von Diether Dehm
Wenn "gegenwärtig der Druck wächst" auf die SPD-Spitze, namentlich auf Scholz und Schwesig, sich öffentlich für frühere Russenfreundlichkeit zu entschuldigen und endlich schwere Waffenlieferungen in die Ukraine zu akzeptieren, dann muss auch die gesamte Ostpolitik delegitimiert werden. Im öffentlich-rechtlichen Fernsehen wurde Willy Brandt dieser Tage "porträtiert" – weniger für Lob seiner Aussöhnung mit Russland als fürs Updaten von Sexskandalen, die dem Friedenskanzler einst nachgesagt worden waren. Ist es da ein Zufall, wenn auch die Linkspartei jetzt in den Strudel eines Sex-Skandals gerät?
"Sie hatte ihren Rücktritt auch mit dem Umgang der Linken mit Sexismus in den eigenen Reihen begründet, ein klarer Seitenhieb auf ihre Co-Chefin Janine Wissler", schreibt am 22. April der Tagesspiegel über Susanne Hennig-Wellsow. Den Grund dafür liefert der Dauerstreit über Waffenexporte und NATO zwischen den "beiden tollen Frauen" – so waren sie einst den Parteitagsdelegierten vom Linken-Wahlkampfleiter und Drahtzieher Jörg Schindler angepriesen worden. Dem in neun Jahren als einziger "Erfolg" der Rückzug von Sahra Wagenknecht von der Fraktionsspitze nachzusagen ist. Schindler steht mit Hennig-Wellsow für dauerhafte linke Wahldesaster. Auch wegen öffentlich zu seichter Kritik an NATO, Fluchtursachen, Russophobie und Corona-Diktaten. Und eben auch wegen Dauerzermürbung der langzeit-beliebtesten Politikerin Sahra Wagenknecht.
Wenn Schindler, Wissler und Hennig-Wellsow also unmittelbar nach den vernichtenden 4,9 Prozent bei der letzten Bundestagswahl ihre Plätze geräumt hätten, wäre das Aufatmen in der linken Basis unüberhörbar gewesen; meines auch. Nun verbellen aber NATO-Freunde die verbliebene Vorsitzende Janine Wissler, die noch gewisse linke Skrupel gegen Rüstungsexporte und Massaker an Palästinensern bekundet, als "Radikale". Ein Vorwurf, gegen den jeder klardenkende Radikaldemokrat sie in Schutz nehmen muss, wenn geheimdienstlich orientierte Nachrichtendienste à la Spiegel, taz oder ZDF-heute die Wissler jetzt der Hennig-Wellsow hinterher stürzen wollen – mit Sexismus-Gerüchten, die bei näherer Betrachtung selbst sexistisch sind.
Als ich vor zehn Jahren Altbundespräsident Christian Wulff (CDU) gegen eine mediale Hetzjagd, angeführt von Bild und Spiegel, verteidigt hatte (z. B. bei Anne Will und Maischberger), geschah dies nicht aus parteipolitischer Zuneigung, sondern, weil ich selbst oft Ziel ruftötender Gerüchte war. Und aus Sympathie für Unschuldsvermutung und Rechtsstaat, die mit Friedensgebot und Sozialstaatlichkeit die Fundamente des Grundgesetzes bilden.
Aber so, wie gerade das eherne Prinzip "Keine Waffenlieferung in Krisengebiete!" in der Linken relativiert wird, ist auch der Sozialstaat in der Linken längst nicht mehr unumstritten. Als zum Beispiel der frühere Parteivorsitzende Klaus Ernst vor zehn Jahren zur offensiven "Rückeroberung des Sozialstaats" geblasen hatte, munitionierten sogenannte Reformer gegnerische Medien stattdessen mit der Parole "für progressive Entstaatlichung". Entstaatlichung ist in Demokratie und Grundgesetz aber weder für das Soziale noch für das Recht vorgesehen. Einen rechtsfreien Raum darf es nie wieder geben. Auch wenn Partei-Akteure interne Willkür, also die Absenkung rechtsstaatlicher Standards, gerne unter dem bigotten Ruf tarnen, sie wollten in ihren Reihen ja "besonders hohe" Standards – gegen ihre Gegenspieler, versteht sich. Nein, es gilt nach wie vor die Unschuldsvermutung, gleichbedeutend mit "im Zweifel für den Beschuldigten!".
