von Artjom Lukin
In den letzten Wochen wurde in den westlichen Hauptstädten viel darüber spekuliert, der (anscheinend mit Sehnsucht erwartete oder zumindest nach Kräften vorausgesagte) russische Einmarsch in die Ukraine werde zu einem "Guerillakrieg" mit Waffen aus US-amerikanischer Produktion führen. Und somit könne er den Präsidenten Wladimir Putin in einen Sumpf nach Art der Spätphase der sowjetischen Afghanistan-Kampagne stürzen.
Doch sollten solch apokalyptische Ereignisse jemals eintreten, scheint ein antirussischer Aufstand aus einer Reihe von Gründen unwahrscheinlich. Der wichtigste Grund ist, dass in dieser unserer heutigen Zeit grundsätzlich immer weniger Menschen bereit sind, zu den Waffen zu greifen.
Ende des Helden-Zeitalters
Vor einem Jahr schrieb ich einen Artikel, in dem ich argumentierte, dass die Menschen in modernen postindustriellen Gesellschaften zunehmend vor Gewalt zurückschrecken – sei es in den USA, in Russland oder eben in der Ukraine. Einige mögen sich zwar in irgendeiner virtuellen Realität mutig und aggressiv aufspielen – doch fast alle werden erstaunlich sanftmütig, wenn es im wirklichen Leben um regen Austausch kinetischer Energie in der Form beherzter Gewaltanwendung geht. Ein Grund für diese Zurückhaltung ist die Demografie: Junge hormongetriebene Männer, die sich leicht von politischen oder religiösen Ideologien entflammen lassen, waren schon immer die Haupttriebkraft für Kriege, Revolutionen und Aufstände. Doch aufgrund der Überalterung der Gesellschaft gibt es in den entwickelten, industrialisierten Ländern immer weniger junge Menschen. Und ähnlich wie der Rest Europas wird eben auch die Ukraine immer älter: Das mittlere Alter, nehmen wir den Median, liegt dort bei 41 Jahren.
Die jüngsten Ereignisse in Weißrussland, Hongkong, Russland und den Vereinigten Staaten, wo die Sicherheitskräfte politische Proteste rasch auflösen oder niederschlagen konnten, haben gezeigt: Selbst die relativ wenigen in diesen Ländern noch übrig gebliebenen jungen Männer sind nicht bereit, ihre persönliche Sicherheit zu riskieren, wenn sie roher Gewalt gegenüberstehen. Die Polizeigewalt, mit der die Regierung von Alexander Lukaschenko gegen die Demonstranten in den Straßen von Minsk vorging, war im historischen Vergleich nicht einmal besonders brutal, geschweige denn blutig. Doch selbst diese moderate Repression reichte aus, um die weißrussischen Stadtbewohner wieder zu beruhigen. Und wenn also die jungen Männer dort nicht bereit waren, bis zum Ende gegen Lukaschenko zu kämpfen, warum sollte man dann von ihren Nachbarn in der Ukraine erwarten, dass sie einen Kampf auf Leben und Tod gegen Putin führen würden?
Völlig naiv ist die Hoffnung, die viele im Westen erträumen, dass die Ukraine für Russland "ein weiteres Afghanistan oder Tschetschenien" werden wird. Die Ukraine ist schon deshalb kein Afghanistan, weil die modernen Ukrainer im Gegensatz zu Paschtunen oder Tschetschenen keiner derartigen Kriegergesellschaft angehören. Und selbst das widerspenstige Tschetschenien wurde von Moskau vor zwei Jahrzehnten erfolgreich befriedet. Ironischerweise bat das Oberhaupt der tschetschenischen Republik Ramsan Kadyrow seinen obersten Vorgesetzten Putin jüngst sogar um Erlaubnis, Kiew für den Kreml zu annektieren.
