von Dagmar Henn
Es gibt viele verschiedene Arten, mit Begriffen umzugehen. Man kann sie als leere Hülsen verwenden, um eine freie Stelle in einem Satz zu füllen, der noch ein wenig Dekoration braucht, oder man kann über ihren Sinn nachgrübeln, bis sie sich auflösen, und alles dazwischen. Aber meistens werden sie bei uns in der ersten Art gebraucht. Im Augenblick kann man das am Begriff der Demokratie gut beobachten.
Es ist in Deutschland schon lange her, dass das nicht automatisch mit "repräsentativer Demokratie" übersetzt wurde, mal abgesehen von einem kurzen Aufflackern, als direktdemokratische Verfahren wie Volksentscheide in Mode waren. Vor einigen Jahrzehnten wurde wenigstens noch in den Schulen gelehrt, dass es unterschiedliche Formen der Demokratie gibt, jede mit ihren Vor- und Nachteilen. Die Athener Demokratie beruhte beispielsweise vor allem auf Losverfahren; wer gezogen wurde, hatte schlicht das entsprechende Amt zu erfüllen. In der Schweiz gibt es viele Volksentscheide; und es gab auch noch die Form der Rätedemokratie, in der nicht Parteien, sondern die Wähler die Kandidaten aufstellen und ihren Auftrag auch wieder zurücknehmen können.
Es gibt Demokratien, in denen die Mitgliederstärke von Parteien ausschlaggebend ist, und andere, in denen das Wahlkampfbudget und die Industriespenden entscheiden. Formell betrachtet sind das alles Varianten, die sich hinter dem Begriff Demokratie verbergen. Wobei man nicht vergessen darf, dass auch der vordere Teil des Begriffs, also die Bestimmung des Volks, das da entscheidet, veränderlich ist – in Athen umfasste der Begriff nur die männlichen Freien, nicht die Sklaven, noch im preußischen Dreiklassenwahlrecht nur Männer oberhalb eines bestimmten Einkommens – und die gegenwärtige Definition der Menge aller volljährigen Staatsbürger vergleichsweise neu ist.
Der Grundgedanke der Demokratie ist relativ simpel und verständlich, kollidiert aber in verschiedener Weise unvermeidlich mit der Realität, in der "das Volk" aus Gruppen zusammengesetzt ist, die höchst unterschiedliche Bedürfnisse und Interessen haben, die sich aber zudem auch darin unterscheiden, wie gut sie ihre Interessen durchsetzen können. Beispielsweise wohnt die Hälfte der Bundesbürger zur Miete; also müsste, rein nach Köpfen in der Bevölkerung betrachtet, die Gesetzgebung sehr mieterfreundlich sein. Schließlich sind es nur zwei Prozent der Bevölkerung, die mehr an Wohnraum besitzen, als sie selbst nutzen. Dennoch hat sich die Gesetzgebung in den letzten Jahrzehnten immer vermieterfreundlicher entwickelt. Warum? Weil sich, solange politische Aktivität und Interesse in der Mehrheit der Bevölkerung niedrig sind, sich die ökonomisch Stärksten durchsetzen, auf verschiedenen Wegen. Etwa, weil sie sich selbst einfacher politische Tätigkeit leisten können; weil sie genehme Personen fördern können; weil sie Lobbyisten bezahlen können, deren Job es ist, ihre Interessen zu vertreten, und manchmal auch schlicht, weil sie für entsprechende Entscheidungen bezahlen, auf die eine oder andere Art.
Politische Kommunikation funktioniert zudem in zwei Richtungen. Anders gesagt: Jede Regierung versucht, die Bevölkerung zu beeinflussen. Das durften wir in letzter Zeit ausgesprochen massiv erleben, rund um Corona, aber auch zuvor schon in anderen Zusammenhängen. Wenn sich ökonomisch mächtige Interessen und die Regierung zusammentun, wie das beispielsweise bei der Einführung der Hartz-Gesetze der Fall war, dann wird dem vermeintlichen Souverän, dem Volk, so lange die Seele zurechtmassiert, bis es endlich glaubt, was es glauben soll; im damaligen Fall, dass Erwerbslose eigentlich gefährliche Schmarotzer seien.
Je effizienter solche Methoden sind, desto weniger bleibt von der Demokratie, die man sich beim unschuldigen Lesen des Grundgesetzes so vorstellt, eigentlich übrig. In einer berühmten Studie der Universität Princeton wurde für die Vereinigten Staaten einmal untersucht, wie häufig Entscheidungen des dortigen Parlaments im Interesse der Bevölkerungsmehrheit, und wie häufig sie im Interesse der sehr Reichen getroffen wurden. Das Ergebnis war eindeutig und wurde vielfach eine Oligarchie genannt.
