von Dagmar Henn
"Unsere Sache ist gerecht – der Sieg muss unser sein!" So endete nicht nur die Rede Molotows am Tag des Überfalls der Naziwehrmacht auf die Sowjetunion, dieser Satz ist auch Teil des Schwurs von Buchenwald. Ein Schwur, den Tage, nachdem die Häftlinge selbst ihre Bewacher überwunden hatten, alle überlebenden Häftlinge aller Nationen auf dem Appellplatz ablegten; ein Schwur, dessen Text weltweit bekannt ist.
"Wir schwören deshalb vor aller Welt auf diesem Appellplatz, an dieser Stätte des faschistischen Grauens: Wir stellen den Kampf erst ein, wenn auch der letzte Schuldige vor den Richtern der Völker steht! Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel."
Wenn man betrachtet, wie sich die Gedenkstätte seit dem Ende der DDR entwickelt hat, und insbesondere die Gestaltung der letzten Gedenkfeier diese Woche, dann ist es schwer zu sagen, ob Wut oder Zorn überwiegt. Mit dem Schwur, der einst in Buchenwald geleistet wurde, und der jahrzehntelang in Deutschland die Richtschnur vorgab, was Antifaschismus und was seine Aufgabe ist, hat es jedenfalls nichts mehr zu tun, was sich dort abspielte.
Schon im Vorfeld wurde bekannt, dass die Vertreter der Regierungen Russlands und Weißrusslands ausgeladen wurden. Die Stiftung, die die Gedenkstätte betreibt und die Kontrolle über die Veranstaltung hat, begründete das damit, dass "wegen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine" nicht nur der ukrainische Vizepräsident des Internationalen Komitees, Boris Romantschenko, durch russischen Beschuss in Charkow ums Leben gekommen sei, sondern auch Hunderte weiterer Überlebender existentiell bedroht wären.
Nun ist es schon zumindest unvorsichtig, aus der Ferne die Zuschreibung, es habe sich um russischen Beschuss gehandelt, zu übernehmen, denn bekanntlich schießen in jedem Krieg mindestens zwei Seiten, und die Berichte der Einwohner von Mariupol geben ein anderes Bild ab, was den Beschuss von Wohngebäuden angeht. Die ukrainischen Medien jedenfalls haben Romantschenkos Tod gehörig ausgeschlachtet, und die Stiftung hat kein Problem damit, deren Deutung zu übernehmen. Und sieht sich damit ganz auf der sicheren Seite: "Unser Vorgehen richtet sich also explizit nicht gegen Russland und Belarus und erst recht nicht gegen die Erinnerung an die KZ-Opfer aus diesen Ländern, sondern lediglich gegen die beiden Regierungen (bzw. ihre offiziellen Vertretungen), die derzeit schwerste Kriegsverbrechen begehen bzw. diese dulden und die zudem auch massiv gegen die Opposition im eigenen Land vorgehen."
Man sollte dabei anfügen, dass ein solches Verhalten, die Ausladung von Regierungsvertretern, nicht einmal während des Kalten Krieges vorgekommen ist. Und eine Frage, wie das Gedenken an das Grauen der Konzentrationslager nicht mit tagesaktuellen politischen Fragen vermengt werden sollte. Nun, es ist eine Stiftung des Bundeslandes Thüringen, das in dieser Hinsicht wohl keine Hemmungen hat. Dafür dürfte als Vertreter der Ukraine wieder einmal Herr Melnyk aufgeschlagen sein, der, das berichtet überraschenderweise auch mal die Frankfurter Rundschau, sich gern für die Nazis von Asow einsetzt. Und die schwersten Kriegsverbrechen der Ukraine und deren Vorgehen gegen die Opposition, das direkt aus Panzern und Bombern bestand, waren kein ausreichender Anlass, mit diplomatischen Gepflogenheiten zu brechen.
