von Kirill Benediktow
Es geschah genau in dem Moment, als Biden den versammelten Zuhörern noch einmal erklärte (ja, ja, es gibt solche Narren!), dass Wladimir Putin an der sprunghaft wachsenden Inflation schuld sei. "Ihr Familienbudget, Ihre Fähigkeit, den Tank Ihres Autos zu füllen – nichts davon sollte davon abhängen, ob der Diktator den Krieg erklärt und Völkermord auf der anderen Seite der Welt begeht", überzeugte Sleepy Joe das Publikum, als eine Taube, die über ihn hinwegflog, sein schwarzes (eigentlich weißes) Geschäft verübte.
Die Aufmerksamkeit des Publikums war auf den Fleck auf dem Anzug des Präsidenten gerichtet, doch seine Administration war sichtlich angespannt: Das Wort "Genozid" im Mund des mächtigsten Mannes des Westens verpflichtet Amerika allzu sehr. Daher trat ein Sprecher des Weißen Hauses sofort im Fernsehen auf, um klarzustellen, dass die Worte des Präsidenten keine Änderung der US-Politik gegenüber der Ukraine widerspiegeln.
Ein gesprochenes Wort ist kein Spatz. Einmal ausgeflogen, lässt es sich nicht mehr einfangen (wieder diese Vögel!). Was in Iowa gesagt wurde, hallte in Washington wider. Und als Biden aus der Einöde der Provinz zurückkehrte, stürzten sich Journalisten mit Fragen zum "Genozid" in der Ukraine auf ihn.
Sleepy Joe hat die Hoffnungen der journalistischen Zunft nicht getäuscht. Er erklärte:
"Ja, ich habe es Völkermord genannt, weil es immer offensichtlicher wird, dass Putin schlichtweg versucht, selbst die Idee zu zerstören, ein Ukrainer zu sein."
Allerdings machte er einen Vorbehalt: Die juristische Definition von "Genozid" weicht von seinen persönlichen Eindrücken der Geschehnisse in der Ukraine ab. Dennoch wolle der Präsident seine erste Einschätzung nicht revidieren. "Wir planen, zunehmend über die Zerstörungen zu erfahren, und wir werden Anwälte auf internationaler Ebene darüber entscheiden lassen, ob dies nach internationalem Recht als Völkermord zu qualifizieren sei", fügte Biden hinzu. "Doch mir scheint es ausdrücklich so zu sein."
In einer kürzlich erschienenen Kolumne habe ich bereits darüber geschrieben, wie sich die Haltung der USA gegenüber internationalen Rechtsinstitutionen, einschließlich des Internationalen Strafgerichtshofs, seit Beginn des Konflikts in der Ukraine dramatisch verändert hat. Selbstverständlich kann man sich nicht darauf verlassen, dass sich solche Gremien gegenüber allen Konfliktparteien objektiv und unparteiisch verhalten – man erinnere sich an das gewissenlose Internationale Tribunal für das ehemalige Jugoslawien.
Dennoch ist es sinnvoll, angesehene Anwälte aus neutralen Ländern einzubeziehen. Beispielsweise spielten die Aktivitäten der Tagliavini-Kommission zur Untersuchung der Konfliktursachen in Südossetien eine entscheidende Rolle dabei, Russland von der Verantwortung des Krieges mit Georgien zu befreien, den die USA und die EU dem Land zuzuschreiben versuchten.
Und wenn einige unabhängige Anwälte, von denen Biden spricht, die Untersuchung der Beweise für einen "Völkermord" in der Ukraine aufnehmen, dann werden sie nicht an der Sensationsmeldung des britischen BBC-Senders vorbeikommen können. Dieser berichtete, dass die Seriennummer der Totschka-U-Rakete, welche die Station in Kramatorsk traf und 50 Menschen tötete, mit der Nummerierung des Arsenals der 13. Raketenbrigade der ukrainischen Streitkräfte übereinstimmt. Dies ist im Gegensatz zu den Worten, die aus dem Mund des alten Präsidenten der Vereinigten Staaten kommen, ein Beweis und ein unwiderlegbarer Beweis.
Und dieses Indiz beweist, dass die Zivilbevölkerung der Ukraine tatsächlich exterminiert wird, doch nicht von der russischen Armee, sondern von der durch Blut und Drogen wahnsinnig gewordene Kiewer Junta.
Übrigens, unabhängig davon, was der betagte amerikanische Führer erzählt, verfolgen die Vereinigten Staaten in der Ukraine weiterhin eine Politik, die von neokonservativen "Denkfabriken" entwickelt und vom radikalen Flügel der Demokratischen Partei gebilligt wurde. Welche Art von Politik das ist, wird durch das neulich erschienene Interview mit Bidens nationalem Sicherheitsberater Jake Sullivan bei NBC News bezeugt.
