Kann ein Jude etwas mit Nazismus zu tun haben? Warum Selenskijs Herkunft keine Ausrede sein darf

In der Ukraine stehen jüdisch sein und Nazismus in keinem Widerspruch zueinander. Es ist daher unverständlich, warum die Äußerungen des russischen Außenministers über die jüdische Herkunft von Wladimir Selenskij in Israel solch eine Welle der Entrüstung verursacht haben.

Von Sergei Strokan

Die andauernde Sonderoperation Russlands in der Ukraine, deren Hauptziel die Entnazifizierung des Landes ist, hat in Israel, dem jüdischen Staat, dessen Gründung am 14. Mai 1948 die Vernichtung von Millionen von Juden durch die Nazis während des Holocaust vorausging, ein unerwartetes Echo gefunden.

Die Beziehungen Israels zu Russland, die im Laufe der Jahre trotz der unterschiedlichen Herangehensweise an eine Reihe sensibler internationaler Sicherheitsfragen (palästinensisch-israelischer Konflikt, Iran, Syrien) besonders vertrauensvoll und solide waren, sind in die Brüche gegangen. 

Die aufeinanderfolgenden israelischen Ministerpräsidenten haben verstanden, wie wichtig es ist, trotz der Allianz des Landes mit den USA eine dynamische Beziehung zu Russland  aufrechtzuerhalten. 

Moskau seinerseits hat die Beziehungen zu Israel, einem wichtigen Akteur in der Nahostregion, stets hochgeschätzt und betrachtet diese Beziehungen angesichts der Tausenden von Fäden, die die beiden Länder und Völker miteinander verbinden, als etwas ganz Besonderes.

Russlands enge Beziehungen zum Iran, einem existenziellen Feind des jüdischen Staates, und seine langjährigen Kontakte zur Hamas und zur Hisbollah, die in Israel zu terroristischen Gruppen erklärt wurden, konnten die russisch-israelische Zusammenarbeit nicht überschatten.

Erst im vergangenen Dezember, im Jubiläumsjahr Russlands und Israels, in dem sich die Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zum 30. Mal jährte, gestand der israelische Außenminister Yair Lapid in einem Interview für die Zeitung Kommersant: "Die Verbindungen zwischen dem jüdischen Volk und dem russischen Volk reichen Jahrhunderte zurück. Juden leben seit Jahrhunderten in Russland. Das Russische Reich war die Wiege des modernen Zionismus, und die Juden haben die russische Kultur beeinflusst und wurden gleichzeitig von ihr beeinflusst. Und natürlich waren das jüdische und das russische Volk während des Zweiten Weltkriegs im historischen Kampf um das Schicksal der Menschheit vereint."

Und so kam es im Mai 2022 nach einem so wolkenlosen Jubiläumsjahr zu einer Trübung in den Beziehungen zwischen den beiden Ländern.

Ausgangspunkt war ein Interview des russischen Außenministers Sergei Lawrow mit dem italienischen Sender Mediaset, in dem er seine Einschätzung zur Ausbreitung des Nazismus in der Ukraine gab und daran erinnerte, dass der Neonazismus unter dem amtierenden Präsidenten Wladimir Selenskij, einem Juden, eine Blütezeit erlebt hätte.

Die Hauptthese von Sergei Lawrow lautete, dass die bloße Tatsache, dass der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij dem jüdischen Volk angehöre, nicht bedeute, dass die Welt die Augen vor den Verbrechen verschließen sollte, die in der Ukraine von den Aidar- und anderen Freiwilligenbataillonen begangen werden, deren Ideologie im 21. Jahrhundert zum Nazismus geworden ist.

"Ich könnte mich irren, aber Hitler hatte auch jüdisches Blut. Das bedeutet absolut nichts. Kluge Juden sagen, dass die bösartigsten Antisemiten in der Regel Juden sind. Wie wir in unserem Land sagen, in jeder Familie gibt es ein schwarzes Schaf", sagte Sergei Lawrow. 

