Kommentar von Sergei Strokan
US-Präsident Joe Biden traf sich virtuell mit dem indischen Premierminister Narendra Modi. Unmittelbar danach führten US-Außenminister Antony Blinken und Verteidigungsminister Lloyd Austin in Washington Gespräche mit dem indischen Außenminister Subrahmanyam Jaishankar und Verteidigungsminister Rajnath Singh. Der indische Verteidigungsminister hielt sich dann für den Rest der Woche in den USA auf: Dort setzte er seinen Marathon von Treffen und Gesprächen mit der Führung der Luft- und Raumfahrt- und Rüstungskonzerne Boeing, Raytheon und anderen Größen der US-Rüstungsindustrie fort und besuchte auch das Hauptquartier des US-Kommandos für den indopazifischen Raum auf Hawaii.
Alles in allem hat man sich in Washington sehr ernsthaft Indiens angenommen – und versucht, dem Land seine strategische Autonomie zu entziehen. Diese ist jedoch das wichtigste Prinzip der Außenpolitik Neu-Delhis: Seit den ersten Tagen der Unabhängigkeit Indiens auf der Nichtbeteiligung an den Bündnissen des Ostens wie des Westens beruhend, erlaubte es dem Land, eine souveräne Politik zu verfolgen und nicht mit irgendjemandem gegen irgendjemand anderes befreundet zu sein.
Hier muss vermerkt werden: Seit den ersten Tagen des russischen Sondereinsatzes in der Ukraine führen die USA ihre eigene Sonderoperation – und zwar eine militärpolitische. Damit wollen sie den indischen Elefanten zähmen, der sich bisher als durch Versprechungen und Drohungen nicht zu dressieren erwies. Der Elefant gibt sich stur und ist so gar nicht bereit, mit den "führenden Demokratien der Welt" Schritt zu halten, die einen Sanktionskrieg gegen Russland führen. Dies jedoch reizt die Möchtegern-Dompteure, denen die Höhe des Einsatzes voll bewusst ist, nur noch mehr. Wenn nämlich Indien, das zusammen mit China zum wichtigsten Aktivposten der russischen Politik in der Ära der neuen Konfrontation mit dem Westen geworden ist, sich plötzlich von Moskau abwandte, wäre dies ein schwerer Schlag für Russlands Hinwendung zum Osten und seine Suche nach alternativen Märkten, Investoren und Geschäftspartnern.
Doch ungeachtet der Tatsache, dass Indien schon seit Wochen mit enormer Intensität bearbeitet wird und ein Heer von Experten, Journalisten und politischen Spindoktoren im riesigen Informationsraum Indiens eine breit angelegte Offensive führt, ist die letzte Schlacht um Indien erst in der 15. Kalenderwoche in die entscheidende Phase getreten.
Und US-Präsident Biden höchstpersönlich feuerte die erste Salve ab. Nachdem er kürzlich bei einem Treffen mit westlichen Verbündeten beklagt hatte, dass Indiens Position in der Ukraine-Krise "etwas wackelig" sei, forderte er Modi in ihrem Gespräch erneut zu einer härterer Vorgehensweise gegenüber Russland auf.
Eigentlich hat der US-Präsident sich das aber nur ausgedacht – Indiens Position war nämlich nie "wackelig". Im Gegenteil, in der Frage der Beziehungen zu Russland war sie von Anfang an entschlossen und konsequent. Lediglich Biden war es, der dennoch zunächst sich selbst und dann den westlichen Verbündeten erfolgreich eingeredet hat, dass Indien schwanke – und nun zu bewirken versucht, dass ein solches nicht vorhandene Schwanken zu einer qualitativen Veränderung der Position Neu-Delhis in der Ukraine-Krise führt.
"Im Mittelpunkt unserer Partnerschaft steht der tiefe Bund zwischen unseren Völkern, die Bunde der Familie, der Freundschaft und der gemeinsamen Werte", wandte sich Biden an Modi. Er lud ihn danach ein, "die engen Konsultationen darüber fortzusetzen, wie man mit den destabilisierenden Auswirkungen des russischen Krieges umgehen kann". Wie die Sprecherin des Weißen Hauses Jen Psaki erklärte, riet Biden Modi sehr eindringlich dazu, Indiens Energiekooperation mit Russland aufzugeben:
"Wir denken nicht, dass Indien seine Importe russischer Energie beschleunigen sollte, und die USA sind bereit, Indien zu unterstützen, um die Verhandlungen zur Diversifizierung seiner Importe fortzusetzen."
