von Dagmar Henn
Schon mal eine Hyperinflation erlebt? Die Generation, die sie im Jahr 1923 in Deutschland bewusst miterlebt hat, ist inzwischen ausgestorben. Ich hatte 1988 in Brasilien das Vergnügen. Der Gang in den Supermarkt wurde zum Abenteuer; man konnte vorher nie wissen, welche Waren man zu welchem Preis erwerben würde. Wann immer man Geld in die Hände bekam, versuchte man so schnell wie möglich, es in Dinge umzusetzen. Die Wohlhabenden flüchteten in den Dollar, und teurere Güter wie Autos wurden in der einheimischen Währung schon gar nicht mehr angeboten. Die Währung wechselte in dem einen Jahr, das ich in Brasilien verbrachte, einmal den Namen, unter Streichung von drei Nullen. Münzen gab es kaum, weil der Metallwert sofort den Geldwert überstieg.
Eine Hyperinflation ist ein verrückter Zustand. Weil die Löhne den Preissteigerungen ständig hinterherhinkten, gab es in dem Jahr drei Generalstreiks und ständig Arbeitskämpfe irgendwo. Seitdem weiß ich aber auch, dass Überweisungen von einer Bank zur anderen viel schneller gehen können, als das bei uns üblich war, weil sie quer durch Brasilien nicht länger als eine halbe Stunde brauchten – nicht Tage, wie das bei uns nach wie vor die Norm ist.
Eine simple Beobachtung macht aber klar, dass die Inflation, die wir augenblicklich erleben, ungewöhnlich ist. Wie das Beispiel der brasilianischen Hyperinflation zeigt, wechselt das Geld normalerweise während einer Inflation schneller die Besitzer; je höher die Inflation, desto höher die Umlaufgeschwindigkeit. Es gibt natürlich statistische Werte, die das erfassen. Sie laufen unter den Bezeichnungen V2 oder V3, und ergeben sich jeweils aus dem Bruttoinlandsprodukt geteilt durch die Geldmengen M2 (für V2) oder M3 (für V3). Man kann sowohl die Geldmengen als auch die Umlaufgeschwindigkeiten für einzelne Währungsgebiete problemlos im Internet finden und wird feststellen, dass die Geldmengen spätestens ab 2008 massiv gestiegen sind; allerdings nicht im Bereich des Bargelds, sondern in dem des virtuellen Geldes. Abgesehen vom Ende letzten Jahres, als in den USA die Geldmenge M1 plötzlich deutlich anstieg. Gleichzeitig aber, und das ist das Verblüffende, nahmen die Werte für V2 und V3 ab; V2 ist in den USA regelrecht abgestürzt.
Eine spürbare Inflation und ein sich verlangsamender Geldumlauf? Das ist eine eigenartige und völlig neue Kombination. Sie beruht nur zum Teil darauf, dass Haushalte wegen Corona weniger Geld ausgegeben haben. Das Geld, das Haushalte von gewöhnlichen, lebenden Menschen zur Verfügung haben, findet sich überwiegend in M1. Massiv angewachsen ist aber M3. Das ist Geld, das die Banken selbst erzeugen; etwa, indem sie Staatsschuldverschreibungen kaufen, dann bei der Zentralbank als Sicherheit hinterlegen und beleihen. Dieses virtuelle Geld ist es, das das Ansteigen der Aktienkurse seit der Finanzkrise 2008 ermöglichte und damit, weil die Aktienkurse auch ins Bruttoinlandsprodukt einfließen, die Fiktion einer wirtschaftlichen Erholung ermöglichte.
Die enormen Geldmengen, die seit 2008 durch die Banken geschaffen wurden, sind zu allergrößten Teilen nie in der realen Ökonomie angekommen; trotz der geradezu aberwitzigen Umlaufgeschwindigkeiten, die so etwas wie der Hochfrequenzhandel an den Börsen erzeugt.
Es gibt zwei Erklärungsansätze für Inflation. Der erste bezieht sich auf das reale Angebot an Waren; Preise steigen, wenn Waren knapper werden. Das spielt bei der momentanen Entwicklung sicher eine Rolle. Die Unterbrechung der Lieferketten, die 2020 durch die Corona-Maßnahmen weltweit ausgelöst wurde, sind bis heute nicht behoben und beeinflussen das Angebot massiv. Die steigenden Energiekosten beeinflussen sie auch, sie werden aber zumindest in Europa in der Kerninflation nicht mitgerechnet. Allerdings wird die CO₂-Steuer ihr Scherflein zur momentanen Preisentwicklung beigetragen haben.