Unterdessen löste seine Erklärung in Israel ein gewaltiges diplomatisches Erdbeben aus. Der russische Botschafter Anatolij Wiktorow wurde in das Außenministerium des Landes einbestellt. Der israelische Außenminister Yair Lapid, der kürzlich darüber spekuliert hatte, wie wichtig die Beziehungen zu Russland für sein Land seien und wie sehr er sich persönlich auf ein Treffen mit Sergei Lawrow freue, kommentierte seinen russischen Amtskollegen:

"Das sind unentschuldbare und skandalöse Äußerungen, ein schrecklicher historischer Fehler und wir erwarten eine Entschuldigung".

"Wir bemühen uns, gute Beziehungen zu Russland aufrechtzuerhalten, aber es gibt eine Grenze, und diese Grenze wurde dieses Mal überschritten. Die russische Regierung schuldet uns und dem jüdischen Volk eine Entschuldigung. Hitler war kein gebürtiger Jude, und die Juden haben sich im Holocaust nicht selbst umgebracht. Die niederste Form des Rassismus gegenüber den Juden ist es, die Juden selbst des Antisemitismus zu bezichtigen", ärgerte sich der israelische Minister.

Auch der israelische Ministerpräsident Naftali Bennett äußerte sich nachdrücklich über die Unzulässigkeit, den Holocaust "als Instrument für politische Angriffe" zu verwenden. 

Aber was könnte Sergei Lawrow in seinem Interview gesagt haben, das so schrecklich und so beleidigend war? 

Lassen wir die Emotionen beiseite und schauen wir uns noch einmal die Originalquelle an.

Zunächst einmal hat Sergei Lawrow das Wort "Holocaust" überhaupt nicht benutzt und von der modernen Ukraine gesprochen. Unverständlich ist auch die Interpretation der Worte Lawrows, der mutmaßte, dass Hitler jüdisches Blut gehabt haben könnte. Ob Hitler jüdische Vorfahren hatte oder nicht, ist und bleibt eines der Rätsel der Geschichte. Drittens ist auch die Reaktion auf die Äußerung von Sergei Lawrow, dass es unter den Juden glühende Antisemiten gebe, schwer zu verstehen.

Wer kennt das nicht – es ist eine Feststellung des Offensichtlichen!

In dem Artikel "Juden-Antisemiten" schreibt der Forscher Lew Madorsky über die Haltung von Juden-Antisemiten gegenüber Juden: "Seltsamerweise ist dieses unverständliche und sogar mysteriöse Phänomen, dass ein Mensch seinesgleichen hasst, mit anderen Worten, sich selbst hasst, gar nicht so selten."

Der wichtigste antisemitische Jude der Weltgeschichte war Karl Marx, Enkel zweier Rabbiner, der sich in seinem Artikel "Zur Judenfrage" und seinem Brief an Engels so über die Juden äußerte, dass es besser ist, den Klassiker des Marxismus an dieser Stelle nicht zu zitieren – schließlich und vor allem in Bezug auf die Ukraine.

Das Interview von Sergei Lawrow sollte nicht die endlose historische Debatte fortsetzen, sondern vielmehr eine harte und wenig schmeichelhafte Analyse darüber liefern, wie es dazu kam, dass die Ukraine unter dem jüdischen Präsidenten Selenskij, der gelernt hatte, seine Herkunft für Manipulationen zu nutzen, schließlich zur wichtigsten europäischen und weltweiten Brutstätte des Neonazismus wurde.

"Geschichte ist nicht die Vergangenheit in der Vergangenheit, sondern die Vergangenheit in der Gegenwart", sagte der amerikanisch-britische Dichter Thomas Stearns Eliot, der im Gründungsjahr des Staates Israel den Nobelpreis für Literatur erhielt. Als Reaktion auf jenen unerklärlichen Sturm der Entrüstung, die Sergei Lawrows Worte in Israel auslösten, wies das russische Außenministerium auf die "Vergangenheit in der Gegenwart" hin, um Eliots Definition zu folgen – und zwar auf Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, die Licht auf die Entstehung des heutigen ukrainischen Nazismus wirft.