Der letzte größere militärische Konflikt in Europa war der Krieg im ehemaligen Jugoslawien in den 1990er Jahren. Damals besiegte die NATO mit eindeutig überlegener militärischer Macht die Serben schnell und zwang Belgrad dann ihren Willen auf. Und trotz allem serbischen Nationalismus kam es danach eben zu keinem serbischen Aufstand auf dem Balkan. Es ist dabei bemerkenswert, dass die Serben in vielerlei gesellschaftlich-kultureller Hinsicht den Ukrainern ähneln. Und ich frage mich, ob die russischen Militärplaner möglicherweise die Erfahrungen der NATO auf dem Balkan studiert haben, um sie gegebenenfalls auf die Ukraine anzuwenden.
Als weiteres anschauliches aktuelles Beispiel in Europa ist Katalonien: Dort musste Madrid lediglich auf den Straßen ein relativ zurückgehaltenes Maß an polizeilichem Zwang anwenden sowie einige wenige katalanische Anführer inhaftieren – und schon war die Separatistenbewegung in Spaniens reichster Region besiegt. Die Katalanen mögen zwar einen eigenen, souveränen Staat anstreben – doch sind sie nicht im Entferntesten bereit, die schmerzhaften Opfer zu erbringen, die ein echter Unabhängigkeitskampf fordern würde.
Guerillakriege und Aufstände erfordern Helden – Menschen, die bereit sind, auch ihr eigenes Leben für eine Sache zu riskieren. Eine ganze Nation muss also bereit sein, den wortwörtlichen Blutzoll zu zahlen. Doch das heroische Zeitalter ist in Europa endgültig und unwiederbringlich vorbei. Ebenso ist die Lage auch in anderen entwickelten, postmodernen Gesellschaften mit niedriger Geburtenrate – mögen sie in Nordamerika oder in Ostasien liegen.
Und im Gegensatz zu den afghanischen Mudschahedin oder den Huthis im Jemen gehören auch die heutigen Ukrainer bereits zur postmodernen Welt. Die Ukraine gab sich in dem Bürgerkrieg im Donbass in den Jahren 2014/15 innerhalb weniger Monate geschlagen. Und diese Niederlage lag nicht nur an der Unterlegenheit der ukrainischen Armee. Es ging auch um die Akzeptanz menschlicher Verluste: Es zeigte sich, dass selbst einige Tausend Gefallene für die ukrainische Gesellschaft unerträglich waren.
Ist ein Aufstand in unserer digitalisierten Welt überhaupt möglich?
Auch ein weiterer Faktor verringert das Risiko eines Aufstandes: der Grad der Digitalisierung des modernen Lebens. Eine der ersten Maßnahmen der russischen Streitkräfte, einmal in der Ukraine, wäre wahrscheinlich, die Kontrolle über sämtliche Mobilfunknetze und Internetanbieter zu erlangen. Und sobald man die digitale Infrastruktur im Griff hat, so hat man im Grunde auch die Menschen der modernen Gesellschaft unter Kontrolle. Sollten Außerirdische jemals die Invasion in ein postindustrielles Land auf der Erde planen, müssten sie dafür vielleicht nur die Telekommunikations- und elektronischen Netzwerke übernehmen.
Ein Aufstand in der virtuellen Realität sieht vielleicht im Film "Die Matrix" machbar aus. Ungleich schwieriger hingegen ist es, eine groß angelegte Widerstandsbewegung in einer realen postindustriellen Umgebung zu organisieren – in der jeder Einzelne vollständig auf Mobiltelefone und Internetzugang angewiesen ist und gleichzeitig nahezu jeder Quadratmeter von Überwachungskameras abgedeckt wird. Fragen Sie einfach die Chinesen (oder die US-Amerikaner), ob sich Proteste gegen ihre Regierung in einer hochgradig vernetzten und überwachten Gesellschaft so leicht durchführen lassen. Die russische Regierung liegt in Bezug auf hochentwickelte elektronische Technologien zur Kontrolle von Personen nicht weit zurück. Und außerdem könnten die Chinesen Schützenhilfe leisten, wo die Russen noch im Rückstand sind.
