von Dagmar Henn
Es sind schwere Zeiten für russische Kunst und russische Künstler. Fast ganz Westeuropa befindet sich in einem Wahn gegen alles russische; die National Gallery in London benennt ein Bild von Degas um und macht aus russischen ukrainische Tänzerinnen, bei Konzerten wird das Musikprogramm geändert oder schon lange verstorbene Komponisten werden nicht mehr gespielt. Der sichtbarste Fall war die Kündigung des Chefdirigenten der Münchner Philharmoniker Waleri Gergijew durch die Stadt München mit der Begründung, er sei nicht bereit, sich von Putin zu distanzieren. Zustände wie im ersten Weltkrieg.
In München scheint sich das besonders zu ballen, denn es gab mittlerweile einen weiteren Vorfall, der an Gergijew erinnert; zumindest in seiner Darstellung in den Medien. Offiziell ist der Direktor des Bayerischen Staatsballetts, Igor Selenskij, aus "familiären" Gründen gegangen. Aber selbst dpa konnte sich nicht verkneifen, zum Abschied noch etwas Dreck hinterherzuwerfen. Nur, weil Selenskij Russe ist (entsprechende Gedanken seinen Namensvetter in Kiew betreffend mag sich jeder selber machen). Denn jeder irgendwie sichtbare Mensch russischer Abstammung scheint sich in diesem toleranten, bunten Westen zuerst von "Putin", eigentlich aber von der russischen Politik distanzieren zu müssen.
Manche tun das, wie die Opernsängerin Anna Netrebko. Der wurde ein Auftritt auf der Krim zum Vorwurf gemacht. Den weiteren Verlauf schildert die Wiener Zeitung so: "Als westliche Veranstalter von ihr eine Positionierung verlangten, sagte sie alle Auftritte ab, um nicht schmachvoll gefeuert zu werden. Darauf folgte ein Statement, das sich auf Russisch weit nebuloser las, als es die deutsche Übersetzung wiedergab, dann zog sie wieder zurück. Danach wuchs der Druck erst recht: Man machte der Sängerin klar, dass ihre Karriere außerhalb Russlands beendet wäre, sollte sie kein klares Statement gegen den Krieg abgeben." Und Netrebko gab nach. Wofür ihr dann vom selben Artikel gleich zugeschrieben wurde, eigentlich doch schon immer eine der "Guten" gewesen zu sein: "Sie hat ausgesprochen, was sie mit Sicherheit die ganze Zeit über gedacht hat: Dass Putins Vorgehen gegen die Ukraine ein Krieg ist und keine 'Militäraktion', dass ihre Gedanken bei den Opfern sind."
Wirklich erheiternd ist allerdings der Anlass dieses Wiener Artikels, nämlich dass infolge dieser Erklärung von Netrebko wiederum das Opernhaus von Nowosibirsk seine Einladung zurückgezogen hat. Es ist also in Ordnung, wenn der Westen verlangt, einen Militäreinsatz, der immerhin laut Umfragen von einer überwältigenden Mehrheit der russischen Bevölkerung mitgetragen wird, abzulehnen und am besten noch den gewählten Präsidenten zu schmähen, aber wenn dann eine russische Einrichtung darauf reagiert, ist das Unrecht: "Es ist das Zeichen: Prominente genießen keinen Sonderstatus der Meinungsfreiheit. Es bedarf keiner Dekrete, es genügt die Vorsicht, nur ja niemanden zu engagieren, der jemanden zu stören vermöchte, dem man eventuell selbst in irgendeinem Zusammenhang ausgeliefert sein könnte. Das ist eine nicht russische, sondern eigentlich sehr sowjetische Kombination von Angst vor einem Dominoeffekt und vorauseilendem Gehorsam." Wie man diese beiden Gedanken gleichzeitig in einem Kopf unterbringt, möge mir einmal jemand erklären.
Aber zurück zu Selenskij. Die Autorin Cordula Dieckmann bei dpa, immerhin bei jener Agentur, von der die Hälfte des bundesdeutschen Medieninhalts abgeschrieben wird, leitet ihre ideologische Anklage erst einmal harmlos ein: "Doch ist die Familie wirklich der wahre Grund für Selenskijs raschen Abschied? Darüber wird viel gemutmaßt." Das ist ein geschickter Satz, weil er ermöglicht, allerlei Vorwürfe unterzubringen, ohne eine Quelle dafür zu nennen oder selbst dazu stehen zu müssen. Es wird eben von irgendwem "gemutmaßt".
