Der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij verkündete auf einer Pressekonferenz nach einem Treffen mit dem kanadischen Premier Justin Trudeau am 8. Mai, dass Mariupol noch nicht mit militärischen Mitteln "befreit" werden könne, da es der Ukraine an schweren Waffen fehle:
"Es ist unmöglich, die Blockade von Mariupol militärisch aufzuheben. Das ist heute unmöglich. Das sind nicht bloß Gedanken – das sind Schlussfolgerungen unserer Armeeführung."
Dabei scheint es Selenskij nicht so sehr um die Rückeroberung der ganzen Stadt zu gehen als vielmehr um die im Metallurgiekombinat Asowstal festsitzenden rechtsextremen Truppen des Bataillons Asow:
"Russland tauscht Militärs nur dann aus, wenn diese Militärs Gefangene sind – und zwar ebenfalls gegen Kriegsgefangene. So sieht die Lage aus. Dies ist die Antwort, die wir von der Russischen Föderation erhalten haben. Es gibt keine anderen Antworten."
Michail Podoljak, Berater des Chefs des ukrainischen Präsidialamtes, versicherte, Kiew tue alles, um die neonazistischen Milizen heil aus dem Werk herauszubringen:
"Jedes Gespräch, das der Präsident mit ausländischen Staatsoberhäuptern und internationalen Organisationen führt, beginnt und endet mit dem Wort 'Asowstal'. Wir berechnen alle möglichen Formeln und Formate, und wenn es in der Geschichte des internationalen Rechts keine solchen Formate gibt, schlagen wir neue vor."
Unterdessen erklärten die ukrainischen Behörden, dass sie den Abzug von "Verwundeten und Sanitätern" aus Asowstal vorbereiten.
Ilja Samoilenko, Leiter der Aufklärung von Asow, der im Metallurgiekombinat zusammen mit den Truppen des rechtsextremen Bataillons und dem stellvertretenden Kommandeur Swjatoslaw "Kalina" Palamar eingesperrt ist und zusammen mit dem Letztgenannten am 8. Mai eine Pressekonferenz per Video-Fernschaltung gab, sah dies eher kritisch: Das medizinische Personal, dessen Evakuierung aus Asowstal von den Behörden angekündigt worden war, sei zwar "erschöpft", gab er zu. Gleichzeitig wies Samoilenko darauf hin, dass die Truppen im Falle einer Evakuierung der Ärzte und Arzthelfer nur eingeschränkt medizinische Hilfe erhalten könnten.
Die Asow-Kämpfer selbst, fuhr er fort, könnten jedoch ihrerseits ebenfalls "nur evakuiert" werden, da sie "alle Mittel aufgewendet hätten, um sich wirksam zu verteidigen". Sich zu ergeben, sei für sie keine Option, sagte Samoilenko. Er zitierte die Geschichte eines Soldaten, der in einem Propagandavideo über sich ergebende Ukrainer lebendig gefilmt wurde, "und dann erhielt seine Mutter eine Nachricht über seinen Tod".
Risse zwischen dem wichtigsten Nazi-Bataillon und Kiew: "Planung und Organisation gescheitert"
Die Kommandeure von Asow beschuldigten die ukrainische Regierung unter anderem, nicht genug für ihre Befreiung zu tun.
Der Stellvertretende Kommandeur Palamar kritisierte die Regierung für deren neuerdings nur auf eine Evakuierung von Zivilisten vom Territorium des Metallurgiewerks konzentrierte Bemühungen:
"Was mir auf der Seele brennt: Während der Verhandlungen waren Äußerungen von einigen Politikern zu hören: 'Jungs, ihr sollt euren Belangen nachgehen und Zeit schinden, damit wir alle Zivilisten herausholen können.' Es ist schade, dass einige Politiker in der Ukraine kein Fingerspitzengefühl haben, sondern nur den Zynismus, dass dies nur eine erfolgreiche Operation zur Evakuierung von Zivilisten ist."
Er behauptete weiter, dass seine Einheit schon seit zwei Monaten auf die Evakuierung von Zivilisten aus Mariupol dränge, und erst, als Asow in Asowstal eingesperrt gewesen war, sei auch dem Bataillon Aufmerksamkeit zugekommen.
Der Vorwurf des Nazi-Bataillons an Kiew ist indes von viel größerer Tragweite. Aufklärungsoffizier Samoilenko trug deutlich dicker auf:
"Unsere Regierung hat es versäumt, Mariupol zu schützen und die Verteidigung von Mariupol vorzubereiten. Das Problem ist, dass viele Menschen uns Helden nennen, obwohl wir nur unsere Arbeit machen. Wir werden bewundert. Tatsache ist, dass Heldentum entsteht, wenn Planung und Organisation scheitern."