Ein Land im Sumpf der Apathie
In einer kürzlich durchgeführten Umfrage in der Ukraine gaben rund 24 Prozent der Befragten an, dass sie sich gegen eine russische Besatzung "mit der Waffe in der Hand" wehren würden. Bei derzeit insgesamt rund 30 Millionen Landeseinwohnern bedeutet dies augenscheinlich, dass sich durchaus einige Millionen Zivilisten als Kämpfer den russischen Streitkräften entgegenstellen würden. Doch wie glaubwürdig ist das? Die Befragten neigen bei solchen Umfragen dazu, eher gesellschaftlich akzeptable Antworten zu geben – und im Ernstfall das eigene Land zu verteidigen, geziemt sich doch jedem. Allerdings sprechen die Berichte aus den ukrainischen Kreiswehrämtern eine andere Sprache: Nicht einmal angesichts der "russischen Bedrohung" sind die ukrainischen jungen Kerle darauf erpicht, die Pflicht ihrem Land gegenüber im obligatorischen Militärdienst abzuleisten. Bezeichnenderweise sind sie vom Dienst an der "Front" im Osten des eigenen Landes noch weniger begeistert.
Die ukrainische Gesellschaft wird nicht etwa durch die russische Bedrohung aufgerüttelt und mobilisiert, sondern wirkt weitgehend apathisch. Es scheint, als ob sich viele Ukrainer einfach nicht mehr darum kümmern. Natürlich lässt sich diese Apathie teilweise durch die Auswirkungen von COVID-19 erklären – die Ukraine ist eine auch durch die Pandemie ermüdete und geschwächte Gesellschaft. In dieser Hinsicht unterscheidet sie sich nicht wesentlich vom benachbarten Russland und den meisten anderen europäischen Ländern. Doch ein wichtigerer Faktor könnte die Desillusionierung und Enttäuschung vieler Ukrainer über die Politik ihres Landes und ihrer politischen Führung sein. Die Euphorie der Maidan-Ära ist längst verflogen.
Falls Putin (und das ist wirklich eine große Frage) tatsächlich in die Ukraine einmarschieren ließe, wäre nur ein winziger Teil der Bevölkerung in der Ost- und Südukraine – in den Gebieten mit einem hohen Anteil an Russischsprachigen – tatsächlich bereit, aktiven Widerstand gegen die russischen Streitkräfte zu leisten. Und gegen die russische Armee und Spezialeinheiten hätten sie ohnehin keine Chance. Emigration statt bewaffneter Gegenwehr stünde für diejenigen, die sich weigern, die neue Realität zu akzeptieren, auf dem Programm. Ein paar Hunderttausend könnten dann die nunmehr von Russland kontrollierten Teile der Ukraine verlassen. Die absolute Mehrheit der Ukrainer in den russisch bewohnten Gebieten würde hingegen gleichgültig bleiben und gar nichts zur Verteidigung der Sache der ukrainischen nationalistischen "Demokratie" tun. Und es wird zudem nicht wenige geben, die, ganz im Gegenteil, voller Begeisterung mit den dann von Russland eingesetzten Behörden zusammenarbeiten würden.
In der Westukraine hingegen, wo viele weitaus nationalistischer und antirussisch eingestellt sind, könnte es wohl gänzlich anders aussehen. Doch dass Russland in die Westukraine einmarschiert, ist ohnehin unwahrscheinlich.
Es mag ja Leute geben, die in ihren bequemen Büros in Washington, London und Warschau sitzen und blutfeuchte Träume vom Kampf gegen Russland – gern bis zum allerletzten Ukrainer geführt – träumen. Allerdings ist es unwahrscheinlich, dass diese Träume jemals wahr werden. Denn wohl birgt eine Militäroperation auf breiter Front in der Ukraine viele ernsthafte Risiken für Moskau – allein, Guerillakrieg und Aufstände gehören nicht dazu.
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Übersetzt aus dem Englischen.
Artjom Lukin ist Dozent der Fakultät für Internationale Beziehungen an der Föderalen Staatsuniversität Russisch Fernost. Folgen Sie ihm auf Twitter @ArtyomLukin