Friedrich Merz in Kiew: Erschütternd, doch gut für die Bilanz

Friedrich Merz, Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU, besuchte Kiew und traf Wladimir Selenskij. Eigentlich ein Protokollverstoß. Und nicht einmal wirklich propagandatauglich. Aber solche Besuche sind ohnehin mittlerweile nur noch US-amerikanische Selbstgespräche.

von Dagmar Henn

Wenn die Welt noch normal wäre, dann hätte es keine Reise eines Friedrich Merz nach Kiew gegeben. Zumindest nicht, solange Andrei Melnyk Botschafter in Berlin ist. Da selbst ein Oppositionsführer kein Land besuchen würde, dessen Vertreter gerade das Staatsoberhaupt brüskiert hat. Aber wenn die Welt noch normal wäre, gäbe es auch diesen Zustand in der Ukraine nicht.

Immerhin, Merz, die wandelnde BlackRock-Bilanz, ist zumindest nicht geeignet, weitere Emotionen für die Kriegspropaganda zu liefern. Nicht nur, weil man selbst für die Vortäuschung von Erschütterung angesichts zerschossener Häuser etwas jünger sein muss, als Merz es ist. Er ist 66; er dürfte noch genug solche Häuser in Deutschland gesehen haben. Selbst ich erinnere mich aus meiner Kindheit noch an halbe Gebäude mit Tapetenresten und an die Schrapnelllöcher in den Fassaden an der Leopoldstraße, die erst zur Olympiade 1972 verschwanden. Nein, schon allein deshalb, weil Friedrich Merz und Emotion zwei Dinge sind, die man nur schwer miteinander verbinden kann. Merz rechnet.

Und Oppositionsführer kann er auch nicht sein, da es in Deutschland so etwas im Grunde nicht mehr gibt, eigentlich schon seit Corona, endgültig aber, seit sie alle ihre "Solidarität mit der Ukraine" entdeckt haben; ob mit mehr oder mit weniger Waffen, ist da im Grunde gleichgültig. Wobei natürlich nichts daran solidarisch ist, human schon zweimal nicht, denn das Ziel des Westens ist ja ein möglichst langer und blutiger Krieg, was auch gegenüber dem ukrainischen Kanonenfutter nicht gerade nett ist. Das wird Tag für Tag hundertfach verheizt, völlig sinnlos. Aber BlackRock, das bei Friedrich Merz da sitzt, wo bei anderen das Herz ist, hat natürlich ein fundamentales Interesse am Erhalt der ukrainischen Schlachtbank, weil in letzter Konsequenz eine Niederlage des Westens auf globaler Ebene all das schöne Geld, mit dem BlackRock spielt, in wertlose Zettel (oder Daten) verwandeln würde.

Also pilgert Merz nach Kiew und zeigt sich schon auf dem Weg dorthin ganz heroisch im Schlafwagen; wobei er sicher zuvor überprüfen ließ, ob eine Erbse unter der Matratze liegt. Er macht in Kiew hübsche Videos, flankiert von den beiden Klitschkos, die sich auch ein Nazibataillon halten. Sie sehen aus wie seine Bodyguards.

Natürlich liefert er die üblichen Phrasen: "Ich bin wirklich vollkommen erschüttert hier gewesen, bin es immer noch, diese Bilder gehen einem nicht mehr aus dem Kopf." Nun, er könnte sie mit den Bildern aus Odessa oder den Aufnahmen aus Lugansk vom 2. Juni 2014 problemlos löschen. Es gibt auch eine ganze Reihe Telegram-Kanäle, auf denen man genauer betrachten kann, wie das ukrainische Kanonenfutter aussieht, nachdem es für BlackRock ins Feuer gejagt wurde. Aber das wäre bei Merz verfehlt. Er sagt solche Sätze, weil sie auf dem Programm stehen. In Wirklichkeit wäre für Merz nur eines erschütternd – ein Krieg, der schlecht fürs Geschäft ist.

Und Solidarität hin, Leberwurst her, der Unterschied zwischen Scholz und Merz liegt an genau diesem Punkt, beim Geschäft (übrigens ein Wort, das auf dem Umweg über das Jiddische als Lehnwort ins Russische gelangt ist). Scholz, der Sozialdemokrat, hat einen etwas engeren Kontakt mit den Vertretern der Industrie, also jener Teile des Kapitals, die noch reale Dinge produzieren und eine Abschaltung mangels Energie nicht ganz so erbaulich finden, und vielleicht sogar noch ein wenig zumindest zu Gewerkschaftsfunktionären, die das ähnlich sehen. Merz steht für das Geld, das Geld heckt, für diese ganze Blasenwelt aus geistigem Eigentum, Markenrechten und Finanzspekulation, und die simple Frage, ob Lieschen Müller eine warme Bude und genug Essen auf dem Tisch hat, lag ihm immer schon fern.

Selbstverständlich versteht er sich gut mit Selenskij. Der hat die Gelegenheit genutzt, um Scholz weiter zu brüskieren, indem er "spontan" den "Oppositionsführer" empfangen hat, und die zwei dürften sich bestens verstanden haben; schließlich ist die Ukraine auch für Selenskij vor allem Geschäft, das ihm bereits einige hundert Millionen eingebracht haben soll. Dass für die Fortsetzung dieses Geschäfts täglich hunderte Menschen seines Landes sterben – nun, man muss eben Prioritäten setzen.

