von Pierre Lévy
Emmanuel Macron will die rotierende EU-Ratspräsidentschaft, die Frankreich für sechs Monate innehat, nutzen, um seine Wiederwahl zu sichern. Nicht, dass die Befürworter der europäischen Integration die Mehrheit im Land darstellten, weit gefehlt. Aber sie bilden das Fundament seiner Wählerschaft von 2017, auf das er sich stützen will.
Im Dezember letzten Jahres zählte er wild durcheinander die "vorrangigen" Bereiche auf, in denen er glänzen wollte: Mindestlohn, Regulierung der digitalen Welt, Reform des Schengen-Raums, CO2-Besteuerung an den Grenzen und Förderung eines "souveränen" diplomatischen und militärischen Europas. In Brüssel lächelte man natürlich schief: Die halbjährliche Präsidentschaft hat eigentlich kaum ein anderes Vorrecht, als bereits eingeleitete Texte oder Initiativen voranzutreiben.
Aber dieses Macronsche Marketing ist nicht nur eine Angeberei, sondern wird von einer schädlichen Ideologie untermauert – wie die Rede, die der Herr des Élysée-Palasts am 19. Januar vor den Europaabgeordneten hielt, verdeutlicht. Der Staatschef knüpfte an die lyrische Arroganz an, die er 2017 an den Tag gelegt hatte. Als er Europa als "eine besondere Zivilisation" pries, mit einer "Zivilisiertheit, einer Art, in der Welt zu sein, von unseren Cafés bis zu unseren Museen, die unvergleichlich ist."
Wenn der Chauvinismus nicht national, sondern europäisch ist, scheint er eine modische Tugend zu sein... Und der Präsident ließ es sich nicht nehmen, den historischen Unsinn zu wiederholen, dass der Aufbau der Gemeinschaft "den Bürgerkriegen auf unserem Kontinent ein Ende gesetzt" habe. Und schmeichelte der Straßburger Versammlung als "Verkörperung unseres versammelten (europäischen) Volkes". Doch selbst die enthusiastischsten Europhilen wissen, dass es kein "europäisches Volk" gibt (und verzweifeln daran).
Er verweist jedoch auf drei "Versprechen" Europas, die derzeit "erschüttert" würden. Das erste ist der "Fortschritt", von dem er die Aspekte nennt, die ihm am meisten am Herzen liegen: die "klimatische Herausforderung", die "digitale Revolution" und "unsere Sicherheiten" – ein seltsamer "Progressivismus", der weder den sozialen noch den wissenschaftlichen Fortschritt erwähnt... Das zweite ist "der Frieden" im Kontext einer "aus den Fugen geratenen Welt". Angesichts dessen sei es die Berufung Europas, sich als "Macht des Gleichgewichts" zu etablieren, da unser Modell "eine universelle Berufung" habe. (Was würde man nicht alles hören, wenn der russische oder der chinesische Präsident derartige Äußerungen tätigen würden?) Daher das Plädoyer, um eine "neue Allianz mit dem afrikanischen Kontinent" zu gestalten (man kann sich vorstellen, in welchem Kräfteverhältnis); und um die Länder des westlichen Balkans anzubinden (hauptsächlich das ehemalige Jugoslawien). Genau in dem Moment, wo Brüssel Moskau immer wieder vorwirft, die Welt in Einflusszonen zu denken...
Schließlich und vor allem ist das dritte "Versprechen", das es zu halten und zu verteidigen gelte, "die Demokratie", die der Redner mit dem Rechtsstaat – "unserem Schatz" – gleichsetzt. Dieser Schatz sei durch eine Rückkehr zu autoritären Regimen bedroht, die von Mächten vor unserer Haustür und sogar von EU-Mitgliedsstaaten befürwortet würden.
Eigentlich ist Rechtsstaat ein aus der deutschen politischen Philosophie stammendes Konzept, das die Regeln über das Volk stellt. Während die französische Tradition im Gegensatz dazu die Volkssouveränität als allerletzte Legitimität fördert. Emmanuel Macron bestätigt dies implizit, wenn er sagt, dass "die universellen Menschenrechte vor den Fieberschüben der Geschichte geschützt werden müssen." Zu verstehen ist: vor den Fieberschüben der Völker. Auch das hochgelobte Modell des "Wohlfahrtsstaates" ist angelsächsischen Ursprungs ("welfare state"), während Frankreich (wie andere Länder auch) im Gegensatz dazu durch soziale Kämpfe strukturiert wurde.
In Wirklichkeit kann es kein europäisches Volk geben, weil es keine gemeinsame politische Kultur gibt – was nicht dramatisch ist. Außer für Emmanuel Macron, der sich nach seiner Jugend zurücksehnt, die, wie er vor den gerührten Europaabgeordneten deklamiert, die Zeit der "europäischen Selbstverständlichkeit" gewesen sei. Danach habe er, "wie viele von Ihnen hier, den großen europäischen Zweifel erlebt." An erster Stelle dieses Abstiegs in die Hölle nannte er das Referendum von 2005. Ein schönes Eingeständnis! Wie die unzähligen Befürworter (aus allen Lagern) eines "anderen Europas" ruft er also dazu auf, dieses "neu zu gründen".
Zu spät, Manu.
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