Die andere Erklärung für Inflation bezieht sich auf die Entwicklung der Geldmenge. Geld ist, sobald es selbst keinen materiellen Wert besitzt (was alles oberhalb des Münzgeldes betrifft), nur ein Stellvertreter für Wert. Wenn die Menge des Geldes erhöht wird, entfallen logischerweise mehr Geldeinheiten auf eine Werteinheit. Das entspricht dann steigenden Preisen.
Die Inflation, die im Deutschland des Jahres 1923 herrschte, war tatsächlich das Ergebnis ausgeweiteter Gelderzeugung. Die Regierung hatte damals ein Interesse daran, die eigene Währung zu entwerten, weil sie damit zum einen die internen Schulden aus dem Ersten Weltkrieg loswerden konnte, und zum anderen, weil damit Druck für erneute Verhandlungen über die Reparationen aus dem Versailler Vertrag ausgeübt werden konnte. Für die Bevölkerung keine angenehme Erfahrung. Einige berüchtigte Spekulanten wie Stinnes oder Quandt konnten allerdings dabei ihre Nasen weiter vergolden.
Das Beispiel der Inflation von 1923 macht noch einen weiteren Faktor sichtbar, der bei Inflationen eine Rolle spielt. In kleinerem Maßstab wurde und wird die gezielte Abwertung der eigenen Währung oft zur Stützung der Exporte genutzt. Die deutsche Industrie mit ihrer extremen Exportorientierung zieht auf diesem Weg ihren Hauptvorteil aus dem Euro. Da der Wechselkurs zwischen zwei Währungen in der Regel die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der beiden Staaten widerspiegelt, der des Euro sich aber auf die Leistungsfähigkeit der ganzen Eurozone bezieht, nicht auf die Deutschlands, ist er aus deutscher Sicht angenehm unterbewertet. Das ist natürlich ein Vorteil, der sich auf die Exportwirtschaft begrenzt; die gewöhnlichen Konsumenten haben dadurch mehr Nachteile als Vorteile. Aber die deutschen Exportprodukte werden auf diese Weise außerhalb der Eurozone günstiger angeboten, als das mit einem Wechselkurs in D-Mark möglich gewesen wäre.
Die brasilianische Hyperinflation war, wie die deutsche 1923, ebenfalls ein Produkt der externen Verschuldung; die Währung ist im Verhältnis zu anderen, insbesondere zum US-Dollar und zur Mark, ins Bodenlose gestürzt und trieb damit die Preise für sämtliche Importwaren nach oben. Spielchen mit der Inflation können sich nur ökonomisch starke Staaten mit ausgeglichener bis positiver Handelsbilanz leisten.
Die Eurozone hat immerhin einen Handelsbilanzüberschuss von 234 Milliarden im Jahr 2020. Die USA hatten ein Handelsbilanzdefizit von 975 Milliarden. Aber sie haben einen gewaltigen Vorteil, der sie davor bewahrt, dass sich dieses Handelsbilanzdefizit in entsprechend massive Preiserhöhungen für Importe umsetzt – sie besitzen die Weltreservewährung. Noch. Das allerdings kann sich mit der Verschiebung der globalen Machtverhältnisse abrupt ändern. Schlimmer noch, mit angedrohten Maßnahmen wie dem Ausschluss Russlands aus SWIFT, durch den das bereits bestehende Alternativsystem aktiviert würde, erwägen sie Schritte, die das Ende des Dollars als der Währung, in der global gehandelt wird, beschleunigen würden.
Die Tatsache, dass viele Rohstoffe in Dollar gehandelt werden, zwingt mehr oder weniger alle Staaten, Devisenreserven in Dollar zu halten. Das ist der Faktor, der den Dollar und die US-Ökonomie trotz des industriellen Niedergangs stabil gehalten hat. Bisher konnten die USA, auch durch militärische Eingriffe, verhindern, dass der Dollar ersetzt wird. (Frankreich hängt in ähnlicher Weise am CFA-Franc, der eine Fortsetzung kolonialer Verhältnisse ermöglicht, und hat ebenfalls schon Regierungen gestürzt, die versuchten, dem CFA-Franc zu entkommen). Wenn sich allerdings Russland und China völlig aus der Dollarzone herausbewegen sollten, können die USA das nicht verhindern. Das Ergebnis wäre ein haltloser Absturz des US-Dollars.