Der böse Tänzer arbeite mit einer "Putin-nahen Stiftung" zusammen ... So, wie die Sprachregelung in der deutschen Presse eben ist, bei der die Person Wladimir Putin und der russische Staat in eins fallen, als handle es sich um das Frankreich Ludwigs des XIV. und nicht um ein Land mit demokratischen Wahlen, kann der Leser daraus nicht ersehen, was für eine Stiftung das tatsächlich ist. Nur eines ist klar, es ist keine westorientierte. Die wäre nicht "Putin-nah".
Was eigentlich die Frage aufwerfen müsste, was denn bitte daran verwerflich ist, wenn ein Künstler mit einer Stiftung seines eigenen Landes, staatlich oder staatsnah, zusammenarbeitet. Die Stiftung, so Dieckmann, wolle vier große kulturelle Zentren bauen, eines davon auf der Krim. Das ist schlimm, ganz böse. Weil ein Kulturzentrum gar nichts Gutes sein kann, wenn es ein russisches ist. Und wenn es auf einer Halbinsel errichtet wird, die sich immer russisch gefühlt hat, aber nach Meinung des Westens ukrainisch sein wollen müsste, ist das natürlich besonders verwerflich. Auch wenn in diesem Fall nur ein russischer Staatsbürger eine russische Stiftung berät, die auf russischem Gebiet Kulturzentren baut, was eigentlich Deutschland und dpa so viel angeht wie die Frage, von welchem Bahnsteig der Schnellzug von Moskau nach Petersburg abfährt oder wie hoch die Steuer auf russische Zigaretten ist.
Aber es wird noch gemeiner. Denn gut getarnt formuliert Dieckmann einen weiteren Vorwurf: "Oder dass Selenskij massiv unter Druck gestanden habe, sich zu äußern und dies nicht getan habe."
Dabei bleibt sie allerdings nicht stehen. Das reine Äußern ließe sich zur Not ja noch elegant neutral absolvieren, im Sinne von "Krieg ist immer schrecklich". In diese Richtung bestätigt das wohl auch die Staatsoper: "Von der Staatsoper ist nur zu erfahren, dass sich Selenskij intern gegen Krieg generell ausgesprochen hatte."
Ja, dachte sich Dieckmann vermutlich, dann könnte er auch gegen den Krieg sein, den die Ukraine seit acht Jahren im Donbass führt; ihr jedenfalls reichte das nicht aus. Selenskij soll ihrer Ansicht nach ein Schreiben unterzeichnen, das von Wladimir Jurowski, dem Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper, stammt. Dieser in Russland geborene, aber in Deutschland aufgewachsene Künstler hatte Ende März einen Appell veröffentlicht, der vorgibt, Künstler aus Russland und Weißrussland vor pauschaler Ablehnung bewahren zu wollen, in Wirklichkeit von ihnen aber eine völlige Unterordnung unter die NATO-Linie verlangt. Ich könnte mir vorstellen, dass das in Russland kleine Assoziationen weckt, zum historischen Angebot an sowjetische Kriegsgefangene weckt, sie blieben verschont, wenn sie bereit wären, in den Wlassow-Truppen gegen die Sowjetunion zu kämpfen.
Dieser Appell hat es wirklich in sich. Das fängt an mit dem "skrupellosen Krieg, den Putins totalitäres Regime gegen die souveräne Ukraine entfesselt hat." Man mag ja über den Krieg unterschiedlicher Meinung sein, aber weder die russische Regierung noch Putin hat da irgendetwas entfesselt; da war bereits seit acht Jahren Krieg – im Donbass nämlich. Und man kann schwerlich einem Deutschen vorwerfen, von diesem Krieg nichts zu wissen, wohl aber jedem, der des Russischen mächtig ist.
Aber es geht noch weiter. "Wir befürworten vorbehaltlos die Sanktionen und den diplomatischen Druck, die gegen das Putin-Regime und seine Handlanger, gegen seine Befürworter, Propagandisten und Informationsmanipulatoren sowie gegen Personen oder Organisationen, deren Verbindungen zu Putin und seiner Regierung eindeutig dokumentiert sind, ausgeübt werden." Das ist eine eindeutige Parteinahme für die NATO-Position. Gleichzeitig steht in der Erklärung: "Die Nationalität sollte keine Rolle spielen – niemand müsste seine Herkunft oder Staatsangehörigkeit rechtfertigen müssen." … sofern er jedenfalls auf NATO-Linie ist.
