Der Drache erwacht: China bietet Washington die Stirn

Dass Mitglieder des NATO-Bündnisses in Sachen Ukraine auf ihrer Auslegung der Ereignisse beharren würden, ist wenig verwunderlich. Die Volksrepublik China jedoch ist aus dem Schatten der Zurückhaltung und Neutralität herausgetreten, und richtet klare Töne der Mahnung an den atlantischen Hegemon.

von Elem Raznochintsky

Es muss nicht lange nach klaren Aussagen gesucht werden, um sich Chinas grobe Position zur gegenwärtigen Weltlage zu erschließen. 

Der stellvertretende Direktor der Informationsabteilung des chinesischen Außenministeriums, Zhao Lijian, antwortete auf den Verdacht, dass die New York Times direkt von US-Behörden den Auftrag erhalten habe, China als eingeweihten Co-Verschwörer bei der Einleitung der militärischen Operation Russlands in der Ukraine darzustellen:

"In letzter Zeit haben die USA in der Ukraine-Frage Desinformationen über China verbreitet, um die Schuld abzuwälzen, die Konfrontation zu schüren und von dem Problem zu profitieren. Diese Praxis ist verabscheuungswürdig und bösartig."

Dieses jüngste Beispiel für Content-Beeinflussung in großen, einflussreichen und vermeintlich "unabhängigen" Zeitungen durch die eigenen US-Behörden korrespondiert mit der sogenannten "Operation Mockingbird", die schon in den 1970er Jahren aufgedeckt wurde. Dabei handelte es sich um ein CIA-Programm, das auf aggressive Weise Redaktionslinien und Themenvorgaben für die einflussreichsten US-Zeitungen erstellte.

Es gab seither auch keine Anzeichen für Versuche, dieses wichtige US-Instrument der staatlichen Meinungskontrolle dort wieder abzubauen. Genau das Gegenteil ist der Fall. Die Erben der "Operation Mockingbird" haben einen Freifahrtschein genossen, der bis in die jüngste Gegenwart hinein eingelöst wurde, und auch in der Bundesrepublik rege praktiziert wird. Heute ist es das NATO-Mediennetzwerk, das für die Erhaltung der Deutungshoheit den direkten Eingriff der CIA überflüssig macht. Eine wohl geölte Maschine, die seit Jahrzehnten rattert und pfeift.

Die Risse und der Rost dieser Medienkrake werden nun aber von China offen aufgezeigt. Lijians ernüchternde Antwort wird konkreter:

"Das Vorgehen der US-geführten NATO hat die Spannungen zwischen Russland und der Ukraine auf die Spitze getrieben. Die USA sehen von ihrer eigenen Verantwortung ab und kritisieren Chinas Position zur Ukraine, um Raum für das Komplott zu schaffen, China und Russland gleichzeitig zu unterdrücken, um ihre Hegemonie zu erhalten. Je mehr sie sich den Kopf zerbrechen, um China mit Lügen zu diskreditieren und die Dinge hochzuspielen, desto mehr entlarven sie ihr Glaubwürdigkeitsdefizit gegenüber der internationalen Gemeinschaft."

Auch auf Twitter haben hohe, offizielle Staatseinrichtungen der Volksrepublik China am bisherigen "US-amerikanischen Frieden" offenkundige Kritik geübt. Das war man früher eigentlich eher nur von altlinken, anti-imperialistischen Intellektuellen wie Michael Parenti oder Noam Chomsky gewohnt. Inzwischen sind es die Volksvertreter Pekings, die denselben Ton anschlagen.

Eines von mittlerweile vielen Beispielen: Die chinesische Botschaft in Russland retweetete am 26. Februar 2022 Zhao Lijians Erinnerung an folgende historische Liste von US-Kriegen mit dem eigenen Kommentar:

"Vergessen Sie nie, wer die wahre Bedrohung für den Frieden ist."

Was ist mit Taiwan?

Die Ereignisse im Westpazifik überschlagen sich und stehen an Rasanz und Dringlichkeit dem Krisenherd in der Ukraine der letzten Jahre in nichts nach.

Australien ist meist der Laufbursche, der von den USA vorgeschickt wird, um chinesische Aktivität (militärische sowie kommerzielle) um Taiwan herum zu sondieren. Einzig dafür hat Biden am 16. September 2021 das neueste Militärbündnis zwischen den USA, Großbritannien und Australien angekündigt: AUKUS. Eine der ersten "Früchte" dieser Kollaboration soll die Ausstattung Australiens mit mindestens acht neuen U-Booten mit Nuklear-Antrieb sein.

