Ein Kommentar von Jewgeni Norin
Der Tag des Sieges gilt, 77 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, in Russland als wichtigster Feiertag des Landes. Für die Russen ist der Tag des Sieges buchstäblich eine Feier des Sieges über den Tod – ein Sieg, an dem alle beteiligt waren. Fast jede Familie in Russland und den ehemaligen Sowjetrepubliken, hat ihre eigenen Geschichten darüber, was ihre Vorfahren während des Krieges getan haben und was ihnen widerfahren ist.
Jewgeni Dering war ein Tierarzt, der Pferde behandelte. Er lebte in Sankt Petersburg, das damals Leningrad hieß. Am 22. Juni 1941 zog er in den Krieg. Bevor er ging, bat er seine Frau Regina, ihre Kinder – zwei Töchter und einen gerade im April geborenen Sohn – mitzunehmen und in die Tiefen Russlands aufzubrechen. Wie sich herausstellte, rettete diese Bitte ihre Leben.
Einige Tage später brachte Regina ihre Kinder in das Dorf Makarewo im Gebiet Nischni Nowgorod (damals Gorki) und ließ sich in einem Kloster aus dem 15. Jahrhundert nieder, das als Zufluchtsort für Flüchtlinge wie sie eingerichtet worden war.
Mehr als 600.000 Leningrader starben während der großen Belagerung der Stadt an Hunger. Regina überlebte zusammen mit ihren Kindern, aber sie sah ihren Mann nie wieder. Im Oktober 1943 wurde Jewgeni Dering durch Artilleriebeschuss auf einem kleinen sumpfigen Brückenkopf am Dnjepr getötet.
Diese Geschichten sind sehr unterschiedlich, aber sie sind fast immer dramatisch und viele dieser Geschichten enden mit Vorfahren, die gefallen sind. Die Sowjetunion hat während des Zweiten Weltkrieges mehr als 27 Millionen Menschen verloren. Etwa 12 Millionen waren Soldaten und Offiziere, während der Rest Zivilisten waren, die entweder durch die Hand der Nazis oder an Hunger starben. Als Berlin eingenommen wurde und nachdem Adolf Hitler 1945 in seinem Bunker Selbstmord begangen hatte, war die UdSSR ein Land, in dem fast jeder um jemanden in der Familie trauerte. Eine Person, die "nur" Bekannte verloren hatte, galt als glücklich.
Die Nazis führten den Krieg mit äußerster Brutalität. Juden wurden nie verschont, aber auch auf die anderen wartete nichts Gutes. Ein Archiv der weißrussischen Regierung listet die Namen von 9.000 Dörfern auf, die während des Krieges von den Invasoren niedergebrannt wurden – und dies ist eine Zahl, die sich lediglich auf eine der Sowjetrepubliken bezieht.
In vielen der zerstörten Dörfer und Weiler, war die Zahl der Todesopfer oft gleich oder nahezu gleich hoch wie die Zahl der damaligen Einwohner. Die gebräuchlichste Vernichtungsmethode bestand darin, die Bevölkerung in eine Scheune zu treiben und diese anzuzünden. Menschen starben auch durch Artilleriebeschuss und an Hunger, oder wurden einfach rücksichtslos erschossen. Straftaten gegen die Zivilbevölkerung waren aufgrund einer von Hitler erlassenen Sonderverfügung von Verantwortlichkeit befreit. Kein rotes Kreuz bot während dieses Krieges Schutz. Krankenwagen und Lazarettschiffe wurden oft durch direkten Beschuss vernichtet. Auch das Alter der Opfer wurde nicht berücksichtigt – Kinder wurden genauso getötet wie Erwachsene.
Für Russen ist dieser große Krieg jedoch nicht nur eine Geschichte ungeheuerlicher Grausamkeiten. Er ist auch eine Legende von unglaublicher nationaler Einheit, in der ein einfacher Arbeiter und ein weltberühmter Komponist in einer freiwilligen Feuerwehr zusammenkamen; und ein junger Lebemann aus Moskau sein Brot mit einem Bergmann aus dem Donbass und einem asiatischen Wehrpflichtigen aus der kasachischen Steppe in einem Schützengraben teilte.
