Will der Westen wirklich Krieg? Es ist Zeit für echte Staatskunst anstelle von Posieren

Anstatt sich zu mäßigen und sich wie Staatsmänner zu verhalten, haben westliche Politiker auf beiden Seiten des Atlantiks die letzten Wochen damit verbracht, einen Krieg heraufzubeschwören. Diesem unklugen, aufrührerischen Gerede von Politikern muss Einhalt geboten werden, bevor es einen unnötigen Konflikt entfacht.

Ein Kommentar von Paul A. Nuttall

Nach dem, was ich am vergangenen Wochenende gelesen und gehört habe, scheint es, dass es in Washington und London nicht wenige gibt, die einen Krieg mit Russland sehen wollen. Aber warum? Was würde ein Krieg bringen, abgesehen vom Verlust unschuldiger Menschenleben? Die Antwort lautet eindeutig: Ein Krieg würde ansonsten absolut nichts bringen.

Anstatt sich zu mäßigen und sich wie Staatsmänner zu verhalten, haben westliche Politiker auf beiden Seiten des Atlantiks die letzten Wochen damit verbracht, einen Krieg heraufzubeschwören. Diesem unklugen, aufrührerischen Gerede von Politikern muss Einhalt geboten werden, bevor es einen unnötigen Konflikt entfacht. Der US-Präsident Joe Biden kündigte beispielsweise an, dass "die Dinge schnell außer Rand und Band geraten könnten", und er forderte die Bürger seines Landes auf, die Ukraine zu verlassen, was andere Nationen einschließlich Großbritannien dazu veranlasste, umgehend mit derselben Aufforderung an die eigenen Staatsbürger nachzuziehen. Die Biden-Regierung hat Mittwoch, den 16. Februar 2022, zum Tag einer möglichen russischen Invasion erklärt, wobei der nationale Sicherheitsberater Jake Sullivan gar behauptete, dass dabei Bomben auf die ukrainische Hauptstadt Kiew regnen könnten.

Diese Wortwahl wurde vom untergeordneten britischen Staatsminister für die Streitkräfte James Heappey nachgeplappert, der sagte:

"Meine Befürchtung ist, dass das [eine Invasion] unmittelbar bevorsteht. Das heißt nicht, dass es definitiv passieren wird. … Aber dies ist eine Warnung, denn Minuten nachdem Putin den Befehl zum Angriff geben hat, könnten Bomben und Raketen auf ukrainische Städte fallen."

Die westlichen Medien machen sich genauso mitschuldig wie die Politiker, wenn sie auf diese Kriegsrhetorik zurückgreifen. Ein Blick auf die chauvinistischen Schlagzeilen des Wochenendes zeigt, dass der Öffentlichkeit Hysterie eingepeitscht werden soll: "Countdown zum Krieg" und "48 Stunden um Europa zu retten" waren nur zwei der Schlagzeilen auf den Titelseiten der Presse. Und bereits ein flüchtiger Blick auf US-Nachrichtensender wie CNN zeigte einen fast unstillbaren Appetit auf Konflikte.

Am vergangenen Freitag hatte ich einen Funken Hoffnung, dass sich die Vernunft endlich durchsetzen würde. Nach seinem Treffen mit dem russischen Verteidigungsminister Sergei Schoigu in Moskau erklärte der britische Verteidigungsminister Ben Wallace, dass "wir weiter versuchen werden", eine diplomatische Lösung zu finden. Anscheinend hatte er aber das Drehbuch noch nicht gelesen, denn innerhalb von 24 Stunden gab er später der Sunday Times ein Interview, in dem er sagte, es habe ein "Hauch von München" über den Bemühungen um diplomatische Lösungen der Krise geweht.

Für diejenigen, die den Hintergrund dieser Bemerkung nicht verstehen: Wallace verglich die Suche nach einem Ausweg aus dieser aktuellen Krise mit dem Versuch von Neville Chamberlain im Jahr 1938, mit Adolf Hitler über das Schicksal der Tschechoslowakei einig zu werden, also mit der letztlich gescheiterten Appeasement-Politik Großbritanniens und Frankreichs vor dem Zweiten Weltkrieg.