Sicherlich beobachtet Peking diese Entwicklung mit großem Interesse, zumal die westlichen Kollegen nicht einmal verschweigen, dass AUKUS als balancepolitische Initiative zur Neutralisierung einer "chinesischen Bedrohung" beworben wird. Wobei es eigentlich konkret um Taiwan geht. Zurzeit ist eine Zuspitzung auf beiden Fronten zu beobachten, die einem Countdown gleicht.

Peking hat unmissverständlich und vermehrt kommuniziert, dass die Insel in den Souveränitätsbereich von Festlandchina zurückgeführt werde, notfalls sogar mit Gewalt. Zuletzt unterstrich diese Absichten auch der chinesische Außenminister Wang Yi. Des Weiteren sei sich der Chefdiplomat bewusst, dass einige, einflussreiche Kräfte in den USA die Unabhängigkeit Taiwans befürworten und damit das Ein-China-Prinzip in Frage stellen. Der Frieden und die Stabilität in der Straße von Taiwan werde durch diese Position Washingtons untergraben, so Wang Yi. Er fügte hinzu, dass "Versuche, Taiwan zur Eindämmung Chinas zu benutzen, zum Scheitern verurteilt sind."

Retrospektiven

Der US-amerikanischen Führung würde ein in die Souveränität der Volksrepublik China überführtes Taiwan einen enormen Schlag versetzen. Die asiatisch-pazifische Positionierung Washingtons würde wie ein Kartenhaus zusammenbrechen.

Zwar haben die USA im Jahr 1979 ihre diplomatischen Beziehungen zur sogenannten "Republik China" (präsent auf der Insel Taiwan) zugunsten einer fortwährenden Beziehung mit der Volksrepublik China aufgegeben. Aber seitdem haben sich die Prioritäten etwas neu geordnet. Man erkannte in Washington, dass Taiwan bzw. die Republik China eine einzigartige, geostrategische Sonderregion darstellt. Wie sonst könnte die US-amerikanische Führung sich per Seeweg so nah am Festland Chinas entlang bewegen? 

Zwar wurde das seit dem Jahr 1954 laufende Verteidigungsbündnis zwischen Taiwan und den USA ab 1979 pausiert. Aber bereits wenige Jahre später führten die Vereinigten Staaten dieses Bündnis fort.

Geschichtliche Ironie lässt grüßen: Die US-Amerikaner werden in ihrem "Beistand" für Taiwan von niemand geringerem als den Japanern unterstützt. Die Japaner jedoch sollten, was Taiwan angeht, pietistischen Sicherheitsabstand halten. Es waren die Japaner, die die Insel in den Jahren 1895–1945 okkupiert hatten. Die großflächigen kolonialistischen Versuche, die chinesischen und indigenen Bewohner in dieser Epoche zu "japanisieren", oft mit entsetzlicher Staatsgewalt, sind bis heute nicht vergessen. Das chinesische Festland hat sein eigenes Gedächtnis betreffend des japanischen Faschismus, besonders aus dem Zweiten Weltkrieg, als dieser im Bündnis mit Hitlers Nazi-Deutschland stand.

Trotzdem scheint sich niemand im Westen, und auch nicht in Japan, zu stören an der fantastischen Fehlplatzierung Tokios in dieser Angelegenheit.

Der Council on Foreign Relations hatte im Mai 2021 einen Artikel zu der Causa Taiwan veröffentlicht. Dieser liefert einen verhältnismäßig guten Rückblick – mit einer üblichen Neigung hin zur US-affinen Ausrichtung, dass Taiwan unbedingt volle Unabhängigkeit erlangen solle. Mittlerweile sollte man verstehen, dass dieses angelsächsische Neusprech eigentlich bedeutet: Sobald eine Nation in den Augen Amerikas "unabhängig" wird, gibt sie ihre Souveränität an die USA ab, und wird zu einem losen Protektorat pragmatischer Geostrategie. Rasch zurückgelassen bei den ersten Anzeichen von Unbequemlichkeit.