So heuchlerisch, wie diese Ausladung war, angesichts der langen Vorgeschichte des Krieges in der Ukraine – die sich übrigens auch gerade wieder jährt, weil am 13. April 2014 in Kiew der Befehl zu der sogenannten "antiterroristischen Aktion" gegeben wurde, die in Wirklichkeit die Eröffnung eines Bürgerkriegs war – wie der deutschen Beteiligung daran, noch wesentlich übler ist ein kleiner, symbolischer Akt, der um die Gedenkveranstaltung herum geschah.
Auf dem Gelände sind die Fahnen aller Länder gehisst, aus denen die Häftlinge von Buchenwald kamen. Darunter auch die weißrussische. Vor der Gedenkveranstaltung wurde, und das muss im Auftrag der Stiftung geschehen sein, die weißrussische Fahne entfernt und durch jene Fahne ersetzt, die auf den Demonstrationen im vergangenen Jahr verwendet wurde.
Diese Fahne war allerdings auch die Fahne weißrussischer Nazikollaborateure. Man gedachte also der weißrussischen Opfer von Buchenwald unter der Fahne der Hilfstruppen ihrer Mörder. Das ist nicht nur symbolischer Zynismus. Wenn man die historischen Zusammenhänge rund um diese Fahne kennt, ist es weit mehr.
Das erste Mal tauchte sie 1918 in der weißrussischen demokratischen Republik auf. Diese war, wie ihre Geschwistergründung in der Ukraine, ein vom deutschen Militär auf von ihm besetztem Gebiet geschaffenes Gebilde, das dementsprechend wieder verschwand, als es dem jungen Sowjetstaat gelang, es der Besatzungsmacht wieder abzunehmen. Erst unter der nächsten deutschen Besetzung tauchte sie wieder auf.
Schöpfer der außenpolitischen Strategie der Nazis gen Osten war Alfred Rosenberg, der Chefideologe der Nazis, der unter anderem für die "Rassenlehre" verantwortlich zeichnete. Der Deutschbalte entwickelte das schon von der wilhelminischen Heeresleitung begonnene Konzept, möglichst viele kleine Völker von Russland abzuspalten, zur Perfektion weiter. Er leitete das Amt, das alle Hilfstruppen politisch betreute, Ukrainer ebenso wie Weißrussen, Letten, Litauer, Esten oder Krimtataren, und das für die Verwaltung der besetzten Gebiete (also ihre Ausplünderung) zuständig war. Unter der Ägide des Rosenberg-Ministeriums wurde im Dezember 1943 ein "weißruthenischer Zentralrat" gegründet, der eben diese Fahne wiederbelebte. Hauptfunktion dieses Gremiums war es, Freiwillige für den Kampf gegen die vorrückende Rote Armee zu finden.
Diese weißrussischen Hilfstruppen, die "weißruthenische Heimwehr" genannt wurden, waren insbesondere gemeinsam mit der SS in der "Partisanenbekämpfung" aktiv; gerade in Weißrussland ein Begriff, hinter dem sich vor allem Massaker an der Zivilbevölkerung verbargen. Dabei kooperierten sie unter anderem mit der berüchtigten SS-Einheit Dirlewanger; eine Truppe, die sich vor allem aus verurteilten Kriminellen rekrutierte und selbst auf der Skala der SS besonders brutal war. Der Totenkopf der Dirlewanger-Truppen ist übrigens heutzutage bei ukrainischen Nazis besonders beliebt und wird z. B. von der "misanthropischen Division" von Asow verwendet.
Diese Kollaborateure verhielten sich in der Niederlage ebenso wie die ukrainischen und flüchteten letztlich nach Deutschland, wo sie mit bundesdeutscher Finanzierung Exilregierung spielten und, wie ihr ukrainischer Gegenpart, Mitglied im Antibolschewistischen Block der Nationen wurden, einer Ansammlung ehemaliger Nazikollaborateure, die über Jahrzehnte von der CIA betreut wurde.
