von Dagmar Henn
Wandlitz ist ein Städtchen in der Nähe Berlins, das seine historisch bedeutsamen Zeiten als Wohnort der DDR-Regierungsmitglieder schon lange hinter sich hat und seitdem danach strebt, ein zweites Grünwald oder Potsdam zu werden. Aber auch in Wandlitz gibt es inzwischen "Spaziergänger", und um sie herum entspann sich am Montag eine Inszenierung, die den ganzen bizarren Zustand deutscher Politik wie unter einem Brennglas sichtbar machte.
Alles hatte eine Woche zuvor begonnen. Da war die Gruppe von etwa 200 "Spaziergängern" von der Polizei aufgehalten worden; der Musiker Boris Pfeiffer hatte nach Aussage von Augenzeugen versucht, an der Absperrung vorbeizukommen, war von einem Polizisten in den Schwitzkasten genommen worden und, als er wieder frei war und nachdem seine Personalien aufgenommen wurden, zusammengebrochen; er starb schließlich im Rettungswagen auf dem Weg ins Krankenhaus. Die Obduktion ergab als Todesursache einen Herzinfarkt.
In der Pressemitteilung der Polizei Brandenburg wird bestätigt, dass Gewalt angewandt wurde: "Der 53-Jährige hatte bei der Versammlung versucht, die Polizeikette zu durchbrechen, wurde daran allerdings durch Einsatz einfacher körperlicher Gewalt gehindert (körperliches in den Weg stellen, aufhalten und wegdrücken)." Die Polizeikette diente, das ergibt sich aus der Pressemitteilung, dem Versuch, die Versammlung aufzulösen. Schließlich wird ihm in dieser Erklärung nicht nur Widerstand gegen die Staatsgewalt vorgeworfen, sondern auch, sich nicht unverzüglich von einer aufgelösten Versammlung entfernt zu haben.
Die Augenzeugen bemängeln unter anderem, dass der Rettungswagen viel zu spät gekommen sei; andererseits heißt es aber auch, Polizisten hätten Hilfe geleistet. Die Polizei betont, es sei keine unverhältnismässige Gewalt eingesetzt worden. Wie immer in solchen Fällen wird es dauern, bis der Ablauf eindeutig geklärt ist. Was allerdings klar ist: Hätte der "Spaziergang" wie in der Woche zuvor ohne polizeiliches Eingreifen stattfinden können, wäre es vermutlich nicht zu diesem Todesfall gekommen.
Die Beobachtung zeigt, dass es Zufall ist, wann an welchem Ort wie eingegriffen wird, weil mittlerweile so viele dieser "Spaziergänge" stattfinden, dass sie in der Breite gar nicht mehr verhindert werden können. Also erwischt es einmal den einen, dann den anderen Ort mit einem größeren Polizeieinsatz, bei dem dann aufgehalten und eingekesselt werden kann. Dass es an jenem Tag Wandlitz war, war ein unglücklicher Zufall.
Es war allen klar, dass es an diesem Montag vor allem darum gehen wird, des Musikers zu gedenken. Und eigentlich war anzunehmen, dass diese Veranstaltung größer wird als die vergangenen. Stattdessen gab es eine Vorführung in Manipulation.
Schon nach dem Tod des Musikers hatte die örtliche Zeitung, die Märkische Oderzeitung (MOZ), auf subtile Weise Stimmung gemacht. Auf Telegram hatte, nicht allzu lang übrigens, ein Video kursiert, das angeblich aus Wandlitz stammte, in Wirklichkeit aber aus Bernau kam und zeigte, wie ein Mann von einem Polizisten rückwärts zu Boden gestoßen wird. Dass dieses Video fälschlicherweise für eine Aufnahme aus Wandlitz gehalten wurde – so etwas passiert öfter. Die in diesem Video gezeigte Gewalt ist dennoch real, auch wenn sie mit dem Wandlitzer Todesfall nichts zu tun hat. Die MOZ machte daraus aber "Desinformation" und hob sogleich hervor, es sei auch über die "rechtsextremen 'Freien Sachsen'" weitergeleitet worden.
