von Dagmar Henn
Seit Samstag ist die kanadische Hauptstadt Ottawa belagert. Tausende von Lastwagenfahrern stellten mit ihren Fahrzeugen die Straßen des Stadtkerns zu und haben sich für längere Zeit dort eingerichtet.
Auslöser der Proteste war die Einführung einer Impfpflicht für die Überquerung der Grenze in die USA, von beiden Seiten. Ungeimpfte Fahrer müssten nach ihrer Rückkehr nach Kanada in Quarantäne, was bei dem dichten Handelsverkehr zwischen den beiden Staaten einem Berufsverbot gleichkäme. Die Proteste hatten mit dem Aufruf zu einem Konvoi und einem Spendenaufruf auf GoFundMe begonnen, über den inzwischen mehr als zehn Millionen kanadische Dollar eingingen.
Die Reaktion der kanadischen Regierung unter Justin Trudeau ähnelt sehr der, die wir aus Deutschland zu den "Spaziergängen" kennen. Im Fernsehen erklärte Trudeau, Gegner des Impfzwangs seien rassistisch und frauenfeindlich, und man müsse überlegen, wie viel Toleranz man dieser Randgruppe entgegenbringen könne. Auf einer Pressekonferenz letzte Woche sagte er:
"Die kleine, randständige Minderheit von Leuten, die auf dem Weg nach Ottawa sind, drücken die inakzeptable Sicht aus, die sie haben; sie stehen nicht für die Sicht der Kanadier, die füreinander da waren, die wissen, dass der Wissenschaft zu folgen und einander zu schützen der beste Weg ist, um weiter unsere Freiheiten, Rechte und Werte als Land zu sichern."
Doch trotz dieser ziemlich kühnen Aussage ertrug er es nicht, den Protestierern begegnen zu müssen; ganz zufällig erwies er sich noch vor dem Eintreffen der Trucks in Ottawa als coronapositiv und entschwand in Quarantäne an einem unbekannten Ort. Von dort aus behauptete er dann noch, die Trucker hätten einer Suppenküche in Ottawa Essen gestohlen.
Das kanadische Fernsehen ging sogar so weit, hinter den Protesten der Lkw-Fahrer Russland zu vermuten; Nachrichtensprecher Nil Koksal interviewte den Innenminister und meinte dabei: "Angesichts der kanadischen Unterstützung für die Ukraine in der laufenden Krise mit Russland weiß ich nicht, ob es zu weit gegriffen ist, zu fragen. Aber es gibt Sorgen, dass russische Akteure diese Sachen anfeuern könnten, wenn der Protest wächst. Oder ihn sogar von Anbeginn angestiftet haben." Dass gewöhnliche, schwer arbeitende Menschen protestieren, scheint inzwischen mancherorts völlig unvorstellbar.
Die Wirklichkeit sieht natürlich wieder einmal anders aus, was auf den vielen Videos von diesem Protest auch zu sehen ist. Die beiden Kanadier, die den Spendenaufruf gestartet hatten, heißen Benjamin Dichter und Tamara Lich. Dichter ist Jude, und Lich gehört zum Volk der Metis. Inzwischen machen sich viele der Teilnehmer über die Zuschreibung lustig, sie seien eine "kleine, randständige Minderheit". Es gibt sogar Tassen mit diesem Aufdruck: stolzes Mitglied der kleinen randständigen Minderheit.
Die vermeintlich rassistischen Demonstranten kommen tatsächlich aus allen ethnischen Gruppen Kanadas. Als Beispiel mag hier der folgende Fahrer dienen:
"Mein Name ist Singh, ich bin aus London/Ontario und bin hier für meine Freiheit und meine Rechte. (…) Es geht nicht um die Impfung, es geht um die Entscheidungsfreiheit. Ich hasse es, wenn die Regierung mir unter Zwang sagt, was ich tun soll."