Es ist die Geschichte über die bemerkenswerte Fähigkeit, nicht aufzugeben, selbst wenn alle Umstände gegen einen zu sein scheinen und Widerstand zwecklos erscheint. Nach jeder verlorenen Schlacht analysierten die überlebenden Offiziere ihre Fehler und versuchten herauszufinden, was sie falsch gemacht hatten und wie man die Situation ändern könnte. Es ist eine Geschichte erstaunlicher Selbstaufopferung.
Und es ist eine Geschichte über militärischen Triumph. Das Dritte Reich war ein Todfeind. Die fünf Millionen starke Invasionsarmee drang bis zum Gebirge des Kaukasus vor und drohte, Moskau und Leningrad einzunehmen, wurde aber dennoch besiegt. Für Russen ist es die Geschichte darüber, wie Ströme von Blut vergossen wurden, sie aber die Armee, die kam, um sie zu töten, vollständig zerstörten, die feindliche Hauptstadt im Sturm eroberten; eine Geschichte darüber, wie der Diktator, der die Invasion befahl, Selbstmord beging und wie die erbeuteten Standarten der besiegten Armee vor den Mauern des Kremls auf den Boden geworfen wurden. Das russische Volk hat einen schrecklichen Preis bezahlt, aber sein Triumph war absolut.
In Russland hört man selten den Begriff "Zweiter Weltkrieg". Der damals formulierte Begriff "Großer Vaterländischer Krieg" wird noch heute verwendet. Dies ist kein Versuch, irgendwie zu ignorieren, was der Zweite Weltkrieg für andere war, sondern ein Wunsch zu betonen, dass er für die Russen bis heute ein besonderes Ereignis ist, das über einen bloßen bewaffneten Konflikt hinausging.
Für Russen ist dieser Krieg wahrlich ein Epos des Heldentums, einer Ilias Homers gleich, dessen Helden noch heute leben und unter uns wandeln. Sie sind jetzt zwar sehr alt und nur noch wenige, und doch sind einige noch bei uns. Der russische "Ajax" geht heute noch abends manchmal auf den Vorhof seines Hauses, seine Orden auf der Brust, um sich auf eine Bank zu setzen, während man den russischen "Diomedes" jeden Morgen mit seinem Hund spazieren sieht.
Die Erinnerung an den Krieg hat viele Aspekte des Lebens in Russland beeinflusst. Man kann es aus den persönlichen Geschichten heraushören, sie in der Kultur sehen und in der Politik spüren. Die Verbissenheit der russischen Regierung in Bezug auf die Sicherheit der Westgrenzen Russlands, ist eine Folge genau dieser Katastrophe im Zweiten Weltkrieg, als sich die Russen mit dem Rücken zur Wand wiederfanden und sich an den äußersten Rand zurückziehen mussten. Diese Erinnerung beeinflusst ernsthaft unsere Beziehungen zu unseren Nachbarn und es ist fast unmöglich diese auszulöschen.
Aber vielleicht ist das Wichtigste, was wir aus den Umwälzungen dieser Zeit gelernt haben, eine einfache Wahrheit: Wir können alle Schwierigkeiten ertragen, uns behaupten und unser Land, nach jeder neuen schicksalshaften Prüfung wieder neu aufbauen. Es ist nicht nur eine Erinnerung an einen Tanz des Todes, sondern auch eine Erinnerung an den Triumph des Lebens.
Gennadi, der Sohn von Jewgeni Dering, hat seinen Vater nie kennengelernt. Er kehrte nicht nach Leningrad zurück und verbrachte seine Kindheit und Jugend in Makarewo. Fünfzehn Jahre nach dem Krieg lernte er ein Mädchen namens Albina kennen, das er heiratete. Das sind meine Großeltern. Sie leben noch. Ihre Tochter ist meine Mutter. Historische Ereignisse sind uns oft heute noch überraschend nahe.
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Jewgeni Norin ist ein russischer Historiker mit Fokus auf Russlands Kriege und internationale Politik.