Der einzige Teil dieser Information, der im Zusammenhang mit dem Tod des Musikers relevant war, ist, dass es eben nicht diesen Vorfall zeigt. Das mag in einem solchen Artikel erwähnenswert sein, selbst wenn örtliche Leser sofort erkennen können, wo dieses Video aufgenommen wurde. Die Betonung der "rechtsextremen Freien Sachsen" aber erfüllte keine andere Funktion, als den Musiker in eine Ecke zu stellen, in die er nicht gehörte – genauso wenig wie die übrigen "Spaziergänger" in Wandlitz übrigens.
Auch das Ende des Nachrufs in der MOZ ist ähnlich diffamierend. Er habe sich im vergangenen Jahr von der Band "In Extremo" getrennt. Zitiert wird die damalige Presseerklärung der Band; der geschaffene Subtext aber, der durch diese beiden Einfügungen entsteht, lässt den Musiker als zweifelhafte Persönlichkeit erscheinen.
Interessanterweise waren auf jenem fatalen "Spaziergang" auch mehrere örtliche Vertreter der Linken anwesend gewesen – die es allerdings fertigbrachten, ihre Haltung innerhalb weniger Tage vollständig ins Gegenteil zu verkehren.
Der Bürgermeister der Gemeinde Wandlitz hatte zwar auf der Webseite der Gemeinde sein Mitgefühl mit den Angehörigen bekundet, aber gleichzeitig dazu aufgefordert, die "Spaziergänge" als Kundgebungen anzumelden und einen Versammlungsleiter zu benennen. Es gab eine gemeinsame Erklärung aller Fraktionen des Gemeinderats außer AfD und Linken, in der unter anderem stand: "Wir appellieren aber an Bürgerinnen und Bürger, die sich welchen Demonstrationen auch immer anschließen wollen, dass diese nur unter Einhaltung der geltenden Regeln des Versammlungsrechts und der Corona-Eindämmungsverordnung sicher und einwandfrei stattfinden können." Die rechtliche Kollision zwischen der Eindämmungsverordnung und dem Grundrecht wird hier ausdrücklich verleugnet.
Am Sonntag meldete die MOZ den Skandal: Die Kundgebung am Montagabend war von einem AfD-Mitglied angemeldet worden! Und dann passiert das Erwartbare: Es wird zu einer Gegenkundgebung aufgerufen, diesmal auch von der Linken. "Wandlitz bleibt bunt", garniert mit so tollen Losungen wie "Klar denken statt querdenken", "Wandlitz gegen rechte Hetze" und "Wir demonstrieren friedlich, demokratisch und coronakonform".
Die MOZ war in ihrem gedruckten Artikel am Montag immerhin so ehrlich, die Vorgeschichte mitzuliefern. "Tatsächlich wurde in der Telegram-Gruppe 'Wandlitz steht auf' immer wieder nach Freiwilligen gefragt, die die Verantwortung übernehmen wollen."
Warum hat niemand aus der Wandlitzer Linkspartei die Kundgebung angemeldet? Dann hätte es nie einen Zusammenhang mit der AfD gegeben. Aber die Wandlitzer Linke, die an dieser "Gemeinsamen Erklärung" erst nicht beteiligt gewesen war, hatte wohl nicht den Mut, diese Kundgebung anzumelden. Ja, sogar der Bürgermeister selbst hätte das tu, statt einer kurzen digitalen Beileidsbekundung zu den Bürgern der Stadt sprechen und vielleicht sogar die Gräben zwischen den Maßnahmengegnern und den -befürwortern etwas überbrückenn können. Der einzige Grund, das ergibt sich aus dem Bericht der MOZ ebenso wie aus den Aussagen Beteiligter, warum diese Kundgebung von einem AfD-Mitglied angemeldet wurde, war, dass sich sonst keiner gefunden hatte.
Die AfD verhielt sich natürlich so wie jede andere parlamentarische Partei, die Zugang zu Protesten bekommt: Sie versuchte, sich mit beiden Hinterbacken draufzusetzen. So, wie die Grünen es auch immer machen, ebenfalls meist nicht zur Freude der so Beglückten. Sie brachte Bühne, Lautsprecher und Parteidekoration für die Bühne, was natürlich den Protest wie das Gedenken verzerrte.
