Nachteile vorerst unbemerkt bleiben und der Krieg dann alles unter den Teppich kehren wird.
Es waren da mal welche – nun sind sie nicht mehr. Wen kümmert's? Irgendwo verschwunden.
Man sollte auch noch davon sprechen, dass von unserer Seite genau das Gegenteil getan wird. Ja, es gelingt nicht immer, aber in der Regel wird es angestrebt. Vorn ziehen die erfahrenen Einheiten, ihnen folgen die Reserven nach. Hat diese Taktik irgendwelche Nachteile? Die gibt es zweifellos.
Bisweilen sterben goldene Kader, die besten russischen Offiziere, erfahrene Miliz-Angehörige mit mehrjähriger Erfahrung, manchmal sogar mit der Erfahrung der gesamten acht Kriegsjahre im Donbass.
Doch jeder Verstorbene rettet durch seinen eigenen Tod mehrere Reservisten, die nicht gleich am ersten Tag, in der ersten Woche in die Schlacht geworfen werden mussten.
Und selbstverständlich wird versucht, alle Gefallenen zu finden, zu bergen und alles Unvermeidliche ordnungsgemäß abzuwickeln – auch um sie zu ehren und ihrer zu gedenken.
Hier so, dort drüben anders.
Übersetzt aus dem Russischen
Sachar Prilepin ist Schriftsteller und war als Freiwilliger im Donbass aktiv
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