von Dagmar Henn
In all dem Bombardement an Informationen und Schrecken, das ein Krieg darstellt, gibt es immer wieder einzelne Informationen, die einem besonders nahe gehen. Oft sind es einfache Faktoren, die darüber entscheiden. Wenn wir ein Gesicht zu einem Namen kennen, beispielsweise. Oder wenn es Eigenschaften gibt, die verbinden; in diesem Fall wäre es der Beruf. Ich möchte es also vorab sagen, dass mir, bei aller Sorge, die die Listen von in der Ukraine verschwundenen Personen ohnehin bei mir auslösen, der Fall von Gonzalo Lira besonders nahe geht. Emotion ist nicht gerecht.
Gonzalo Lira – und schon habe ich ein weiteres Problem. Weil es korrekt wäre, "berichtete" zu schreiben, weil er zurzeit jedenfalls nicht berichtet, aber das Imperfekt mit seiner Abgeschlossenheit sich so anfühlt, als wäre die Geschichte schon abgeschlossen. Und noch besteht zumindest Hoffnung, dass sie das nicht ist.
Gonzalo Lira ist von Beruf Autor und Filmregisseur; er hat in Chile mehrere Romane veröffentlicht. Er ist chilenischer und US-amerikanischer Staatsbürger, lebte aber schon vor Beginn der russischen Militäroperation in der Ukraine, er hat Frau und Kinder in Charkow.
Anfang März begann er per Video und Diskussionen im Livestream aus der Ukraine zu berichten. Nicht nur per Youtube, auch per Twitter. Vor nicht allzu langer Zeit führte er ein längeres Gespräch mit Scott Ritter über die militärischen Entwicklungen.
Ab und zu berichtete er dabei auch über die Umstände, unter denen er sich in Charkow befand. Dass es ihm nicht möglich sei, die Ukraine zu verlassen, weil er an jedem Kontrollpunkt verhaftet werden könnte. Und dass er sich in Charkow versteckt und bereits mehrmals den Aufenthaltsort gewechselt habe. Er erzählte, wie ihn das erste Mal ein Nachbar warnte, als er gerade zum Rauchen draußen war und in seine Wohnung zurückkehren wollte, mit einer Geste, die nach oben deutete und dem Wort "Banderista."
Vor einiger Zeit wurde sein Twitter-Account gesperrt, aber es gelang ihm, ihn wieder freigeschaltet zu bekommen. Der Grund dafür war, dass Twitter für ihn eine Sicherheitsfunktion hatte; Ende März formulierte er das klar und deutlich.
"Ihr wollt die Wahrheit über das Selenskij-Regime wissen? Googelt diese Namen... Wenn ihr zwölf Stunden oder länger nichts von mir gehört habt, setzt meinen Namen mit auf die Liste."
Am vergangenen Sonntag sollte er in der Internet-Talkshow MOATS (Mutter aller Talkshows) von George Galloway auftreten. Dies ist die Meldung, die der Gastgeber an Stelle seines Auftritts brachte:
Seitdem verbreitete sich die Nachricht von seinem Verschwinden wie ein Waldbrand durch die Bloggerszene, vor allem die englischsprachige. Und alle machen sich größte Sorgen. Schließlich weiß man außerhalb der Blase des westlichen Mainstreams, wie gefährlich diese vermeintlich demokratische Ukraine nicht nur für die Opposition im Land ist, sondern selbst für jene, die ehrlich darüber berichten.
Die erste Person auf der Liste, die Lira in einem Tweet anführte, war Volodymyr Strok, der Bürgermeister von Kreminna. Sein Vergehen bestand darin, seine Kollegen zu Verhandlungen mit dem Donbass-Militär aufzurufen. Er wurde abgeholt, gefoltert und erschossen, und Anton Geraschenko, Berater des Innenministeriums, feierte diesen Mord mit der Bemerkung "ein Verräter weniger in der Ukraine". Dieser und andere Fälle wie der des ukrainischen Verhandlers Denis Kireev, der nach der Rückkehr von Verhandlungen in Minsk ermordet wurde, fasste The Grayzone gerade erst in einem längeren Artikel in zusammen. Und auch das ist ein Teil des alternativen Nachrichtenspektrums, wie die Junge Welt, die über Überfälle auf die Opposition berichtet. So ist es bereits seit dem Jahr 2014. Damals gab es unmittelbar nach dem Putsch die Berichte, nach denen Ukrainer auf den Straßen von Kiew gezwungen wurden, "Heil der Ukraine, den Helden Heil" zu sagen – etwas, das jeden an das Deutschland des März 1933 erinnern muss. Wie die von Lira benannten Fälle belegen, neben vielen weiteren Dingen, setzen sich diese Parallelen bis heute fort.