Er wies darauf hin, dass sich Asow auch aus Mariupol hätte zurückziehen können, doch es hatte den Befehl, die Stadt zu verteidigen. Gleichzeitig hatte Asow keinen Befehl, die Verteidigung von Mariupol vollständig zu übernehmen, sondern das Regiment beschloss, dies auf eigene Faust zu tun, da sich niemand traute, dies zu tun.
"Das Problem ist, dass viele Regierungsbeamte die Verteidigung der Ukraine in den letzten Jahren, ich würde sagen, in den letzten acht Jahren, sabotiert haben."
Er erklärte, auch die Kampfvorbereitungen von Asow seien "von Beamten, Bürokraten und der Regierung sabotiert worden":
"Jeder hat uns einfach daran gehindert, uns auf die Verteidigung vorzubereiten – denn wir wussten, dass ein großer Krieg mit Russland bevorstand. Wir wussten es, und wir waren bereit, zumindest, so weit wir es sein konnten: in der Ausbildung, bei der Beschaffung von Ausrüstung und Munition und wiederum in der Ausbildung, bei der Einführung neuer Standards."
Ihm zufolge musste das offiziell als Regiment geführte Bataillon seine eigenen Kontakte zu den westlichen Militärs knüpfen und von ihnen alle Informationen erhalten, an denen es interessiert war. Wegen des Vorwurfs des Neonazismus seien Asow jedoch keine westlichen Waffen zur Verfügung gestellt worden.
Auch die Ehefrau des Kommandeurs des Asow-Regiments Denis Prokopenko, bekannt unter seinem Rufnamen "Redis", Katerina Prokopenko, ging ebenfalls nach der Pressekonferenz mit den Kämpfern in Asowstal an die Öffentlichkeit. Sie bezeichnete die von den ukrainischen Behörden ergriffenen Maßnahmen als unzureichend und rief alle auf, sich um die Rettung ihres Mannes und seiner Kameraden zu bemühen.
Ein separates Hühnchen hat der Leiter der Bataillonsaufklärung mit Oberst Wladimir Baranjuk zu rupfen – er warf dem Kommandeur der 36. Marineinfanterie-Sonderbrigade der ukrainischen Streitkräfte Feigheit vor:
"Wir hatten die Wahl, davonzulaufen wie Feiglinge, die nur an sich selbst denken und die Pflicht vergessen. So erging es auch dem Kommandeur der 36. Marineinfanteriebrigade: Er weigerte sich, Befehle zu befolgen und versuchte, mit einer kleinen Gruppe auf gepanzerten Fahrzeugen aus der Stadt zu fliehen."
Auch der Kommandeur von Asow Denis Prokopenko stellte seinerseits in einem Interview mit der Ukrainskaja Prawda die These auf, dass das ukrainische Militär die Verteidigung am rechten Ufer von Mariupol lange hätte halten können, wenn nur der Kommandeur der 36. Marinebrigade sich nicht für einen Ausbruch aus dem Iljitsch-Werk entschieden hätte:
"Warum eine solche Entscheidung getroffen wurde, ist mir nicht bekannt."
Jedenfalls kam Baranjuk in russische Gefangenschaft – und schilderte, seinerseits von der Entscheidung sehr verwundert gewesen zu sein, als er und seine Marineinfanteriebrigade dem Asow-Bataillon unterstellt wurden – und er damit als dem Militär angehörig der Nationalgarde und daher dem Innenministerium unterstellt wurde. Der Oberst betonte:
"Meist ist dies andersherum."
Baranjuk stimmt in einer Sache mit den Asow-Neofaschisten überein: Auch er wirft dem hohen Militärkommando und der Regierung in Kiew vor, dem Kontingent der regimetreuen Truppen in Mariupol keine Hilfe gewährt zu haben. Mit dem Fehlen dieser Hilfe – und implizit mit der Absicht, seine Soldaten zu retten – erklärte er seinen Ausbruchsversuch:
"Aus Kiew hieß es: durchhalten. Durchhalten … Na ja, uns wurde auch etwas anderes gesagt. Dass Einheiten zur Brechung der Blockade unterwegs sind, 'bald sind sie bei euch' … Na ja, also haben sie uns angelogen mit dem Versprechen bestimmter Hilfe. Dementsprechende Hilfe blieb aus. Das bewog uns denn auch zum Ausbruch unseren eigenen Einheiten entgegen."
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