Diese Bemerkung löste auf fast allen Seiten ungläubiges Staunen aus. Wollte Wallace tatsächlich Wladimir Putin mit Hitler gleichsetzen? Weiß er nicht, dass Russland die größten Opfer im Krieg gegen das expansionistische Nazi-Deutschland, nämlich neben der verbrannten Erde 27 Millionen Menschenleben zu beklagen hatte?

Wenn Politiker heutzutage versuchen, ihren verinnerlichten "Winston Churchill" zu beschwören, sind die Ergebnisse fast immer unangebracht und gefährlich. Solche Beschwörungen wurden immer wieder als Vorwand für Krieg benutzt. Es würde sich lohnen, Ben Wallace daran zu erinnern, dass Winston Churchill einmal gesagt hat, dass "Quasseln immer noch besser ist, als Krieg zu führen". Heutige Politiker täten gut daran, diesen Rat zu beherzigen.

Aber warum geschieht das alles? Warum sind diese Politiker so erpicht darauf, über einen möglichen Krieg zu sprechen? Nennen Sie mich einen Zyniker, aber könnte es daran liegen, dass Biden in den Umfragen so schlecht abschneidet und bei den Zwischenwahlen im Herbst neutralisiert werden könnte? Oder dass Boris Johnson wegen seiner Partys während des Lockdowns in argen innenpolitischen Nöten steckt? Niemand kann das mit Sicherheit sagen, aber was ich weiß, ist, dass militärische Abenteuer im Ausland in der Vergangenheit gern dazu benutzt wurden, die Öffentlichkeit von Misserfolgen im Inland abzulenken. Wenn dies auch jetzt der Fall ist – und ich hoffe aufrichtig, dass ist es nicht – dann spielt man hier ein sehr gefährliches Spiel mit dem Leben vieler Menschen, das zu katastrophalen unbeabsichtigten Folgen führen könnte.

Das ist schon einmal passiert. Im Jahre 1914 zog ganz Europa wegen Drohungen, wegen Bündnissen und wegen mangelndem Dialog in den Krieg, schließlich in einen ersten Weltkrieg. Niemand wollte wirklich einen Krieg, weder König Georg V. noch Kaiser Wilhelm oder Zar Nikolaus. Aber kriegerische Sprache und Drohungen von Politikern führten zu einer militärischen Mobilisierung, die niemand mehr stoppen wollte oder konnte. Europa stolperte buchstäblich in einen Krieg.

Am Ende des Ersten Weltkriegs verstand niemand wirklich, warum er überhaupt begonnen wurde, und seitdem gibt es Streit unter Historikern um seine Ursachen. Geschichte hat die unheimliche Angewohnheit, sich zu wiederholen. Dies ist also ein herzlicher Appell an alle Politiker: Mäßigen Sie Ihre Rhetorik und hören Sie auf, sich wie Kriegshetzer des frühen 20. Jahrhunderts zu verhalten. Wir schreiben nicht das Jahr 1914, sondern das Jahr 2022, und ein potenzieller Konflikt heute wird erst recht nichts Gutes bringen.

Um es klar zu stellen, ich bin kein linker Antikriegsaktivist. Aber es ist offensichtlich notwendig, alle diplomatischen Lösungen auszuschöpfen, bevor Entscheidungen getroffen werden, die zum Verlust von Menschenleben führen. Bisherige Vereinbarungen müssen eingehalten und Kompromisse geschlossen werden. Das ist keine Beschwichtigung, keine Appeasement-Politik, wie das sicher einige Falken sehen möchten – es ist einfach gesunder Menschenverstand. Jetzt ist die Zeit für echte Staatskunst und nicht für billigen Chauvinismus oder politisches Gehabe und Posieren.

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Übersetzt aus dem Englischen.

Paul A. Nuttall ist Historiker, Autor und ehemaliger Politiker. Er war von 2009 bis 2019 Mitglied des Europäischen Parlaments und war ein prominenter Aktivist für den Brexit.

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