Sullivan informierte, dass die Vereinigten Staaten "alles Mögliche tun werden", um der "demokratischen" Ukraine zu helfen. Sie selbst werden weiterhin Waffen an die Ukraine liefern und solche Lieferungen aus vielen anderen Ländern "organisieren und koordinieren", damit Kiew "alles Notwendige" erhält, um den "Aggressor" zu bekämpfen. Diese Lieferungen, versicherte Sullivan, sind tagtäglicher Natur.
Es ist erwähnenswert, dass der Journalist, der den nationalen Sicherheitsberater interviewte, ihn fragte, ob Amerika der Ukraine nicht nur defensive, sondern auch offensive Waffen geben würde, damit sie "diesen Krieg gewinnt". Darauf erwiderte Sullivan mit undurchdringlichem Gesicht, die Vereinigten Staaten würden der Ukraine alles geben, "um sie erfolgreich zu machen".
Daraus können wir schließen: Die Biden-Administration lässt trotz der lauten Rhetorik keine Möglichkeit eines echten "Sieges" der Ukraine über Russland zu, ist jedoch dazu bereit, alles zu tun, damit beide Konfliktparteien die maximale Erschöpfung erleiden.
Offiziell kündigte Sullivan natürlich etwas andere Ziele an. Sollte man dem nationalen Sicherheitsberater glauben, dann besteht Washingtons Politik gegenüber Russland und der Ukraine darin, "eine unabhängige und freie Ukraine", "ein isoliertes und geschwächtes Russland" und "einen besser geeinten und stärkeren Westen" zu bekommen. Dafür wird der Ukraine geholfen – sowohl in Form von Waffenlieferungen, als auch in Form von Sanktionen gegen Russland. Und die Ukrainer werden im Gegenzug Amerika dabei helfen, diese Ziele zu erreichen.
Sullivan ist unaufrichtig: Das Kiewer Regime mit Waffen zu befeuern, trägt nicht zum Aufbau einer "unabhängigen und freien" Ukraine bei. Es führt ausschließlich zu zusätzlichen Opfern auf beiden Seiten des Konflikts, doch genau das braucht Washington. Die Vereinigten Staaten sind dazu bereit, mit Russland "bis zum letzten Ukrainer" zu kämpfen. Das ist nicht schade, und wenn es zusätzlich gelingt, Russland heimlich aus dem vielversprechenden europäischen Gasmarkt zu verdrängen, wird das ein königliches Geschenk für das Weiße Haus. In diesem Sinne ist der "besser vereinte und stärkere Westen", auf den sich Sullivan bezieht, als "die Wiederherstellung der amerikanischen Hegemonie, die während der Jahre der Trump-Präsidentschaft erschüttert wurde" zu entschlüsseln.
Gerade damit gibt es jedoch Probleme. Wenn Washingtons traditionelle Verbündete in Europa, allen voran Deutschland, sogar erleichtert die Rückkehr des "Meisters" akzeptierten und sich erneut mit masochistischem Vergnügen unter den amerikanischen Stiefel legten, dann beunruhigt beispielsweise die Position Frankreichs das Weiße Haus.
Emmanuel Macron, der die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen vor sich hat, wurde plötzlich extrem wählerisch mit den Definitionen: Er wagte es, Biden zu widersprechen, indem er sagte, er betrachte das Vorgehen Russlands in der Ukraine nicht als Völkermord, und – oh Schreck! - nannte die russischen, ukrainischen und belarussischen Völker "brüderlich". Zu Ungarn und seinem Anführer Viktor Orbán, der gegen ein Embargo für russische Energielieferungen ist, gibt es gar nichts zu sagen – das ist die Quelle eines chronischen Kopfschmerzes für die Biden-Administration.
Washingtons größter Albtraum ist, dass es den USA nicht gelingt, Russland auf globaler Ebene zu "isolieren".
Neulich veröffentlichte das einflussreiche Magazin The Economist eine Landkarte, die zeigt, welche Länder die Position der USA und der NATO gegenüber Russland teilen, diejenigen, die neutral bleiben und welche Russland bei seinem Vorgehen in der Ukraine unterstützen. Die Ergebnisse waren sogar für den Herausgeber selbst unerwartet: Es stellte sich heraus, dass, obwohl mehr als 100 Staaten in die Gruppe der pro-westlichen und "anti-russischen" Länder fielen, darunter die meisten Nordamerikas und Europas, dass diese nur 36 Prozent der Weltbevölkerung ausmachen.