Nun heiligt der Zweck wieder einmal die Mittel, setzt der heilige Geifer Gerüchte über Gerichte. Wenn da der heimliche Thüringer Regierungschef Benjamin Hoff gemeinsam mit Links-Berufs-Jugendlichen, "LinkeMeToo-Aktiven" und früheren MdBs, die während des Bundestagswahlkampfs kürzlich mit Partei-Ausschluss-Forderungen gegen Sahra Wagenknecht gescheitert waren, jetzt schärfste Strafen fordern. Und zwar gegen solche, denen Gerüchte unterstellen, bei sexistischen Übergriffen weggeschaut zu haben. Was sie sogar mit Kinderschändungen in der katholischen Kirche gleichsetzen – und damit Janine Wissler in die Nähe von Papst Benedikt rücken.
Stolz klopft sich da der Spiegel am 17. April auf die Schultern, das Vertrauen zur Linkspartei weiter "zerrüttet" zu haben, und schreibt in aller Bescheidenheit zum Tsunami im linken Wasserglas:
"Auslöser war ein Enthüllungsreport des Spiegel."
Während der Sozialstaat 100 Milliarden ans Militär abtreten soll, Grüne und FDP schwere Waffen zur Verlängerung des Krieges anliefern, die Inflation den Menschen die Butter vom Brot frisst, während US-Führer Europa gerade in einen dritten Weltkrieg drängen, trudelt die "Linke" bundesweit unter 4 Prozent. Dabei ist sie die einzige Bundestagspartei, die für Abrüstung eintritt. Aber sie liegt momentan bei zwei Prozent in NRW vor den dortigen Wahlen. Im März stritt sie "wenigstens" noch über Waffenexporte. Jetzt zerlegt sich die "Friedenspartei" über einen Sex-Tweet, der ihren Bundesparteitag in zwei Monaten thematisch mehr beherrschen dürfte als die ukrainischen Terroristen, deren Mörser acht Jahre lang Tausende, auch Kinder und Frauen, im Donbass zerrissen und Minsk II so erledigt hatten.
Der aktuelle Tatbestand: Dem Spiegel war aus der hessischen Partei-Jugend – via Thüringen! – ein Screenshot aus dem Jahr 2018 zugespielt worden, an dem gleich vier Spiegel-Redakteure, eigenen Angaben zufolge, "recherchiert" hatten. Eine kurzerhand zur "Minderjährigen" umdefinierte junge Frau hatte vor vier Jahren, nach eigenem Bekunden, an die Parteivorsitzende Janine Wissler folgende Nachricht gesendet:
"Entschuldige das hier bitte, Janine, aber ich drehe endgültig durch, wenn Adrian nochmal nachts plötzlich auf meinem Balkon steht und das romantisch nennt."
Die frühere hessische Linksfraktionschefin bestreitet diesen damaligen "Hilferuf" des "Opfers" sowie einen zusätzlich behaupteten Telefonatsverlauf. Was nun das "Opfer" vor Gericht bringt. Klar, die Vorwürfe gegen die Beteiligten könnten alle stimmen und sie sind, weiß Gott, kein Pappenstiel. Auch wenn die Staatsanwaltschaft gerade eben erklärt hat, auf jegliche Ermittlungen gegen "den Täter" zu verzichten. Aber Rechtskräftiges wartet der Spiegel nicht ab, wenn es um die Vernichtung der gesamten Linkspartei geht. Während die von ihm befeuerten Shit-Stürmer im heiligen Krieg der verfeindeten Parteiströmungen nie die gesamte Partei zu zerstören vorgeben, sondern nur die jeweils gegnerischen Teile. Die rechtsstaatliche Unschuldsvermutung giften sie dabei an als reaktionären Ballast eines "patriarchalen Grundgesetzes". Und wer sich darauf beruft, sei ohnehin selbst ein potenzieller Vergewaltiger oder betriebe Täterschutz, wenn er oder sie rechtlich relevante Fragen zu stellen wagt, wie etwa die folgenden:
Wie war der "Täter" über den Balkon beim Opfer eingestiegen? In welchem Stockwerk geschah das damals? War er zum ersten Mal in der Liebesbeziehung zwischen "Opfer und Täter" über den Balkon gekommen? Hat er dazu die Balkontür beschädigt? Kam es danach zu einer Vergewaltigung? Oder, wie vom "Täter" behauptet, zu einvernehmlichem Sex? Was nannte der "Täter" laut der weiterverbreiteten Kurznachricht der Betroffenen: "romantisch"?
Warum hat sie nicht schon im Jahr 2018 sofort Strafanzeige erstattet? Bedurfte es erst des Jahres 2022 und dazu einer sogenannten Spiegel-Recherche? Wurde damals Druck auf das "Opfer" ausgeübt? Wurde die Liebesbeziehung vom "Opfer" danach, also im Jahr 2018, sofort abgebrochen?
