von Elem Raznochintsky
Noch Anfang des Jahres schrieben wir über eine vermeintliche Möglichkeit eines Polexits. Das war natürlich noch vor der militärischen Sonderoperation Russlands in der Ukraine. Nun ist Warschau aber der eifrigste, hysterischste Aktivposten für Russlandhass, Kriegstreiberei und Falschdarstellung der Chronik des Ukraine-Konfliktes (2013 bis Gegenwart).
Irgendwelche banalen "Gerichtsreformen" in Warschau, die zuvor noch ständig Konflikte mit Brüssel verursachten, sind inzwischen wie vom Winde verweht. Denn die Polen sind hoch konzentriert dabei, den russophoben Flächenbrand in der Union anzufachen und auszuweiten. Allein diese Entwicklung hat dazu beigetragen, dass Polen bei einem tatsächlichen Zerfall der EU eines der letzten Mitgliedsländer sein wird, die auf dem sinkenden Kutter verbleiben werden. Mit Deutschland natürlich.
Auf Polnisch gibt es eine bekannte Redensart, stark popularisiert in Zeiten der ersten bis dritten Teilung des Landes (1772–1795 und die Zeit danach): "Polak, Węgier – dwa bratanki" (zu Deutsch ungefähr: "Pole, Ungar – zwei Brüderlein"). Diese Kurzfassung eines etwas längeren Gedichts symbolisiert die inhärente (für Polen sogar "beispiellose") Bindung beider Völker im Angesicht langwieriger, gemeinsamer, historischer Feinde. Nun wird dieses Konzept aber absehbar schnell unter so großen Druck geraten, dass eine schier unumkehrbare Zäsur eintreten wird.
Wo wir schon beim nächsten Staat wären, der die Geschicke der Europäischen Union bald sichtlich mitbestimmen wird.
Orbán und sein fester Stand in Ungarn
Ein ums andere Mal mehr bewies der ungarische Anführer der Fidesz-Partei, dass er eine signifikante Mehrheit der Bürger für sich gewinnen konnte. Eine absolute Mehrheit von über 54 Prozent. Des Weiteren, im Wahlbund mit der KDNP-Partei, ermöglicht dieses Ergebnis erneut eine Zweidrittelmehrheit im Parlament, mit insgesamt 135 (von 199) Sitzen. Hier handelt es sich immer noch um ein Wahlergebnis, das es zum Beispiel in der Bundesrepublik das letzte und auch einzige Mal im Jahr 1957 gab. Damals erreichte die CDU (mit der bayerischen CSU) ganz knapp 50,2 Prozent. Die SPD, mit ihren 31,8 Prozent, hat damals sogar für einen "Austritt aus der NATO" geworben. Und "GroKos" mutete man den Deutschen damals noch nicht zu. Was für Zeiten.
Wahre Demokratie wird in der EU sofort geahndet
Wie ein präzises Uhrwerk warf sich die demokratisch nicht legitimierte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen auf die Wahlgewinner in Budapest und leitete bereits "Demokratie wahrende" Disziplinierungsverfahren gegen Ungarn ein. Denn Orbán möchte sich nicht an den EU-Sanktionspaketen gegen Russland beteiligen. Orbán möchte keine Waffen an die Ukraine liefern und keine Lieferungen Dritter durch sein Land zulassen. Außerdem erklärt er sich bereit, russische Erdgaslieferungen – wie von Wladimir Putin angekündigt – künftig in Rubel zu bezahlen. Der ungarische Regierungschef erläutert dazu, dass er sein Land wirtschaftlich nicht zerstören möchte. All diese politischen Entscheidungen sind in der infantilen Stimmungslage, die die EU durchzieht, pure Ketzerei.
Austritt Budapests aus dem Staatenbund?
Dem wiedergewählten Ministerpräsidenten Ungarns wurden nun von seinem Volk vier weitere Regierungsjahre gewährt. Reicht das aus für einen "Hungrexit" (oder wie auch immer das dazu passende Kürzel lauten mag)? Sofern der Druck auf Budapest stark genug sein wird, könnte die Ausrufung eines solchen Projektes durch Orbán sogar noch in diesem Jahr kommen. Die ungarische Elite um Fidesz herum trotzte – wie von Orbán selbst am Wahlabend aufgelistet – einer ausgesprochen überwältigenden Mobilisierung fast aller anderen politischen Kräfte im Land. Darunter waren sogar Parteien, die sich sonst nie miteinander assoziieren würden. Auch das extrem liberal-progressive Medien- und Institutionsnetzwerk von George Soros schaffte es nicht, die trotzigen und aufmüpfigen Ungarn an der Wahlurne umzustimmen. Das sind, soziologisch gesehen, sehr vielversprechende Parameter für einen erfolgreichen, von der Bevölkerung gestützten Austritt Ungarns aus der EU.