Der Economist hat nur 28 Staaten als pro-russisch eingestuft, darunter China, Syrien, Pakistan, Eritrea, Venezuela und Myanmar. Diese Länder machen mehr als ein Drittel der Weltbevölkerung aus. Weitere 32 Länder mit einer Gesamtbevölkerung von etwa einem Drittel der Menschheit wurden als neutral eingestuft – unter anderem Indien und Brasilien. Demnach sind zwei Drittel der Weltbevölkerung entweder Russland gegenüber unterstützend oder bleiben neutral, so das Magazin schlussfolgernd.
Tatsächlich ist es sogar noch schlimmer (für den Westen). Erstens hat die Tatsache keine Bedeutung, dass die Regierung eines Landes die "Weltregierung" unterstützt und sich gegen Russland stellt, weil deren Bevölkerung nicht gerade antirussische Gefühle teilt. Dies gilt ohne Fragen für den Balkan (z.B. wird Serbien auf der Landkarte des Economist als "neutral" eingestuft, obwohl auf der Welt kein anderer gegenüber Russland so freundlich eingestellt ist) und Lateinamerika. Noch wichtiger ist die Tatsache, dass Indien, obwohl von den britischen Journalisten als "neutrales Land" bezeichnet, in Wirklichkeit Russland unterstützt – dies ist leider nur schwer zuzugeben, weil es für die Vereinigten Staaten unerträglich ist.
Lange versuchte Washington, Druck auf Delhi auszuüben und Indien auf seine Seite zu ziehen, jedoch ohne Erfolg. Die Verhandlungen zwischen Biden und dem indischen Premierminister Narendra Modi endeten mit der gleichen Luftnummer, wie das vorangegangene Gespräch zwischen Biden und Xi Jinping. Am Vorabend des Gesprächs zwischen dem amerikanischen Präsidenten und dem indischen Premierminister versuchte das Außenministerium, Druck auf Delhi auszuüben, und "warnte" dabei, dass die Folgen einer strategischen Zusammenarbeit mit Moskau auf Indien zurückfallen könnten. Aber Indien, wie selbst westliche Journalisten zugeben mussten, "behauptete sich trotz des wachsenden Drucks der Vereinigten Staaten".
Das offizielle Delhi weigerte sich, Russland für das Vorgehen in der Ukraine zu kritisieren und beschränkte sich auf allgemeine Aussagen über die Notwendigkeit, die Souveränität jeder Nation zu respektieren. Einziges Ergebnis des Gesprächs zwischen Biden und Modi waren die US-Indien-Verhandlungen im Format 2+2, wegen denen der indische Außenminister Subrahmanyam Jaishankar und Verteidigungsminister Rajnath Singh nach Washington eingeflogen waren. Das Hauptziel dieser Verhandlungen war es, Delhi dazu zu zwingen, seine Neutralität gegenüber Moskau aufzugeben – und genau die Erreichung dieses Ziels ist den Amerikanern misslungen.
Nach der Niederlage mit Indien, versuchten die USA in Pakistan aufzuholen. Dort gelang ihnen ein Staatsstreich – die teils gekaufte, teils eingeschüchterte Opposition im Parlament des Landes sprach dem pakistanischen Premierminister Imran Khan das Vertrauen aus. Imran Khan wurde Washington unangenehm – zu unabhängig, zu sehr auf multipolare Zusammenarbeit einschließlich Russland konzentriert (am 24. Februar flog Khan nach Moskau und traf sich mit Wladimir Putin).
Nach der Absetzung Khans kam in Pakistan Shahbaz Sharif an die Macht, der als pro-britischer Politiker gilt. Doch kaum ist es wahrscheinlich, dass Washington das Geschehene als klaren Sieg betrachten kann – Imran Khan hat nicht vor, aufzugeben und wird vorgezogene Neuwahlen anstreben, also ist auch in Pakistan nichts endgültig entschieden. Wenn wir das "Vogelthema" fortsetzen, dann passt das russische Sprichwort "Küken werden im Herbst gezählt" hier am besten.
Obwohl die Vereinigten Staaten eine wahrhaft gewaltige Anstrengung unternehmen, um Russland auf der internationalen Bühne zu schwächen und zu isolieren, zeigt die "Hühnerzählung" ein ganz anderes Bild. Je selbstbewusster Russland auf dem Territorium der Ukraine agiert, desto mehr Länder entziehen sich der Kontrolle Washingtons. Und der endgültige Sieg der russischen Waffen über den Kiewer Nazismus wird den Zusammenbruch der US-Hegemonie bedeuten, wie Sergei Lawrow es vorausgesagt hat.
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Übersetzung aus dem Russischen.
Kirill Benediktow ist russischer Politologe, Historiker und Schriftsteller. Autor politischer Biographien von Marine Le Pen und Donald Trump sowie im Bereich der Belletristik im Genre Science Fiction mit mehreren Auszeichnungen.