Sikhs stellen eine größere Gruppe unter den kanadischen Truckern, und Sikh-Gemeinden entlang der Strecke versorgten den Konvoi auch mit Nahrung. Erstaunlicherweise hatten sogar die Kirchen in Ottawa erklärt, sie würden den Demonstranten Essen und Schlafplätze bieten.
Die kanadische National Post schreibt dazu: "Was viele Beobachter übersehen haben, ist die klare Klassenspaltung, die von den Protesten offengelegt wird. Während Staatsbedienstete und andere, die in einer endlosen Folge von Zoom-Konferenzen von zu Hause arbeiten können, von den Lockdowns wenig betroffen sind, waren die Folgen für Arbeiter verheerend. Für sie sind die Freiheitsbeschränkungen, die aus Lockdowns und Impfpflicht resultieren, existenziell und wörtlich damit verbunden, die Arbeit zu verlieren und die Miete nicht mehr bezahlen oder kein Essen mehr auf den Tisch stellen zu können."
Dabei sind es bei Weitem nicht nur ungeimpfte Trucker, die protestieren. 80 Prozent der Berufsgruppe sind geimpft, aber einen Zwang und damit ein Berufsverbot für ungeimpfte Kollegen lehnen sie trotzdem ab.
Obwohl die Hauptstadt inzwischen schon mehrere Tage lahmgelegt ist, gibt sich die kanadische Regierung nicht nur nicht kompromissbereit, sie will sogar noch nachlegen; Transportminister Omar Alghabra überlegte öffentlich, eine Impfpflicht sogar für Fahrten von einer kanadischen Provinz in die andere einzuführen. Dabei sind, wie in den Vereinigten Staaten auch, die Transportketten bereits fragil und die Angebote in den Supermärkten lückenhaft; zwei Drittel des Warenverkehrs zwischen Kanada und den USA erfolgen per Lkw.
Der Bürgermeister von Ottawa Jim Watson erklärte am Mittwoch, selbst ein Einsatz des Militärs gegen den Protest sei nicht ausgeschlossen. Auch der Polizeichef erklärte, je länger der Protest anhalte, desto überzeugter sei er, dass das mit polizeilichen Mitteln nicht zu lösen sei. Trudeau erwiderte darauf am Donnerstag, man müsse "sehr, sehr vorsichtig" beim Einsatz von Truppen auf kanadischem Boden sein, und es habe bisher keine derartige Anforderung der Regierung gegeben. Allerdings sind selbst die Möglichkeiten des Militärs gegen die großen Lkw begrenzt. Der Protest ist, auch wenn er laut ist, weitgehend friedlich; die Polizei von Ottawa verteilte bisher ganze 30 Strafmandate, wegen Lärms oder Falschparkens.
Die Regierung weigert sich nach wie vor, mit den Truckern auch nur zu reden. Die National Post spottete darüber: "Es ist ironisch, dass gewählte kanadische Regierungsmitglieder wie autoritäre und größenwahnsinnige Diktatoren klingen, nachdem die Führer dieses Landes immer wieder Regierungen in Entwicklungsländern gepredigt haben, man müsse mit demokratischen und friedlichen Protesten verhandeln, statt sie niederzuschlagen, so wie Trudeau das im Fall der indischen Bauernproteste getan hatte."
Die Grenzblockade in Alberta hat nach Rücksprache mit Anwälten inzwischen eine Spur in jede Richtung freigegeben. Das Spendenkonto der Proteste ist mittlerweile zum zweiten Mal gesperrt. Die erste Sperre erfolgte Mitte Januar. Die Erklärung von GoFundMe lautete jedes Mal, man wolle die Verwendung der Mittel überprüfen. Allerdings erklärte Watson schon, er wolle versuchen, das Geld als Entschädigung für die Stadt zu beschlagnahmen. Politische Hintergründe sind also sehr wahrscheinlich.
Ob das die Fahrer beeindruckt, ist fraglich. Die Trucker selbst erklärten, sie blieben, solange es eben dauere, bis die Impfpflicht vom Tisch sei. Inzwischen ist ein weiterer Konvoi nach Toronto unterwegs.
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