von Susan Bonath
Die Preise steigen schneller als die Sozialhilfesätze und lassen das staatlich bezifferte Existenzminimum im Eiltempo real schrumpfen. Hartz-IV-Bezieher müssen ihre Gürtel immer enger schnallen, während sich die Jobcenter im Corona-Maßnahmen-Marathon den Kundenverkehr seit zwei Jahren vom Leib halten. Ihre eigentliche Aufgabe, Beratung und Jobvermittlung, ist bis heute weitgehend auf Telefon und Internet beschränkt. Doch Corona hin oder her – ihre Klienten müssen weiterhin Gehorsam zeigen, um Kürzungen zu vermeiden. Im zweiten Pandemiejahr haben Jobcenter Erwerbslose nach einem Einbruch 2020 wieder stärker sanktioniert.
Wachsender Sanktionseifer
Wie aus einer am Dienstag veröffentlichten Statistik der Bundesagentur für Arbeit (BA) hervorgeht, verhängten die Jobcenter im vergangenen Jahr bundesweit insgesamt fast 194.000 Kürzungen gegen rund 131.000 Bedürftige. Etliche Betroffene wurden demnach mehrfach sanktioniert.
Bei etwas mehr als der Hälfte dieser Fälle waren Meldeversäumnisse der Grund. Hierfür sieht das Gesetz eine Kürzung des Regelsatzes um zehn Prozent für drei Monate vor. In den anderen Fällen hatten Betroffene beispielsweise ein Jobangebot abgelehnt, eigenmächtig gekündigt oder eine Maßnahme abgebrochen. Hier kürzen die Ämter die Minibezüge für ein Vierteljahr um 30 Prozent. Ein Alleinstehender erhielt damit 2021 nur 312 statt 446 Euro.
Allerdings verzeichnete die BA demnach allein an ihrem Stichtag im Dezember 2021 insgesamt rund 71.500 wirksame Sanktionen gegen knapp 57.000 Hartz-IV-Bezieher. Die Behörden verhängen also mehrere Kürzungsstrafen gleichzeitig, etwa wenn ein Klient mehrfach für das Amt nicht erreichbar ist oder sowohl eine Maßnahme abgebrochen als auch einen Termin versäumt hat. Die Kürzungen werden dann summiert.
Rückgang durch Karlsruhe-Urteil und Corona-Verordnung
Das Niveau von 2005 bis 2019 – zeitweise verhängten damals Jobcenter mehr als eine Million Sanktionen pro Jahr – wurde allerdings nicht erreicht. Das gründet aber vor allem auf einem höchstrichterlichen Urteil vom November 2019. Damals hatte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) nach fast 15 Jahren Hartz IV Kürzungen von mehr als 30 Prozent für verfassungswidrig erklärt. Zuvor konnten Jobcenter den Betroffenen die Bezüge bis auf null kürzen, was sie zeitweilig in bis zu 11.000 Fällen pro Monat taten. Damit waren auch Mietbeihilfen und Krankenversicherungsbeiträge weggefallen.
Zum anderen hatte die Politik die Sanktionen im Jahr 2020 im Rahmen einer Corona-Verordnung vorübergehend ausgesetzt, jedenfalls auf dem Papier. Tatsächlich waren die Kürzungen nach BA-Angaben von etwa 123.000 im Oktober 2019 zunächst auf rund 79.300 im Januar 2002, später auf minimal 7.625 im August desselben Jahres zurückgegangen, um dann wieder kontinuierlich zu steigen. Für Januar 2021 meldete die BA bereits wieder knapp 39.000 Kürzungen, rund 42.000 für Oktober und fast 57.000 für den Dezember des vorigen Jahres.
Somit hatte die BA für das Jahr 2020 am Ende "nur" etwas mehr als 171.000 Hartz-IV-Sanktionen gegen etwa 115.000 Leistungsberechtigte verzeichnet – rund 23.000 Strafen und 16.000 Betroffene weniger als 2021. Zum Vergleich: Für das Jahr 2019 hatte die BA noch 807.000 Kürzungen gegen 366.000 Menschen angegeben.
Insgesamt vermerkte die Bundesagentur zuletzt einen leichten Rückgang an Hartz-IV-Beziehern. Demnach waren im März 2022 rund 2,67 Millionen Haushalte mit 5,26 Millionen Personen von dieser Leistung abhängig, etwa 10.000 weniger als im Februar. Darunter befanden sich mindestens 1,7 Millionen Kinder.
Aus Hartz IV wird "Bürgergeld"
Das passt nicht so ganz zum Vorhaben der seit Ende 2021 amtierenden "Ampel"-Regierung. Diese hatte im Koalitionsvertrag festgelegt, Hartz IV in "Bürgergeld" umzubenennen – mit einigen kleinen Erleichterungen, wie ein etwas höherer Vermögensfreibetrag. Bevor sie dieses ab 2023 einführen will, sollen vorübergehend die Sanktionen wegfallen, und zwar wegen der massiven Preissteigerungen, insbesondere bei Heizung, Strom und Lebensmitteln. Das Gesetz ist zwar bereits vom Bundeskabinett abgesegnet, allerdings noch nicht vom Parlament beschlossen.
Ganz umfassend gilt die anvisierte kurzzeitige Sanktionssperre dann aber doch nicht. Es heißt, dass sie keine Kürzungen von 30 Prozent mehr verhängen sollen, wenn Leistungsberechtigte eine sogenannte "Pflichtverletzung" begehen, also unerlaubt einen Nebenjob kündigen, beispielsweise. Wer aber "ohne wichtigen Grund" einen Termin verpasst, dem dürfen sie danach wie bisher zehn Prozent streichen.
Paritätischer kritisiert "Rohrstockpädagogik"
BA-Chef Detlef Scheele (SPD) ist sich laut mehrfachen Äußerungen mit seiner Partei in der Bundesregierung in einem einig: Auch das Bürgergeld soll dem Staat die Möglichkeit geben, Bedürftige zu sanktionieren. Das prangerte am Dienstag der Paritätische Wohlfahrtsverband in einer Pressemitteilung an.
Der Verband kritisiert, dass Scheele erneut geäußert habe, Sanktionen seien nötig als "Handgabe gegen eine kleine Gruppe, die sich sonst entzieht". Derlei Strafen, so der Paritätische, seien "weder sachgerecht noch zielführend und eine Kürzung des Existenzminimums nicht zu rechtfertigen". "Es wird höchste Zeit, dass wir diese antiquierte Rohrstockpädagogik aus dem vorletzten Jahrhundert überwinden und zu einem den Menschen zugewandten, sanktionsfreien Hilfesystem gelangen", mahnte demnach der Hauptgeschäftsführer des Verbandes, Ulrich Schneider.
Gemessen an den Hartz-IV-Regelsätzen sind zehn Prozent eine erhebliche Summe. Derzeit gibt es für Alleinstehende 449 Euro, dazu kommen die von den Kommunen geregelten Mietbeihilfen. Bei einer zehnprozentigen Sanktion müssen sie drei Monate lang mit 404 Euro auskommen. Davon müssen sie alles andere, von Lebensmitteln über den öffentlichen Nahverkehr bis hin zur Stromrechnung, begleichen.
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