Sprechen wir es also aus, worin die Sorge um Gonzalo Lira besteht. Dass er entweder von der SBU, dem ukrainischen Geheimdienst, oder einer der Nazitruppen gefangen wurde, worauf mit hoher Wahrscheinlichkeit Folter und Tod gefolgt wären. Und ich merke, wie schwer es fällt, das über jemanden zu schreiben, dessen Gesicht man kennt.
Auf den diversen Blogs, die sein Verschwinden inzwischen gemeldet haben, entspann sich eine rege Diskussion, zum Beispiel hier. Und einige hoffen darauf, dass er nur so tief abgetaucht ist, dass er auch per Twitter nicht kommunizieren kann, und wir vielleicht in einigen Tagen wieder von ihm hören. Aber es gibt ebenfalls Meldungen, die befürchten lassen, dass diese Hoffnung vergebens ist. So etwa diese von Vanessa Beely.
Auf dem inzwischen gelöschten Twitter-Kanal des ukrainischen Nazis, der unter dem Spitznamen "Bootsmann" bekannt ist, fanden sich noch mehr Meldungen zu diesem Thema. Sie sind über Screenshots erhalten.
"Die Ironie, dass Gonzalo Lira, ein Chilene, von einem Kerl mit dem Rufnamen "Chilene" gefangen wurde, ist gigantisch. Hoffen wir darauf, dass die Enthauptung bald auf Telegram auftaucht."
Gestern gab es überraschenderweise einen Bericht über Gonzalo Liras Verschwinden auf CNN Chile. Inzwischen wurde er gelöscht und findet sich nur noch im Archiv des Internets. Er vermeldet zumindest, dass das chilenische Außenministerium in Charkow nach seinem Verbleib gefragt hat. Auch ein Gegenkandidat des neuen chilenischen Präsidenten Boric, Eduardo Artés, äußerte sich in der dortigen Presse: "Der Verwalter der Moneda [Sitz des chilenischen Präsidenten] Gabriel Boric sollte seiner Pflicht nachkommen, die darin besteht, von seinen Freunden in der NATO und der EU zu fordern, dass er lebend wieder auftaucht." Andere chilenische Medien befassen sich ausführlicher mit der von Lira erstellten Liste, um das befürchtete Schicksal ihres Landsmanns zu illustrieren. In Chile erinnert man sich noch daran, was es heißt, wenn jemand "verschwindet."
Der zweite Staat, dessen Staatsbürgerschaft Lira ebenfalls besitzt, die Vereinigten Staaten, setzte sich bisher nicht für ihn ein. Damit hat Lira vermutlich auch nicht gerechnet; er selbst hat darum gebeten, sich an die chilenische Botschaft in Polen zu wenden, sollte ihm etwas zustoßen. Auch in den Medien des US-amerikanischen Mainstreams findet sich bisher einzig ein Artikel des The Daily Beast vom 21. März, der den Blogger einen "pro-Putin-Aufreißer" nannte, und den Lira nach seinem Erscheinen als Mordaufruf klassifizierte, was nicht übertrieben war. Und während in früheren Jahrzehnten eine US-Botschaft selbst bei politischen Gegnern zumindest noch so getan hätte, als setze sie sich für ihre Staatsbürger ein, scheint auch dies mit allen anderen diplomatischen Sitten entsorgt worden zu sein.
Im Gegenteil, es gibt eine US-amerikanische Journalistin in Charkow, die ihren Jubel über Liras Verschwinden nicht schnell genug verbreiten konnte (auch dieser Tweet ist inzwischen gelöscht, wie das Konto von Bootsmann, als wolle jemand Spuren verwischen). Max Blumenthal meldete, dass eben diese Frau in Nevada für die demokratische Partei arbeitet und sich dort als Agent Provocateur betätigt habe. Sie schrieb: "Er ist ein (vermutlich) russischer Saboteur, der sich als "Journalist" ausgibt, um die Ukraine zu zerstören. Glückwunsch an die ukrainischen Sicherheitsdienste."
Dieser Tweet dürfte zeigen, was Gonzalo Lira tatsächlich von der demokratischen Regierung der Vereinigten Staaten erwarten kann.
So schnell wie sich die Meldung von seinem Verschwinden verbreitet hat, so schnell dürfte sich auch verbreiten, sollte es doch noch ein Lebenszeichen von ihm geben. Aber mit jedem Tag wird die Hoffnung geringer. Dann wäre Gonzalo Lira nur ein weiterer Name auf einer langen, traurigen Liste der Opfer des ukrainischen Irrsinns. Eine weitere Mahnung, dass dieser Irrsinn ein Ende haben muss.
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