Von Elem Raznochintsky
Jeffrey Sachs, eine der grauen Eminenzen neoliberaler Wirtschaftspolitik seit über drei Jahrzehnten, meldete sich letztens bei CNN zu Wort.
In seinem am 21. April 2022 veröffentlichten Meinungsartikel hat Sachs eine im Verhältnis zum derzeit wütenden Medienwahn, ausgewogene Analyse zur friedlichen Beilegung des Konfliktes zwischen der NATO und Russland vorgeschlagen. Natürlich verspätet um mindestens ein Vierteljahr. Er erinnert den Leser sogar daran, dass Moskau detaillierte Sicherheitsanforderungen – noch vor Beginn der militärischen Sonderoperation in der Ukraine – direkt an Washington gesendet hatte. Darin war gefordert worden, auf eine weitere NATO-Ausdehnung zu verzichten und die bisherige sogar zurückzufahren. Der Experte nennt die kategorische Ablehnung dieser russischen Forderungen durch die US-Führung beim Namen. Ohne sich an dem militärisch-industriellen Komplex der USA direkt zu reiben, erklärt er diplomatisch:
"Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, diese Politik [das Sich-Einlassen auf russische Forderungen] erneut zu überdenken."
Grundsätzlich ist sein Vorschlag für eine gelungene Friedensverhandlung ein Kompromiss zwischen NATO und Washington auf der einen Seite und dem Kreml auf der anderen. Nichtsdestoweniger spricht er davon, dass Russlands "Forderungen nicht inakzeptabel" bleiben dürfen. Welche russischen Zugeständnisse im Falle einer solchen Annäherung für die USA akzeptabel werden könnten, konkretisierte Sachs nicht ganz. Außer, dass Russland die Ukraine am Ende gänzlich verlässt, was aber den Status der Krim und der Ostukraine nicht wirklich genau umschreibt.
Die sechs von Sachs erkannten Probleme
Laut Sachs gibt es sechs Schwierigkeiten mit den Sanktionen gegen Russland, die er in seinem Artikel auch erwähnt.
Er gesteht die Ineffektivität der bisherigen Sanktionen gegen Moskau ein und sagt, dass diese, allerhöchster Wahrscheinlichkeit nach, keinen Wechsel in der Politik Russlands erzwingen werden.
Außerdem können laut dem Experten die meisten Sanktionen umgangen werden, besonders die auf dem US-Dollar basierenden. Dies werde noch leichter fallen, umso mehr Zeit vergehen wird. Er erwartet vermehrt russische Transaktionen in "Rubel, Rupien, Renminbi und anderen Nicht-Dollar-Währungen".
Das dritte Problem fasst er wie folgt zusammen:
"Zählt man alle Länder und Regionen zusammen, die Sanktionen gegen Russland verhängt haben – die USA, das Vereinigte Königreich, die Europäische Union, Japan, Singapur, Australien, Neuseeland und eine Handvoll anderer –, so kommt man auf eine Gesamtbevölkerung von nur 14 Prozent der Weltbevölkerung."
Es ist erfrischend zu lesen, wie ein historisch signifikanter US-Wirtschaftsreformer eine realistische, quantitative Einschätzung der "westlichen Wertegemeinschaft" anstellt. Obwohl die Illusion aufrechterhalten werden soll, dass "die ganze Welt" gegen Russland sei.
Er führt fort, dass nicht nur Russland mit der Sanktionspolitik geschadet werde, sondern der gesamten Weltwirtschaft, da sie "Unterbrechungen der Versorgungskette, Inflation und Lebensmittelknappheit anheizen". Mit dem nächsten Zitat ist sein fünftes Problem kurz und knapp erfasst:
"Wenn die Menge der russischen Exporte zurückgeht, steigen die Weltmarktpreise für diese Rohstoffe. Russland kann am Ende weniger exportieren, aber fast die gleichen oder sogar höhere Exporterlöse erzielen."
Das letzte Problem, das Sachs erläutert, nennt er das "geopolitische". Hier kommt er gefährlich nahe an die Schublade eines "Putin- oder Russlandverstehers", indem er die Perspektive des "Anderen" neutral und ohne Spott beschreibt. Er weist darauf hin, dass die NATO sich stur als "Verteidigungsbündnis" profiliert, China und Russland aber anderer Meinung seien. Statt es so stehenzulassen, zählt er die Fälle auf, die durchaus helfen, diese Perspektive zu illustrieren: Er spricht von "Argwohn" der Chinesen und Russe, wenn sie die NATO-Bombardierungen in Serbien (1999) und in Libyen (2011) sowie den Afghanistankrieg (2001–2021) Revue passieren lassen.
Das Vermächtnis von Jeffrey Sachs
Hinter Sachs steht eine historische Maschine, die mindestens seit der Bretton-Woods-Konferenz (1944) rattert – also seitdem der US-Dollar offiziell als Weltreservewährung die internationale, monetäre Dominanz definiert.