Ein ähnliches Ergebnis sehen wir gerade in Deutschland. Nachdem acht Jahre lang ununterbrochen über das aggressive, undemokratische Russland und seinen unentschlüsselbaren Präsidenten geschrieben wurde (und nachdem zwei Jahre Corona eine dauerhafte Erfahrung der Hilflosigkeit verpasst haben), lassen sich die Bürger dieses Landes geradezu mühelos in Panik versetzen und hinter einen Verbündeten schieben, vor dem ihnen grausen sollte. Nur, selbst wenn augenblicklich die Mehrheit der Sicht der Regierung folgt – ist das tatsächlich ein demokratisches Ergebnis, wenn zuvor die Sicht derart langwierig und konsequent beeinflusst wurde, dass nicht einmal Sportberichte mehr frei waren von den ständigen Angriffen? Hätte tatsächliche Demokratie nicht auch zur Voraussetzung, dass Versuche, die öffentliche Meinung zu manipulieren, zumindest eingeschränkt sind?
Genau das war ursprünglich einmal die Funktion gewesen, die die Vorgabe einer objektiven Berichterstattung gehabt hatte. Abgesehen davon, dass wirkliche Objektivität eine ungelöste Aufgabe bleibt – es hatte zumindest als unmoralisch gegolten, das Publikum mit allen Tricks zu einer bestimmten Sicht zu bewegen. Das hat sich längst geändert. Die Kampagne für Hartz IV, die sämtliche Medien umfasste, bis in die fiktiven Formate hinein, kannte bereits keinerlei Hemmungen mehr. Wie denn auch? Es ging schließlich darum, eine Entscheidung, die der breiten Mehrheit der Bevölkerung massiv schaden würde ("der beste Niedriglohnsektor Europas"), so darzustellen, dass sie im ungünstigsten Falle nicht abgelehnt, im günstigsten aber sogar begrüßt würde.
Woraus man im Grunde eine Lehre ziehen kann: Je weiter das mit einer propagandistischen Kampagne angestrebte Ziel den eigenen Interessen der Mehrheit widerspricht, desto dichter und manipulativer muss sie sein. Mehr Gefühl und mehr Unschärfe bei allen verwendeten Begriffen. Codewörter wie "Regime", die die gewünschte Meinung klar signalisieren. Und zuletzt, das hatte mit "Putinversteher" begonnen und kehrte nun über den Umweg "Corona-Leugner" wieder dahin zurück, mehr oder minder subtiler Druck, ja nicht vom Pfad der Tugend abzuweichen. Gälte die alte Regel von der Objektivität noch, es hätte ebenso oft aus dem Donbass berichtet werden müssen wie aus Kiew ... Und vor allem hätte gelegentlich auch die Rede von Interessen sein müssen. Wie bei der Frage von Mietern und Vermietern.
Es ist nämlich die klare Benennung von Interessen, die es schwieriger macht, emotional zu manipulieren. Man stelle sich einmal vor, die ganzen Hartz-Gesetze wären ohne jede Seelenmassage davor und danach, sondern mit einer Identifizierung der Interessen auf den Tisch gelegt worden. Wollt ihr eine allgemeine Absenkung der Löhne zum Wohle der Eigentümer der deutschen Exportindustrie? Die Zustimmung hätte sich in engen Grenzen gehalten. So, wie die Zustimmung zu einer Erhöhung der Rüstungsausgaben sich ebenfalls in engen Grenzen hielt, über Jahrzehnte. Und plötzlich ... ja, eine gute Kampagne, vor allem eine, bei der "Werbung" nicht dransteht, ist einiges wert. Wobei, nennt man das in politischen Zusammenhängen nicht eher Propaganda?
Eine Demokratie, die der Übersetzung "Volksherrschaft" zumindest so weit entspricht, dass die Interessen der Bevölkerungsmehrheit wenigstens eine Chance haben, sich durchzusetzen, braucht strenge Regulierungen der Manipulationsmöglichkeiten. Dazu sollte einmal das öffentlich-rechtliche Fernsehen dienen, weil es nicht von Konzerninteressen geprägt ist – da stand die Macht, die der Pressekonzern Hugenberg in der Weimarer Republik entfaltete, noch vor Augen. Aber inzwischen passt kein Blatt Papier mehr zwischen Konzernmedien und öffentlich finanzierte Sender , und beide arbeiten mit der gleichen Emotionalisierung, der gleichen Verleugnung realer Interessen. Bezogen auf den demokratischen Prozess ist das geradewegs eine Umkehrung: Nicht das Volk wählt sich eine Regierung; eine Regierung macht sich ihr Volk.
Tatsächlich ist dieser Prozess, der den demokratischen Gehalt der Politik letztlich negiert, bei uns schon sehr weit fortgeschritten und dabei, die letzte Schwelle zu überspringen, die des offenen Verbots nicht genehmer Inhalte. Es ist gelungen, nicht nur bestimmte Positionen, sondern ganze Debattenfelder mit einem Tabu zu versehen (alles, was "Interessen" diskutiert, beispielsweise, im Gegensatz zu "Werten"), und auch diesem letzten Schritt hat man sich in den vergangenen Jahren angenähert, durch offen installierte Zensurbehörden für bestimmte Medien. Direkte Verbote sind die logische Fortführung. Was übrig bleibt, sind rein formell noch demokratische Rituale.