Im Jahr 1683 wurde die Insel von der chinesischen Qing-Dynastie annektiert. Wie weiter oben beschrieben, mussten die chinesischen Verlierer des Ersten Japanisch-Chinesischen Krieges die Insel im Jahr 1895 an das japanische Kaiserreich abtreten. Über zweihundert Jahre handelte es sich aber um souveränes chinesisches Territorium. Mit einer Revolution im Jahr 1912 folgte das Ende dieser letzten Dynastie. Eineinhalb Dekaden später, die den Beginn der "republikanischen Ära" Chinas ausmachten, stürzte das Land in einen Bürgerkrieg, der zwischen den Kommunisten (unter der "Kommunistischen Partei Chinas") und den Nationalisten (unter der "Nationalen Volkspartei Chinas") ausgefochten wurde. Die Kommunistische Partei Chinas gewann diesen Konflikt und schlug die Nationalisten in die Flucht. Dieser Rückzug aber vollzog sich geradewegs auf die Insel Taiwan. Seither erhebt Peking Anspruch auf Taiwan. Taipeh wiederum erhebt Anspruch auf Unabhängigkeit, beziehungsweise US-Abhängigkeit. Seitdem herrscht eine Pattsituation. Eine, die nie so erhitzt war, wie zum gegenwärtigen Zeitpunkt.

US-Dominanz in Asien: Taiwan ist der Schlüssel

Wichtig zu erwähnen ist die "Indopazifik-Strategie der Vereinigten Staaten", die Washington in der ersten Februarhälfte 2022 veröffentlicht hat. Selbstverständlich können in einer solchen Publikation nicht die allgemeinen Plattitüden fehlen:

"Der Zweite Weltkrieg hat die Vereinigten Staaten daran erinnert, dass unser Land nur sicher sein kann, wenn auch Asien sicher ist."

Oder auch:

"[...] die amerikanische Strategie [im indopazifischen Raum] wird prinzipienfest, langfristig und in der demokratischen Belastbarkeit verankert sein."

An konkreten Ankündigungen hat es aber auch nicht gemangelt. Die USA nennen die Volksrepublik als ihren Haupt-Antagonisten in der Region, der – im Gegensatz zu ihnen – Weltmachtambitionen aus dieser reichen Region heraus entwickeln möchte. So heißt es auf Seite 5:

"Diese verstärkte amerikanische Aufmerksamkeit ist zum Teil darauf zurückzuführen, dass der indopazifische Raum mit wachsenden Herausforderungen konfrontiert ist, insbesondere durch die Volksrepublik China. Die Volksrepublik China kombiniert ihre wirtschaftliche, diplomatische, militärische und technologische Macht, um sich im indopazifischen Raum eine Einflusssphäre zu schaffen und die einflussreichste Macht der Welt zu werden. Die Zwangshandlungen und Aggressionen der Volksrepublik China erstrecken sich über den gesamten Globus, sind aber im indopazifischen Raum am stärksten ausgeprägt. Von der wirtschaftlichen Nötigung Australiens über den Konflikt entlang der tatsächlichen Kontrolllinie mit Indien bis hin zum wachsenden Druck auf Taiwan und der Einschüchterung von Nachbarn im Ost- und Südchinesischen Meer – unsere Verbündeten und Partner in der Region tragen einen Großteil der Kosten für das schädliche Verhalten der Volksrepublik China."

Die Chinesen haben sicherlich auch Seite 15 der neuen US-Erklärung gelesen, in der es im Segment "Reinforce Deterrence" (zu Deutsch: Abschreckung verstärken) heißt:

"Die Vereinigten Staaten werden ihre Interessen verteidigen, militärische Aggressionen gegen das eigene Land und gegen unsere Verbündeten und Partner – auch jenseits der Straße von Taiwan – abwehren und die regionale Sicherheit fördern, indem sie neue Fähigkeiten, Operationskonzepte, militärische Aktivitäten, Initiativen der Verteidigungsindustrie und eine widerstandsfähigere Streitkräftestruktur entwickeln."

Ende Februar entsandte US-Präsident Joe Biden dann noch eine sicherheitspolitische Delegation nach Taiwan. Diese sprach der dortigen Führung weitere Zugeständnisse über einen Beistand zu, sollte es seitens Pekings zu dem Versuch einer Offensive kommen. Zu dieser Delegation gehörten durchaus hochkarätige Figuren früherer US-Regierungen. So zum Beispiel der US-Navy-Admiral im Ruhestand, Mike Mullen, der unter Ex-Präsidenten George W. Bush und Barack Obama als leitender US-Militäroffizier diente; die ehemalige stellvertretende Verteidigungsministerin unter Obama, Michèle Flournoy; und außerdem Meghan O'Sullivan, eine ehemalige stellvertretende nationale Sicherheitsberaterin unter Bush. Evan Medeiros und Mike Green, die beide ehemalige leitende Direktoren des Nationalen Sicherheitsrates für Asien waren, traten diese Reise ebenfalls an.