Sachs selbst spielte eine Hauptrolle bei den vom (US-amerikanisch kontrollierten) Internationalen Währungsfonds (IMF) geführten wirtschaftspolitischen "Schocktherapien" Osteuropas nach dem Fall der Berliner Mauer, besonders in Polen und Russland. Seine dortigen, einheimischen Handlanger – Leszek Balcerowicz in Polen und Jegor Gaidar in Russland – leiteten und finalisierten die sogenannten Übergänge dieser ehemals sozialistischen Länder mit Zentralplanung in den sogenannten "freien Markt". Bei dieser Expressprivatisierung wurde eine chaotische Ausschlachtung von Ressourcen und Kapital möglich, die historisch einzigartig ist. Wobei die Bevölkerungen dieser Länder den systemischen Diebstahl, der da an ihnen begangen worden war, teils bis heute nicht ganz verstanden haben. Mehr noch, in Polen wird diese Schocktherapie samt ihrer Hauptverantwortlichen sogar bis heute wie ein Götze angebetet. Die Trostpreise waren die heißbegehrten Beitritte Polens, erst in die NATO (1996), dann in die EU (2004).
Anders in Russland. Dort versteht man grundsätzlich seit einiger Zeit, dass das Land und seine Reichtümer in den Amtsperioden des Präsidenten Boris Jelzin (1991–1999) und des Wirtschaftsreformers Gaidar (1991–1994) laufend ausgeplündert und an westliche Wirtschaftsmonopole ausgehändigt wurde. Ein langwieriger und träger Prozess der Umkehr hin zu institutioneller, monetärer und geopolitischer Souveränität wurde erst mit dem Amtsantritt Wladimir Putins im Jahr 2000 in Bewegung gesetzt. Ein Prozess, der bis heute läuft und mit der gegenwärtigen De-facto-Konfrontation mit der NATO in der Ukraine einen neuen, dramatischen Höhepunkt erreicht.
Das, was semantisch clever als "ein Land dem freien Markt zuführen" bezeichnet wird, ist eigentlich eher zu vergleichen mit dem Abhängigmachen eines Staates von US-kontrollierten Finanzeinrichtungen, während das geschwächte Land gleichzeitig eine enorm schwere Krisenphase durchläuft. Der Trick ist, die Bevölkerung dahingehend soziopsychologisch zu erziehen, dass sie überzeugt ist, diese Krisenphase "dank" statt trotz der US-forcierten Schocktherapie bewältigt zu haben. Naomi Klein beschrieb diese perfide US-Wirtschaftsstrategie in ihrem Sachbuch "Die Schock-Strategie" (2007) genauer.
Die Polen würdigten Sachs im Jahr 1999 für diesen raschen Wechsel aus dem sowjetischen Einflussraum in den des Pax Americana dankend mit dem Verdienstorden der Republik Polen. Auf die Würdigung aus dem Kreml hingegen wartet Sachs bis heute.
Ein Jünger Keynes' und ein Neoliberaler?
Sachs ist in seinem wirtschaftlichen Denken offiziell ein Verfechter von Keynes einerseits und ein nachgewiesener und dokumentierter Anwender neoliberaler Programme andererseits, besonders in historischen Krisengebieten. Keynesianismus zeichnet sich offiziell als Ansatz aus, der der Staatsbürokratie großen Handelsraum für den Einsatz der Ausgaben einräumt, wohingegen im Volksmund, besonders der links ausgerichteten, "Neoliberalismus" mit einem "reinen, unbarmherzigen und unkontrollierten Kapitalismus" assoziiert wird.
Die Austauschbarkeit und Beliebigkeit all dieser "Etiketten" wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass Sachs 2020 den sozialistischen Demokraten Bernie Sanders als US-Präsidentschaftskandidaten unterstützte und ihm mit Rat zur Seite stand. Würde Sanders (der im Jahre 1988 begeistert die Sowjetunion mit seiner zweiten Ehefrau besuchte) die neoliberale Politik, die Sachs damals im ehemaligen Ostblock orchestrierte, gutheißen? Wer weiß.
In Wirklichkeit sind beide wirtschaftliche Schulen lediglich zwei Phasen eines einzigen, erprobten, soziopolitischen und wirtschaftlichen Prozesses, der offiziell von der Staatsbürokratie und inoffiziell von einer kleptokratischen Oligarchie geleitet wird. Die beiden Letzteren hatten seit der Nachkriegszeit volle Handlungs- und Narrenfreiheit, weil ihre unheilige Allianz bisher in den Massenmedien nicht thematisiert wird.
Ob nun als Keynesianer, Neoliberaler oder was auch immer sonst, Sachs ist sich zumindest teilweise den russischen Sicherheitsbestrebungen und der verhängnisvollen Sanktionspolitik des Westens gegen Moskau gewahr. Hoffentlich lösen seine verhältnismäßig vernünftigen Überlegungen einen neuen Trend der Vernunft im westlichen Diskurs aus.
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