Wie musste dies alles bei Janine Wissler damals angekommen sein, die zu diesem Zeitpunkt ebenfalls mit dem "Täter" liiert war? Hätte die Kurznachricht für Wissler auch als höhnisch kaschierter Triumph einer Nebenbuhlerin "miss"-verstanden werden können?
Wie hätte sich Janine Wissler korrekt verhalten sollen? Denn der Spiegel merkt noch an, der "Täter" sei ja auch Angestellter der Fraktion gewesen, deren Chefin die Wissler war. Will der Spiegel damit sagen, dass diese als Arbeitgeberin einen Mitarbeiter hätte entlassen sollen? Auf welcher Rechtsbasis? Und was würden gewerkschaftsorientierte Linke dazu sagen, wenn Arbeitgeber künftig das Liebesverhalten von Mitarbeitern jenseits der Arbeitszeit zum Gegenstand von Ausspähung, Gerüchten und Kündigung machen würden?
Es gibt noch mehr offene Fragen, die gerichtlich ausverhandelt sein wollen, bevor die Unschuldsvermutung gegen den "mutmaßlichen Täter" fällt. Aber mit dem Rechtsstaat stehen Medien oft auf ähnlichem Kriegsfuß wie die, die noch innerparteiliche Rechnungen offen haben. Einige wollen an deren Fleischtöpfe, anderen genügt der wichtigtuerische Rauschzustand, mal so richtig Schicksal spielen zu dürfen: Wenn sie schon den Rüstungskonzernen nicht weh tun können, dann wenigstens den eigenen Leuten. Und so zappeln sie siegesgewiss im digitalen Spinnennetz medialer Spindoktoren.
Das Geheimrezept von identitären Bessermenschen ist allzu meist die Kolonialisierung fremder Opfer, die Aneignung fremden Leids zur eigenen Omnipotenz. Multipliziert mit der Medienpower BND-gestützter Schreibagenten, die stets verlässlich auf alles schießen, was irgendwie nach Anti-NATO aussieht. Aus diesem medienbewehrten Schutzpanzer darf dann nach Lust und Laune die Gerüchteküche befeuert und jeder drauflos gecancelt werden: als Nazi, Antisemit, Xenophober, Querfrontler, Putin-Kolonne, Corona- oder Klimaleugner. Auf den Spuren der Christenverfolger, der lustfeindlichen Hexenverbrenner, des McCarthyismus und der orwellschen Sprachpolizei wollen diese Inquisitoren bestimmen, wo die Grenze verläuft zwischen Flirt und toxischer Männlichkeit. Wollen mit der Stoppuhr messen, ab wann ein schmachtender Blick einer Vergewaltigung gleichkommt und eine Aufforderung zum Tanzen einer Übergriffshandlung. Die Zeit-Chefredakteurin Sabine Rückert hatte einst, am 30. Juni 2016, überspitzt gegen "MeToo" polemisiert: "Was leidenschaftliche Liebesnacht und was Vergewaltigung war, definiert Frau künftig am Tag danach." Die AfD backt derweil das Popcorn auf und deutet auf die Leinwand: "Seht her, in solcherlei Hexenkessel landet ihr mit linkem Feminismus!"
Der Regisseur Ken Loach erzählt in seinen Filmen mit großer künstlerischer Liebe, wie es proletarischen Frauen auf dieser Welt ergeht – aber auch, wie sie kämpfen. Und wie Männer ihnen dabei zur Seite stehen können, gegen den Krieg, aber auch den der Geschlechter – freundlich zu ihresgleichen und unfreundlich gegen das Großkapital.
Und Loach beschreibt auch, wie die Macher dieser Arbeiter-Bewegung und deren Bündnispartnern in Kunst und Wissenschaft dann von Geheimdiensten registriert, ihnen Berufsverbote und Schlimmeres zugeteilt worden waren. Wie sie auf schwarzen Listen dann irgendwie irgendwann irgendwo abgeheftet wurden. Heute werden die giftgrünen Exkremente aus den entzündeten Organen hysterischer Denunziatoren nicht mehr auf saugfähiges Papier gebracht, sondern digitalisiert für die Ewigkeit. Vielleicht denken die trojanischen Shit-Storm-Fighter mal daran, dass das ihnen, wenn sie Die Linke leergebissen haben, niemand je danken wird, außer vielleicht mit ein paar Festanstellungen beim Überwachungsstaat. Und dass ihnen dann statt ihres Lieblingsworts "fremdschämen" bestenfalls bleibt, "sich-für-sich-selbst-zu-schämen".
Dr. Diether Dehm ist Unterhaltungsautor und war lange für SPD und Die Linke im Bundestag.
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