Die so verteidigenswerte demokratische Ukraine ist uns da noch um einige Schritte voraus. Schließlich hat sie die Ebene der blanken Verbote schon 2014 erreicht, und diese Verbote wurden durch physischen Terror unterstützt. Die historische Erzählung, die verbreitet wird, hat mit der Realität wenig zu tun, betont aber konsequent eine einzige Behauptung: dass die arme Ukraine jahrhundertelang von den bösen Russen geknechtet worden sei. Und dass sie sich nur retten könne, indem sie sich voll und ganz dem Westen anschließt.
Mit den Interessen der Bevölkerungsmehrheit hat das so wenig zu tun wie bei uns die Geschichte von den schmarotzenden Erwerbslosen. Bis 2014 hatte sich die ukrainische Ökonomie noch halten können, dank ihrer Handelsbeziehungen zu Russland. Die wurden zwangsläufig gekappt, sobald die Zollfreiheit zur EU in Kraft trat; was den weiteren wirtschaftlichen Absturz des Landes, das einmal die reichste Sowjetrepublik gewesen war, bis hinab zum ärmsten Land Europas beschleunigte. Ein solches Ergebnis ist unverkennbar nicht im Interesse der Bevölkerungsmehrheit.
Aber diese Interessen kommen nicht zum Zug. Sie gerieten 2014 unter die Räder; unter anderem, weil mit Geld aus der EU eine Märchenwelt versprochen worden war, die sich auftäte, würde nur dieses Assoziationsabkommen unterzeichnet. Weil gleichermaßen die wüsteste nationalistische Propaganda gefördert wurde. Vitali Klitschkos Partei UDAR ist zur Gänze ein Kind der Konrad-Adenauer-Stiftung, die sich auch nicht zu fein war, den Nachwuchs der Nazipartei Swoboda zu fördern. Victoria Nulands Milliarden sind ebenfalls bekannt. Was heißt, die Manipulation war nicht nur massiv, sie kam auch noch von außen und diente vor allem externen Interessen; danach dann denen der ukrainischen Oligarchen, aber ganz und gar nicht den Interessen der gewöhnlichen Bürger. Die bekamen erst deutlich höhere Energiepreise, dann einen Zusammenbruch der Absatzmärkte für die dortige Industrie, und zu guter Letzt einen Bürgerkrieg. Und um das Ganze abzurunden, dann noch eine reinkarnierte SS mit übergesetzlichem Status. Unter solchen Voraussetzungen ist es natürlich möglich, das Interesse der Bevölkerung an, ja ihr Bedürfnis nach Frieden acht Jahre lang zu ignorieren. Daran änderte auch ein Austausch des Präsidenten nichts.
Wenn man nüchtern betrachtet, welcher Aufwand in dieser Bundesrepublik getrieben wurde, bis man gestern endlich die Volksgemeinschaft für den Ostlandritt konstituieren konnte, dann bekommt man eine Ahnung davon, wie dicht und wie allgegenwärtig die Propaganda in der Ukraine gewesen sein muss, um den gegenwärtigen Zustand dieses Landes herbeizuführen. Aber wenn man den Begriff Demokratie im Sinne von Volksherrschaft ansatzweise ernst nimmt und schon beim Betrachten der heutigen Bundesrepublik feststellen muss, dass davon nur noch schäbige Reste zu finden sind, wie kann dann in der Ukraine Demokratie herrschen? Wenn die Distanz zwischen den realen, alltäglichen Interessen der Mehrheit und der tatsächlichen Politik umgekehrt proportional zum Ausmaß der Emotionalisierung und Entleerung der politischen Kommunikation ist (Medien eingeschlossen), wie massiv ist die Manipulation, wenn objektiv in geradezu zerstörerischer Weise regiert wird?
Damals, vor acht Jahren, war durchaus schon bekannt, welche Kräfte sich in der Ukraine tummeln, und es hatte bereits einen vom Westen geförderten Präsidenten gegeben, Wiktor Juschtschenko, der Stepan Bandera zum Nationalhelden erklärt hatte. Das wird sich bessern, hieß es damals, die Ukraine wird sich europäisieren, was automatisch mit einschließen sollte, sie wird demokratischer. Jetzt, acht Jahre später, muss man leider feststellen, dass die Entwicklung in der anderen Richtung verlief. Westeuropa hat sich ukrainisiert. Bis dahin, grundlegende Interessen (in diesem Falle Nord Stream 2 an der Position, die der Handel mit Russland damals für die Ukraine hatte) preiszugeben und sie durch blindwütige Ausfälle gegen den selbst gebastelten Feind zu ersetzen. Für wirkliche Demokratie müsste inzwischen auch unser Land erst einmal in die Ausnüchterungszelle.
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