Mehr noch. Die ungeheuren Geldmengen, mit denen seit 2008 die Illusion einer funktionierenden Ökonomie aufrechterhalten wird, sind nicht wirklich unschädlich. An den Stellen, an denen doch Teile davon in die reale Ökonomie flossen, auf dem Immobilienmarkt beispielsweise oder selbst auf dem Markt für Ackerland, haben sie die Preise ungeheuer aufgeblasen. Gleiches gilt für Aktien. Das ungeheure Vermögen der so einflussreichen Milliardäre besteht längst überwiegend aus Luft. In all diesen Bereichen würde ein Sturz des Dollars die Blasen zum Platzen bringen, und insbesondere die Superreichen wären ganz plötzlich wesentlich weniger reich. Denn es ist nur das Machtverhältnis, das die Währungen des Westens noch stabil hält. Das Verhältnis zwischen der virtuellen Geldmenge M3 und den real vorhandenen Werten wird in dem Moment Wirklichkeit, in dem der Machtfaktor aus dem Verhältnis der dominanten westlichen Währungen, des US-Dollars und, etwas abgeschwächt, auch des Euro, zu den übrigen Währungen der Welt verschwindet. Dann wird aus der potenziellen Inflation, die durch diese Geldmengen erzeugt wird, eine ganz reale.
Im Grunde war jedem, der die Scheinlösung der Finanzkrise des Jahres 2008 beobachtete, klar, dass das ein Spiel auf Zeit ist und dass die Erträge aus der realen Produktion nicht unbegrenzt durch das Aufblasen von Aktienkursen ersetzt werden können. Corona war eine hervorragende Möglichkeit, auf der einen Seite einen realwirtschaftlichen Einbruch zu maskieren und auf der anderen Seite zumindest vorübergehend ein neues Spekulationsfeld zu schaffen. Aber auch dieses Manöver scheint gerade zu platzen.
Nun ist die Vorstellung, dass aus der potenziellen Inflation eine reale wird, schlimm genug, aber es gibt einen Faktor, der noch schlimmer ist. Denn die Versuchung, sich in eine physische Vernichtung realer Werte zu flüchten, ist hoch, und steigt, je wahrscheinlicher das Platzen der unzähligen Blasen wird. Dazu muss man zurückblicken auf die Jahre nach 1929.
Die Weltwirtschaftskrise, die 1929 begann, war erst 1945 zu Ende. Selbst die massiven Eingriffe des New Deal in den USA, bei denen unter anderem der Spitzensteuersatz auf 95 Prozent angehoben wurde, genügten nicht, die Wirtschaftsleistung der Zeit vor Krisenbeginn wieder zu erreichen. Erst die massive Vernichtung an Gütern durch den Krieg führte dazu, dass danach die Krise überwunden war. Dabei fanden nach 1929 nicht nur in den USA staatliche Großinvestitionen statt, die die Grundlage für die künftig dominanten Industriezweige legten, Strom- und Straßennetze (die Pläne für die Autobahnen, die nach 1933 gebaut wurden, lagen schon jahrelang in den Schubladen). Es reichte nicht aus. Die Spekulationswelle vor 1929 hatte weit mehr fiktives Kapital geschaffen, als angelegt werden konnte. Erst die ungeheuren Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs brachten die Ökonomie des Westens wieder ins Gleichgewicht.
Der Krieg war schon damals der letzte Ausweg der Milliardäre, ihren Reichtum und ihre Macht auf Kosten des Rests der Menschheit zu halten. Die Krise von 2008 hatte dieselbe Qualität wie jene des Jahres 1929, nur gab es diesmal keine Pläne in den Schubladen, und die politische Macht der obersten Schicht der Kapitalbesitzer war derart gewachsen (und der Widerstand von unten so schwach), dass selbst andere politische Maßnahmen in Richtung New Deal nicht möglich waren. Die zunehmende Inflation kann ein Anzeichen dafür sein, dass die Politik des Gelddruckens an ihr Ende gekommen ist. Das US-Imperium wankt nicht nur militärisch.
Dem Westen läuft, schlicht gesagt, die Zeit davon. Er muss sich in einen Krieg flüchten, ehe sich die Abgründe von 2008 wieder öffnen. Allein der Absturz der Firma Pfizer könnte dafür genügen. Und wieder einmal sind es die Interessen der Krupps, die denen der Krauses, die der Milliardäre, die denen der Millionen entgegenstehen.
RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.
Mehr zum Thema - US-Inflation on fire: 7,0 Prozent im Dezember – Rekordwert seit fast 40 Jahren