Das ist mit der Fahne verbunden, die an Stelle jener Weißrusslands für die Gedenkfeier in Buchenwald gehisst wurde. Es ist eine Sache, in den Medien so zu tun, als gäbe es diese Historie nicht, weil man die Akteure einer Farbrevolution möglichst sympathisch wirken lassen will. Das ist widerlich und verzerrt die Wahrnehmung, ist aber klassische westliche Geopolitik. Aber eine solche Fahne an einem Ort wie Buchenwald zu hissen, ist ein ganz anderer Akt. Ein faschistischer.
Dazu muss man wissen, wie die Nazis mit Geschichte, auch naher Geschichte, umzugehen pflegten. Das lässt sich am Beispiel Dachaus hervorragend erläutern; aber es gibt weitaus mehr solche Beispiele, die sich nicht nur auf Orte, sondern auch auf Daten beziehen. Dachau wurde aus genau einem Grund als der Ort ausgesucht, an dem das erste KZ errichtet wurde – dort hatten zur Zeit der Münchner Räterepublik die weißen Truppen eine schwere Niederlage gegen die bayrische Rote Armee erlitten. In den 1920er Jahren gab es deshalb den Satz: "In Dachau sehen wir uns wieder". Er verwies auf diesen Sieg. Mit der Errichtung des KZs an diesem Ort sollte die Erinnerung daran nicht nur überschrieben, sondern geradezu unaussprechbar werden. Und es ist gelungen; niemand denkt mehr beim Stichwort Dachau an einen Sieg bayrischer Revolutionäre.
Mit dieser Fahne ein Symbol genau jenes Feindes auf das Gelände von Buchenwald zu bringen, den mitsamt seiner Wurzeln zu vernichten die Häftlinge damals geschworen hatten, das ist ein geradezu typisches Beispiel faschistischer Geschichtspolitik. Erst eine kleine Version dessen, was in der Ukraine seit Jahren geschieht, wo Denkmäler umgewidmet und Straßen nach Nazikollaborateuren benannt werden. Sie machen das, weil ihre großen Vorbilder es taten, wie das Beispiel Dachau belegt, und jetzt kehrt dieses Vorgehen wieder in das Land zurück, dem es entstammt, in Gestalt einer Faschistenfahne aus Weißrussland beim Buchenwald-Gedenken. Und es mag ja sein, dass die selbst schon befremdliche Ausladung mit Zustimmung der ehemaligen Häftlinge erfolgte; aber es ist kaum vorstellbar, dass es eine Zustimmung für das Hissen dieser Fahne gegeben hätte. Dabei muss man noch froh sein, dass immerhin die sowjetische Fahne dort noch erlaubt war.
Auseinandersetzungen um die Denkmäler, gerade die antifaschistischen, gibt es in Deutschland schon lange. In den 1980er Jahren versuchte die bayrische Staatsregierung, die Gedenkstätte in Dachau zu schließen, weil das doch jetzt lange genug her sei. Die Gedenkstätte in Buchenwald wurde schon mit Gründung der Stiftung verfälscht, weil das Bundesland Thüringen es für nötig empfand, auch an die Insassen des sowjetischen Lagers dort zu erinnern, obwohl diese weit überwiegend Naziverbrecher waren; als die Bundesrepublik, in der diese Herrschaften meist nicht belangt worden waren, die DDR übernahm, konnte man plötzlich behaupten, sie seien dort verfolgt, und nicht, wie es der Realität entspräche, zur Verantwortung gezogen worden. Seitdem gibt es neben der großen Gedenkstätte für die Opfer bereits eine kleinere für die Täter.
Aber die Verwendung dieser Fahne in Buchenwald ist ein Signal, dass die Umschreibung der Geschichte in eine neue Phase eingetreten ist. Während seit 1989 vor allem das Bestreben sichtbar war, alles, was irgendwie an die DDR erinnert, auszulöschen, wird nun der Raum offensiv besetzt. Und das, womit er besetzt wird, ist auch erkennbar. Schritt für Schritt. Wort für Wort. Nach einem Skript, das Alfred Rosenberg geschrieben hat.
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