Rede zum 8. Mai: Bundeskanzler Scholz instrumentalisiert das Vermächtnis

Die Ansprache des Bundeskanzlers Olaf Scholz am 8. Mai fiel weniger dramatisch aus, als sie sich ankündigte. Im Kern war es ein Versuch, einen historischen Gedenktag für tagespolitische Anliegen zu instrumentalisieren.

Kommentar von Anton Gentzen

Ungewöhnlich, eine Ansprache eines Bundeskanzlers an einem 8. Mai – diese Art von Reden war bislang Bundespräsidenten vorbehalten. Unvergessen und ein Glanzpunkt, die Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985, als 40 Jahre nach der Beendigung des deutschen Hitlerfaschismus ein deutscher Staatschef die Leistung der Alliierten der Anti-Hitler-Koalition erstmals als Befreiung auch des deutschen Volkes würdigte. 

Das Anliegen von Olaf Scholz, eine Rede am 77. Jahrestag des Sieges über den Hitlerfaschismus zu halten, war hingegen ein anderes, pragmatisches und dies wird dem Zuhörer schnell klar. Es geht darum, das Agieren der Bundesregierung in dem aktuellen russisch-ukrainischen Konflikt aufseiten einer der Kriegsparteien gegen Kritiker zu verteidigen. Zum einen gegen diejenigen, die die Tatsache, dass deutsche Waffen erstmals nach jenem 9. Mai 1945 wieder russische Soldaten töten, als einen unerträglichen Bruch mit deutschen Nachkriegstugenden betrachten, aber auch gegen diejenigen, denen die Hilfe für die Ukraine nicht weit genug geht. Letzteren verspricht der Bundeskanzler die Fortsetzung des deutschen Engagements:

"Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik sind Waffen in ein Kriegsgebiet geschickt worden. Und immer sorgfältig abwägend auch schweres Gerät. Das setzen wir fort."

Ersteren versucht er das antifaschistische und antimilitaristische Vermächtnis des 8. Mai 1945 zu entreißen und in den Dienst seiner Tagespolitik zu stellen. Dazu deutet der Kanzler das antifaschistische "Nie wieder!" aus einem Wiederholungsverbot für Deutschland in eine deutsche Handlungspflicht, eine Garantenstellung zugunsten der Ukraine um. Wörtlich: "Die Unterstützung für die Ukraine in einer Fernsehansprache ist ein "Vermächtnis" des 8. Mai." In der gegenwärtigen Lage könne dies, so Scholz, "nur" bedeuten:

"Wir verteidigen Recht und Freiheit – an der Seite der Angegriffenen. Wir unterstützen die Ukraine im Kampf gegen den Aggressor. (...) Putin wird den Krieg nicht gewinnen. Die Ukraine wird bestehen. Freiheit und Sicherheit werden siegen, so wie sie vor 77 Jahren über Unfreiheit, Gewalt und Diktatur triumphiert hätten."

Dreimal wiederholt der Kanzler das "Nie wieder!": "Nie wieder Krieg. Nie wieder Völkermord. Nie wieder Gewaltherrschaft." Für diese Sätze kann Olaf Scholz die Urheberschaft beanspruchen. Was ihm hingegen in der ganzen Rede nicht über die Lippen kommt, ist das Original: "Nie wieder Faschismus!" Kann der frühere Jungsozialist diesen ursprünglichen Wortlaut jenes antifaschistischen Schwurs vergessen haben? Oder ist ihm nur allzu bewusst, dass Deutschland dieses originale "Nie wieder" auf dem geopolitischen Schlachtfeld der Ukraine schon längst, mitten in dem scheinbar friedlichen Jahr 2013 aufgegeben hat? Dass seitdem so manches Volk erblichen ist vor der Räuberin, die Deutschland sich einst vornahm, nie mehr zu werden?  

Eine Grenze setzt sich der Bundeskanzler in der Unterstützung der Ukraine: Man werde nichts tun, was Deutschland und die NATO zur Kriegspartei werden lasse, verspricht er. Ob es am Ende des Tages dann tatsächlich auf die Auslegung des Bundeskanzlers ankommen wird, auf die Gutachten der juristischen Dienste der Ministerien und des Bundestages? Oder wird es Russland sein, das entscheidet, wo es die "roten Linien" überschritten sieht? In Russland mehren sich die Stimmen, die die NATO und auch Deutschland bereits als Kriegsparteien betrachten. Nach der heutigen Rede des Olaf Scholz werden sie weder verstummen, noch leiser werden.

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