Beide Kundgebungen fanden statt, und bei beiden überlagerte das politische Theater das wirkliche Geschehen. Die Gegenkundgebung war nur deshalb gleich groß wie die Kundgebung, weil Mitarbeiter der Gemeinde verpflichtet worden waren, daran teilzunehmen (hoffentlich waren das wenigstens bezahlte Überstunden), und dank des Köders AfD importierte Antifa zur Verstärkung angerückt war. Die eigentliche Kundgebung wiederum war nicht das, was sie hätte sein können, weil es mehrere Redner gab, die nicht vor AfD-Dekoration reden wollten. Es waren beispielsweise auch Vertreter der Partei "Die Basis" anwesend. Letztlich wurde so der legitime lokale Protest in einer Art Zangenbewegung erstickt.
Aber wie legitim ist es eigentlich, mit großem Pathos zu einer Gegendemonstration aufzurufen, wenn man zuvor selbst das Spielfeld freiwillig räumte? So, wie in den Bundestagsdebatten die Linke inzwischen selbst die Zuspitzung der sozialen Aspekte der AfD überlässt, so kneift auch die kleine Variante in der Kleinstadt, geht auf Distanz zu Protesten, die sie hätte stützen können, und bastelt dann einen großen Vorwurf daraus, wenn andere sich die Gelegenheit zunutze machen. Da braucht man sich nicht zu wundern, wenn vielen inzwischen die Begriffe links und rechts untauglich scheinen.
Bürgerliche parlamentarische Parteien sehen Proteste nur als Werbemöglichkeit, als Gelegenheit, passende Bilder zu erhalten. Das sieht man bei den Grünen immer so schön, die sich irgendwo protestierend mit einem Transparent aufstellen, drei Minuten bevor die Fotografen kommen, und ihr Transparent sofort einrollen und den "Protest" beenden, wenn die Fotografen wieder weg sind. Die AfD folgte da nur dem bekannten Muster. Aber die Linke entstammt zumindest einer anderen Tradition, die in Protesten einen Akt der Selbstermächtigung sah, der politisches Bewusstsein schaffen kann, und nicht vor allem eine Gelegenheit, sich selbst in Szene zu setzen. Was sie allerdings am Montag tatsächlich getan hat, ist genau das: sich selbst, mit den übrigen Fraktionen der Gemeinde, vermeintlich werbeträchtig in das Gewand des "Guten" zu hüllen, gegen ein "Böses", das man selbst mit geschaffen hat.
Dabei hat die Maßnahmenpolitik die armen Teile der Bevölkerung weiter verarmt, den Reichen Milliarden in die Kassen gespült, den Arbeitenden die grundlegenden politischen Rechte genommen und ihren Alltag in einen kafkaesken Hindernislauf verwandelt, während Pharmalobbyisten darüber entscheiden durften, wie weit sie vor die Haustür gehen dürfen und wann. Es ist ein ganz normaler Querschnitt der Bevölkerung, der dagegen protestiert, und er tut es begründet. Nach der ursprünglichen Einteilung sind das linke Proteste. Spätestens seit dem ersten NPD-Verbotsverfahren ist es klar, dass die Anwesenheit von Neonazis staatlicher Steuerung unterliegt und die Haltung, jeder Demonstration fernzubleiben, auf der solche auch nur mitlaufen könnten, also letztlich dazu führt, sich vom Verfassungsschutz (und damit von den Herrschenden) vorgeben zu lassen, wofür oder wogegen man demonstriert.
Bleibt zu hoffen, dass die Wandlitzer "Spaziergänger" dennoch nicht den Mut verlieren und sich weder von der hasenfüßigen Linken noch von der besitzergreifenden AfD den Schneid abkaufen lassen. Am nächsten Montag ist vielleicht Gelegenheit zu dem ehrlichen und offenen Gedenken, das diesmal vom politischen Theater überstrahlt wurde (nicht zu vergessen das Dutzend Mannschaftswagen in den Nebenstraßen). Das Versammlungsrecht ist zu wichtig, um es wegen einer inszenierten Erzählung preiszugeben.
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