"In Polen und anderen osteuropäischen Ländern ernannten die Deutschen jüdische Industrielle zu Oberhäuptern von Ghettos und Judenräten, von denen einige durch absolut ungeheuerliche Taten in Erinnerung geblieben sind. (...) Die historische Tragödie besteht darin, dass während sich einige Juden an den Verbrechen des Zweiten Weltkriegs widerwillig beteiligt haben, macht das Wladimir Selenskij ganz freiwillig und ganz bewusst, wobei er jüdische Wurzeln für diese Zwecke missbraucht. Er treibt seine eigene Herkunft vor sich her und deckt damit echte Neonazis, die geistigen und blutigen Erben der Henker seines Volkes", heißt es in einer Erklärung des russischen Außenamtes.

Allerdings geht es nicht nur um die Person Wladimir Selenskij.

Auf dem Höhepunkt dieses unerklärlichen Skandals ist es an der Zeit, daran zu erinnern, dass Igor Kolomoiski, ein ukrainischer Milliardär und Präsident der Vereinigten Jüdischen Gemeinde der Ukraine (UJCU), der auch einen israelischen Pass besitzt, eine nicht unerhebliche Rolle für das Schicksal und die politische Karriere von Wladimir Selenskij spielte.

Als im Jahr 2018 beschlossen wurde, dass sein Protegé Wladimir Selenskij für das Amt des Präsidenten kandidieren würde, zeigte er, was sprühenden jüdischen Humor ausmacht. Auf die Frage eines Journalisten, warum ein Komiker für das Amt des ukrainischen Präsidenten kandidiere, antwortete Igor Kolomoiski: "Warum soll ein Clown schlimmer als ein Konditor sein?" (Wladimir Selenskijs Vorgänger im Amt des Präsidenten, Petro Poroschenko, ist der Besitzer eines großen Süßwarenunternehmens. – Anmerkung der Redaktion)

Es war ausgerechnet Kolomoiski, der die neonazistischen Freiwilligenbataillone mitgründete und finanzierte, die im Frühjahr 2014, als der Krieg im Donbass gerade begann, traurige Bekanntheit erlangten. Igor Kolomoiski behauptet zwar, ein religiöser Mensch zu sein, ein Chassid, der alle Regeln des jüdischen Sabbats streng befolge, betrachtet sich dabei gleichzeitig als glühender politischer Ukrainer.

Übrigens ist er damit nicht allein.

Hier ist ein Bekenntnis von Shmuel Kamenetsky, dem Vorstandsvorsitzenden des UJCU und Rabbiner von Dnjepr, dem größten jüdischen Gemeindezentrum Osteuropas, das in der Debatte um die Frage, ob Sergei Lawrow mit seinen Einschätzungen jemanden tödlich beleidigt haben könnte, das Tüpfelchen auf dem i darstellte.

"Echte jüdische Identität und ukrainischer Nationalismus überschneiden sich nicht nur, sondern ergänzen sich auch", sagte Shmuel Kamenetsky einmal.

Und in dieser Situation, in der es um die heutige Ukraine ging und Israel durch die Worte von Sergei Lawrow Israel tödlich beleidigt wurde, begann man, sich an die Geschichte des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust zu erinnern mit dem Argument, dass es in der Ukraine keinen Nazismus geben könne, weil das Land angeblich von einem jüdischen Präsidenten geführt werde! Also hat man aus irgendeinem Grund die Augen vor den Verbrechen der mit dem Geld eines jüdischen Oligarchen, "politischen Ukrainers" und ehemaligen Mentors des amtierenden "Clown-Präsidenten" bewaffneten Nazibataillone verschlossen.  

Die Frage ist, warum. Sticht die Wahrheit in die Augen?

Es stellt sich viel eher heraus, dass es Israel selbst ist, das sich plötzlich für uns alle, seine Freunde in Russland, in eine Geschichte verwickeln ließ.

Übersetzung aus dem Russischen.

Sergei Strokan ist Journalist und Kolumnist des Kommersant-Verlags.

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