"Völlig sinnlose Zerstörung," sagt Merz im Interview mit dem ZDF über seinen Besuch in einem Kiewer Vorort. Das ist vermutlich der entscheidende Unterschied. Die Zerstörung des Iraks oder Libyens war gut für die Bilanz, eine Zerstörung Russlands wäre es auch, aber die der Ukraine ist sinnlos. Oder habe ich da wieder etwas missverstanden? Entschuldigung, aber das, was jetzt als so furchtbar beklagt wird, gibt es im Donbass seit acht Jahren. Krieg sieht nun einmal so aus, das weiß Merz auch; das Adjektiv "sinnlos" wirft aber sofort die Frage nach der "sinnvollen" Zerstörung auf, da kann ich nichts dafür, das ist so. Jedenfalls muss ich wohl davon ausgehen, dass die Zerstörung, die durch die gelieferten oder noch zu liefernden deutschen Waffen für die Ukraine angerichtet wird, bei ihm das Etikett "sinnvoll" erhält. Denn hielte man solche Zerstörungen an sich, grundsätzlich für sinnlos, wären Waffenlieferungen die falsche Konsequenz.

BlackRock hat übrigens am 10. März seinen Anteil an Rheinmetall von 4,99 auf 5,28 Prozent erhöht. Das klingt nicht nach viel, aber diese 0,29 Prozent stehen für 60 Millionen Euro; und Rheinmetall wird ganz zufällig deshalb interessanter, weil es einer der größten deutschen Rüstungsproduzenten ist. Wie gesagt, wer Merz verstehen will, muss auf Zahlen blicken. Und Selenskij sollte sich noch einige Zeit halten können, das ist gut fürs Geschäft.

Die ganze Nummer bewirkte etwas gespaltene Reaktionen. Weil eben der Besuch eines "Oppositionsführers" in der Situation, die nach der Ausladung von Steinmeier entstanden ist, ein ernsthafter Bruch des Protokolls ist, das vorsieht, dass Oppositionsvertreter ein Land erst nach dem Regierungschef besuchen dürfen. Aber es ist schon so vieles egal gerade in einer Zeit, in der erst das Völkerrecht durch eine "regelbasierte Weltordnung" ersetzt und dann sowjetische Fahnen an sowjetischen Ehrenmälern verboten und durch jene ersetzt werden, unter denen ukrainische Nazis marschieren; da sollte man in solchen Dingen nicht kleinlich sein.

Die Welt beispielsweise bringt es selbst im Zusammenhang mit der Person Merz fertig, tief in die Pathoskiste zu greifen: "Das Treffen des ukrainischen Präsidenten mit dem deutschen Oppositionsführer mögen protokollarische Erbsenzähler als neuen Affront geißeln oder auch nicht. Angesichts des historischen Moments, an dem Deutschland und Europa derzeit stehen, aber sollten die Deutschen Friedrich Merz vor allem dankbar sein." Die Süddeutsche hingegen, die ansonsten eisern in Treue zur Ukraine steht, findet Merz eher seltsam: "Friedrich Merz hingegen möchte ein Staatsmann sein, auch wenn er durch eine aus seiner Sicht unglückliche Fügung nur als Oppositionsführer und nicht als Kanzler ins Kriegsgebiet fahren kann."

Auch Marie-Agnes Strack-Zimmermann, die so gern Lambrecht als Kriegsministerin beerben würde, findet, der Besuch habe einen gewissen Hautgout. "Ich glaube, es ist sehr wichtig, in dieser Phase des Krieges jetzt keine parteipolitischen Spielchen zu machen."

Der EVP-Sprecher Manfred Weber, ein wahrer Kriegstreiber vor dem Herrn, dessen Hauptbeschäftigung gerade darin besteht, uns auch noch das russische Öl und den Beschäftigten der Schwedter Raffinerie den Arbeitsplatz zu nehmen, meint, Scholz solle "deswegen jetzt auch mal runterschlucken, wenn einmal eine Entscheidung gefällt worden ist, von der ja auch eingeräumt worden ist, dass sie nicht perfekt war, und Solidarität zeigen".

Runterschlucken, einstecken und bei Bedarf kriechen, das kann diese Bundesregierung eigentlich ziemlich gut; überhaupt sind das wohl die zur Zeit gefragtesten deutschen Sekundärtugenden. Denn faktisch, das wissen alle Beteiligten, ist es völlig egal, wer wann aus der bundesdeutschen Politik nach Kiew reist, weil keines dieser Gespräche irgendeine Bedeutung hat. Schließlich hat diese ehrenwerte Berliner Riege dafür gesorgt, dass im Interesse Washingtons in Deutschland die Lichter ausgehen, und ist auch ansonsten dienstbar bis weit über die Schmerzgrenze. Ein Gespräch mit Selenskij wäre also ein Selbstgespräch des kollektiven Biden mit verteilten Rollen. Der Schauspieler Selenskij ist da sicher in der Lage, selbst das noch mit ein wenig dramatischer Spannung zu versehen; das ändert aber nichts an der völligen Belanglosigkeit dieser Situation.

Aber das macht nichts; in den kommenden kalten Winterabenden können die arbeitslosen Deutschen sich dann Küchentücher im Kreuzstich mit "Freiheit und Demokratie" verzieren; dann können sie das, wofür in der Ukraine angeblich gekämpft werden soll, wenigstens gerahmt an die Wand hängen. Zeit genug dafür haben sie ja. Und vielleicht spendet das den Trost, den sie dann dringend brauchen werden. Außer, sie besitzen Rheinmetall-Aktien.

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