Polens Tränen könnten Seen füllen
Für Warschau wird dieses ungarische Verhalten starke Wut und Enttäuschung verursachen. Sogar von Verrat könnte die Rede sein. Beide Länder sind in wichtigen, regionalen Bündnissen aktiv, wie zum Beispiel in der Visegrád-Gruppe. Deren Einfluss und einheitliche Entscheidungskraft würde nachhaltig eingeschränkt werden. Die sich arg unterscheidenden Beziehungen zu Moskau werden den Graben zwischen der polnischen Republik und Ungarn unüberwindbar machen. Die polnische Führung stellt sich zwar seit 2019 lautstark als energiepolitisch "weitestgehend autark" gegenüber Russland dar. Aber die Empirie spricht eine andere Sprache und zeigt eher die rasch angebrachte PR-Kosmetik: Polen bezieht zwei Drittel seines Erdöls von Russland. Allein letztes Jahr sind dafür Zahlungen von insgesamt 15,4 Milliarden Euro an Moskau gegangen. Auch ist Polen auf dem vierten Platz der EU-Länder, die regelmäßig die höchste Energierechnung mit Russland zu begleichen haben. Der rhetorische Trumpf aus Warschau lautet aber: "Bei Erdgas sind wir bald wirklich unabhängig vom russischen Aggressor." Diese Fantasie ist möglich, weil die US-amerikanischen, extrem überteuerten LNG-Flüssiggas-Lieferungen an Polen als geopolitischer Balsam genannt werden.
Gleichzeitig haben die USA kürzlich ihren Einkauf von russischem Erdgas um 40 Prozent angehoben. Eine Information, die in Warschau (und auch in Brüssel) nur noch als weißes Rauschen ankommt. Verkauft Washington das ehemals russische Erdgas teilweise zurück an die Polen und Deutschen, ist die kognitive Dissonanz-Brücke vollbracht, denn es ist ja dann "kein russisches Gas mehr". Die Diskrepanz dieser unlogischen und selbstzerstörerischen Wirtschaftsrechnung wird ernsthafte Folgen nach sich ziehen, von denen einige bereits ihre hässliche Fratze zeigen. Wann den europäischen Hauptstädten dieser US-amerikanische Betrug klar wird, bleibt unbekannt. Zu laut ist die dröhnende Kakofonie aus infantilen Forderungen nach einem vollen Energieembargo gegen Russland. Pünktlich nach dem Zerfall der EU könnten sich erste Stimmen der wiederbelebten, europäischen Vernunft demütig bündeln.
'Femme d'etat' – die Frau des französischen Staates
Die rechtskonservative Marine Le Pen ist bei der Präsidentschaftswahl mit ihrem Ergebnis von 23 Prozent kürzlich auf den zweiten Platz hinter Emmanuel Macron mit 27 Prozent geraten. Macron, als amtierender Präsident der "politischen Mitte", muss nun erneut den zweiten Wahlgang überstehen, der am 24. April 2022 vonstattengehen wird. Die Wahlbeteiligung (65 Prozent?) war wohl die schwächste seit dem Jahr 2002. Die Verdrossenheit der Franzosen wird hoffentlich innerhalb der nächsten zwei Wochen verpuffen, denn wie Le Pen kürzlich richtig deklarierte, sei diese Wahl nicht "nur wichtig für die nächsten fünf Jahre, sondern für das nächste halbe Jahrhundert".
Was für manche pathetisch klingt, wirkt eher plausibel, wenn man zumindest einen Punkt des politischen Programms von Le Pen näher betrachtet: Nichts weniger als den NATO-Austritt Frankreichs fordert die Politikerin. Auch sei sie gegen die Russland-Sanktionen und eine damit verbundene Wirtschaftsdemontage ihres Landes. Der Dritte im Bunde ist der linke Anwärter Jean-Luc Mélenchon, der mit 22 Prozent drei Punkte zugelegt hat – im Vergleich zur Wahl im Jahr 2017. Damals hat der Mann Macron in der Stichwahl nicht unterstützen wollen, aber wetterte auch gleichzeitig kategorisch gegen Le Pen. Eine vierte, starke Kraft bei den Wahlen bündelte der rechtsnationale Kandidat Éric Zemmour, mit über 7 Prozent. Falls Zemmour seine Anhänger für Le Pen begeistern kann, könnte Mélenchon seine politische Laufbahn damit beenden, doch Macron in der kommenden Stichwahl zu unterstützen.
Die NATO und die EU sind wie die fremd-transplantierten Venen und Adern, die den europäischen Kontinent in Geiselhaft halten. Würde eine Atommacht wie Frankreich sich unter Le Pen aus dem Militärbündnis (für einige ein "reines Verteidigungsbündnis") auskoppeln, würde das auch die Durchblutung der jetzigen EU schlagartig stören und den noch rascheren Zerfall besiegeln. Dass der Zerfall aber von den jetzigen Eliten in Brüssel, Berlin und in Washington vorsätzlich angetrieben wird, scheint dem Autor dieses Artikels mittlerweile sonnenklar. Was jedoch nach dem Zerfall folgen wird, ist ein Thema für eine zukünftige Publikation.
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