Den folgenden Absatz muss man wirklich zur Gänze genießen; er kommt besonders gut, wenn man sich zuvor hiesige Details wie etwa den Umgang mit Gegnern von Corona-Maßnahmen oder die aktuelle Jagd auf den Buchstaben Z des lateinischen Alphabets ins Gedächtnis ruft:
"Nicht jeder fühlt sich im Stande klar auszusagen, weil eine solche Aussage unter Umständen der Person selbst oder ihren Angehörigen, Freunden und Arbeitskollegen in Russland oder Belarus erheblichen Schaden zufügen könnte. Viele fühlen sich derzeit wie Geiseln in ihrem eigenen Land. Bevor er in die Ukraine einmarschierte, überfiel Putin bereits sein eigenes Land, brachte jede Opposition zum Schweigen und unterzog die Bevölkerung einer ideologisch gesteuerten Gehirnwäsche. Doch seine hassschürenden Desinformationskampagnen können wir besiegen, indem wir geschlossen zusammenstehen. Deshalb sollten alle Kulturschaffenden, die diesen rechtswidrigen Krieg und das verantwortliche Regime nicht unterstützen, sei es öffentlich oder privat, weiterhin ihre künstlerische Aktivität fortsetzen dürfen, um so die universelle Botschaft des Friedens zu vermitteln und zu festigen."
Mit "ideologisch gesteuerter Gehirnwäsche" und "hassschürender Desinformationskampagne" meint der Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper vermutlich, wie im NATO-Jargon üblich, die Information über den jahrelangen Donbass-Krieg in der Ukraine. Den es gar nicht geben kann, weil Westmedien nicht darüber schreiben, schon gar nicht die Münchner Edelzeitung, die Süddeutsche. Dabei könnte sich Jurowski leicht sogar fachbezogen kundig machen; in Donezk steht ein Opernhaus, das sogar in der schlimmsten Phase der Kämpfe im Sommer 2014 den Spielbetrieb fortgesetzt hatte, nachmittags um zwei ... die Beschäftigten dieses Opernhauses wären sicher gern bereit, ihm zu erklären, was Hass schürende Desinformation ist und was nicht.
Selbst in den Hochzeiten des Kalten Krieges wurde etwa von den Tänzern des Bolschoi-Balletts nicht verlangt, öffentlich abzuschwören, ehe sie im Westen auftreten durften. Jurowski tut so, als wolle er Künstler schützen, meint aber damit offenbar nur jene, die bereit sind, bedingungslos auf die NATO-Seite zu wechseln. Und die anderen? Die sind eben doch böse Russen. Es solle nur "Fairness und Gerechtigkeit gegenüber russischen und weißrussischen Bürgern herrschen, die nicht mit Putins Regime verbunden sind." Was man dann dadurch demonstrieren kann, indem man "vorbehaltlos" den Sanktionen zustimmt und eine Darstellung Russlands unterschreibt, die direkt der Propaganda der 1950er Jahre entsprungen scheint.
Das hätte Selenskij nach Meinung von Frau Dieckmann unterschreiben sollen: "Viele Künstler unterzeichneten den Brief, darunter Stardirigent Sir Simon Rattle, Staatsintendant [Serge] Dorny, die Bratschistin Tabea Zimmermann oder der Pianist Alexander Melnykow. Selenskijs Name war zumindest bis Montagnachmittag nicht darunter zu lesen." Es ist nicht allzu kühn, anzunehmen, dass man ihm eben dies tatsächlich angetragen hat. München hat eine sehr laute Lobby von Exilukrainern, die mit den Hitlertruppen dort gelandet sind, und die unter anderem bei der Süddeutschen nicht ohne Einfluss sind, sich aber sicher auch bei staatlichen Institutionen unangenehm bemerkbar machen. Das dürfte der Grund sein, warum nach der Kampagne gegen Gergijew nun Selenskij in den Fokus geriet.
Igor Selenskij hat den Revers nicht unterschrieben. Das ehrt ihn. Der Kotau ist eben keine Ballettposition.
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