Dieser hohe Besuch sollte wohl nichts anderes als Entschiedenheit und Entschlusskraft gegenüber Peking demonstrieren, während dies als "erste Tat" nach den im US-Strategiepapier geäußerten Worten fungieren sollte.

Viele Sicherheitsexperten aber – egal ob aus Ost oder West – vermuten, dass für die Volksrepublik China jetzt der militär- und geostrategisch beste Moment wäre, um eine solche Operation zu organisieren. Die USA haben in ihrer NATO-Choreografie in Osteuropa eine sichtliche Mehrfachbelastung und müssten an mindestens zwei globalen Flashpoints gleichzeitig ihre Hegemonie wahren. Wenn eine den Iran involvierende neue Situation im Nahen Osten ausbrechen würde – dann wären es schon drei Flashpoints. Eine Leistung, die allzu viele Ressourcen aufbrauchen würde. Zumal es im US-amerikanischen Inland auch viele Herausforderungen gibt, die große Aufmerksamkeit und Führungskraft abverlangen. Das sind indes Tugenden, die der jetzigen US-Regierung immer seltener zugesprochen werden. Sie wären allerdings bitter nötig, um soziale Unruhen, extreme Versorgungsengpässe oder eine ideologische Spaltung des Landes zu überwinden und zu heilen. 

China ist – genauso wie Russland – eine Atommacht und hat einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat, mit Vetorecht. Alles bekannt. Eine direkte militärische Auseinandersetzung mit Peking würde für Washington verheerende Konsequenzen haben. Nach den ersten Wochen der militärischen Operation in der Ukraine ist bereits klar, dass den NATO-Streitkräften entweder die Hände weitestgehend gebunden sind, oder sie nie wirklich Beistand leisten wollten. Das Nordatlantische Bündnis hat zwar mit Kiew hoch gepokert, den Ukrainern selbst gegenüber aber letztendlich demonstriert, dass man keine Feinde braucht, wenn man "Freunde" in Washington hat. 

Ähnlich wie die Ukraine ist auch Taiwan kein NATO-Mitglied, und könnte am Ende von den US-Amerikanern im Stich gelassen werden, sobald die ersten Prognosen und Kalkulationen über ausufernden Kollateral- und Wirtschaftsschäden (aus einer direkten kriegerischen Auseinandersetzung mit Peking) eintrudeln.

Vogelperspektive

Am 24. Februar 2022 brach tatsächlich ein neues Zeitalter an. Hier muss man auch der deutschen Außenministerin Baerbock recht geben, wo es andernorts eher schwerfällt: Nämlich, dass wir an dem Tag alle in einer neuen Welt aufgewacht sind. Gerade werden die geostrategischen Karten neu gemischt (in einem solchen Maßstab ist es das erste Mal seit Ende des Zweiten Weltkrieges!). Und wenn man sich anschaut, wie der sogenannte "Ukraine-Krieg" (die ukrainische Führung hat Russland bisher nicht offiziell den Krieg erklärt; genauso wenig die Gegenseite) in den Massenmedien in den Wochen vor seinem Beginn förmlich herbeigeredet wurde, sollte man zumindest die hohe Wahrscheinlichkeit eines Taiwan-Anschlusses an Festlandchina nicht vollkommen ausschließen. Und auch nicht, dass Peking die Gunst der Stunde ergreifen könnte.

Die Insel Taiwan würde das erste Mal seit dem Ende der republikanischen Ära Chinas (1949) zur Führung des Festlandes gehören und ein ganzheitliches China verkörpern. Die Alternative – nämlich ein aktiv kriegerischer Einspruch seitens der USA dagegen – ist nur denkbar mit einer enormen Verausgabung des anglo-amerikanischen Establishments und seiner Verbündeten. Eine Verausgabung, die dessen derzeitigen Zerfall nur beschleunigen würde. Das verstehen die Russen. Das verstehen die Chinesen. 

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