Des Weiteren habe "der Präsident sehr deutlich gemacht, dass eine verstärkte Zusammenarbeit mit Russland nicht in Indiens Interesse ist". In einer abschließenden Pressekonferenz mit dem indischen Außenminister Jaishankar und Verteidigungsminister Singh forderte US-Außenminister Blinken die indische Seite auf zu akzeptieren, dass das goldene Zeitalter der russisch-indischen Freundschaft (wir erinnern uns: "Hindi Rusi bhai bhai") ein historischer Anachronismus sei, der im 21. Jahrhundert keinen Platz haben dürfe:
"Die indisch-russischen Beziehungen haben sich über Jahrzehnte entwickelt, als die USA nicht Indiens Partner sein konnten. Aber die Zeiten haben sich geändert, jetzt können und wollen wir Indiens bevorzugter Partner in allen Bereichen sein – Handel, Technologie, Bildung, Sicherheit."
Blinken erinnerte ferner daran, dass der jährliche Handelsumsatz zwischen Indien und den USA bereits 150 Milliarden US-Dollar übersteige. Doch nicht zuletzt forderte der US-Außenminister Indien außerdem auf, "neue große Geschäfte zum Erwerb russischer Waffensysteme zu vermeiden, vor allem angesichts dessen, was Russland in Bezug auf die Ukraine tut".
Unmittelbar danach erklärte ein weiterer Teilnehmer der Pressekonferenz, US-Verteidigungsminister Austin, das Pentagon führe "aktive Gespräche mit Indien darüber, wie es dessen militärischen Modernisierungsbedarf am besten unterstützen" und "unsere Waffensysteme für Indien zugänglicher machen" könne.
Doch auch dieses Mal rührte sich der indische Elefant nicht ein Stück vom Fleck. Von neugierigen Reportern bestürmt, wies Außenminister Jaishankar Versuche eines japanischen Journalisten entschieden zurück, erneut die Frage zu stellen, wann Indien denn endlich Russland den Rücken kehren werde:
"Wir verfolgen die Ereignisse wie jedes andere Land auch. Wir ziehen unsere eigenen Schlussfolgerungen und nehmen unsere eigenen Bewertungen vor. Und glauben Sie mir, wir wissen genau, was in unseren Interessen liegt und wie wir sie verteidigen und fördern können."
"Ungebetene Ratschläge" brauche er dabei nicht. Auf die Frage eines US-Korrespondenten von Al Jazeera, warum Indien das Vorgehen Russlands in der Ukraine nicht verurteile, antwortete der indische Minister nur wenig diplomatischer:
"Ich weiß die Ratschläge und Anregungen zu schätzen, aber ich ziehe es vor, auf meine eigene Weise vorzugehen und zu formulieren."
Alles in allem hat die neue Runde von Treffen und Gesprächen zwischen den USA und Indien gezeigt, dass Indien unter den nicht in den Sanktionskrieg gegen Russland verwickelten Staaten das einzige Land ist, das eine immer engere globale strategische Partnerschaft mit den USA entwickelt – doch gleichzeitig weiterhin in der Lage ist, zu Washington dennoch auch Nein zu sagen.
Ein Elefantengedächtnis zu Sanktionen
Bei der Betrachtung dieses Phänomens der indischen Außenpolitik wäre es jedoch falsch, es allein auf das Prinzip der strategischen Autonomie abzuleiten. Heute erinnern sich nur wenige daran, dass Indien in den 1990er-Jahren selbst Ziel sehr schmerzhafter Sanktionen der USA und des Westens war: Das Land weigerte sich, dem Vertrag über das umfassende Verbot von Nuklearversuchen (CTBT) beizutreten.
Dennoch hielt Indien, dem der Westen den Sauerstoff abdrehen und die Hochtechnologie entziehen wollte, durch – nicht zuletzt dank seiner Zusammenarbeit mit Russland, das sich nicht an die Sanktionen hielt und für deren Aufhebung eintrat.
Außerdem steht Modi, der 2014 an die Macht kam, auch persönlich seit vielen Jahren unter Sanktionen der USA und der Europäischen Union. Es sei daran erinnert, dass es im Jahr 2002, als er noch Ministerpräsident von Gujarat gewesen war, zu blutigen Zusammenstößen zwischen Hindus und Muslimen in Gujarat gekommen war, für die der Westen damals den künftigen Premierminister verantwortlich gemacht hatte. Im Zusammenhang damit war Modi, der heute in den USA als hochwillkommener Gast empfangen wird, bis zum Jahr 2014 die Einreise dorthin untersagt. Ähnliche Sanktionen gegen ihn, die bis Ende 2012 in Kraft gewesen waren, waren auch von der EU verhängt worden.
Natürlich hat Modi nichts davon vergessen und zieht seine Lehren aus der Geschichte. Es bleibt also auch weiterhin unwahrscheinlich, dass Präsident Biden (oder auch seine künftigen Nachfolger) den indischen Elefanten zähmen können.
Übersetzt aus dem Russischen.
Sergei Strokan ist Beobachter für internationale Politik mit 25-jähriger Erfahrung. Heute ist er in dieser Qualität im russischen Verlagshaus Kommersant tätig.
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