von Dagmar Henn
Japanische Zen-Meister nutzen absurde Sprüche, um ihre Schüler in der Meditation anzuleiten. "Wie klingt das Klatschen einer Hand?" beispielsweise. Die gesamte NATO mit sämtlichen politischen Anhängseln scheint gerade auch eine Art Zen-Meditation zu üben. "Wie klingt das Rasseln keines Säbels?" Nur dass in diesem Fall die Versenkung in den vermeintlichen Ton alles andere als ungefährlich ist.
Wenn man sich die Pose betrachtet, die Sprechkörper wie Jens Stoltenberg einnehmen, könnte man glauben, das Herzstück der NATO, die US-Armee, sei wirklich ungemein stark und fast unbesiegbar, und sie könne, wenn sie wolle, mit Russland nach Belieben verfahren. Aber nicht nur diese Annahme ist falsch; sie führt dazu, die eigentliche Gefahr gar nicht wahrzunehmen. Die besteht nämlich in der realen Schwäche der USA.
Aber fangen wir von vorne an. Der letzte Krieg, den die USA gegen gleichwertige Gegner führten, war der Zweite Weltkrieg; das liegt schon etwas zurück. Die Flugzeugträgergruppen sind im Zweiten Weltkrieg entwickelt worden und waren zur damaligen Zeit tatsächlich geeignet, zum Beispiel die Handelskonvois nach Großbritannien zur Durchbrechung der U-Boot-Blockade zu schützen. Auf dem Weg dahin wurden an die 3.000 zivile Schiffe versenkt und die US-Navy verlor 175 Schiffe.
Der Gesamtbestand der US-Marine beläuft sich heute auf 293 Schiffe aller Arten; aber das Gleichgewicht zwischen den gegen solche Schiffe gerichteten Waffen und deren Abwehrfähigkeiten (die auf Flugzeugträgern stationierten U-Boot-Abwehrflugzeuge eingerechnet) hat sich in den letzten Jahren durch Hyperschallraketen massiv verschoben. Anders formuliert, diese 293 Schiffe sind momentan mindestens so hilflos, wie es die Schiffe der US-Marine zu Beginn des U-Boot-Kriegs gegen die U-Boote waren.
Dieser Punkt ist noch relativ schnell sichtbar. Wie haben die USA im Zweiten Weltkrieg auf die Verluste an Schiffen reagiert? Sie bauten neue Schiffe. Und hier ist gleich das nächste Problem. Seit Jahrzehnten werden, auch in der US-Navy, Schiffe schlicht außer Dienst gestellt, wenn sie zu alt sind, und durch neue ersetzt. Dementsprechend sehen die Produktionskapazitäten aus.
Aber das, was es vor siebzig Jahren noch gab, nennenswerten zivilen Schiffsbau mit entsprechend qualifiziertem Personal, der umgewidmet werden konnte, gibt es heute nicht mehr. Selbst Wikipedia, das alles zu Gunsten der NATO darstellt, schreibt von einem "faktischen Nachfragemonopol im inländischen Schiffbau." Das bedeutet, jeder Verlust kann erst im Verlauf von Jahren ersetzt werden. Schiffe werden heutzutage nicht mehr in den USA gebaut oder in Europa, sondern in Südkorea, Japan und China; aber selbst Deutschland, die Philippinen und Brasilien liegen vor den USA, obwohl der deutsche Schiffsbau weniger als ein Zehntel des chinesischen beträgt.
Im Maschinenbau, ein anderer kriegswichtiger Sektor, kommen die USA immerhin global noch auf Platz drei, hinter China und Deutschland. Allerdings ist die Trennung zwischen ziviler und militärischer Industrie weit ausgeprägter als in Deutschland; ein Rüstungskonzern wie Rheinmetall funktioniert wie eine Fabrik mit verschiebbarer Trennwand, zwischen dem Maschinenbauteil und dem Rüstungsteil. Je nach Absatzlage wird die Trennwand mal in die eine, mal in die andere Richtung geschoben. In den USA sind die Rüstungskonzerne riesig, aber die Verschiebung zwischen ziviler und militärischer Produktion würde sich deutlich schwieriger gestalten. Insgesamt ist, im Gefolge von drei Jahrzehnten neoliberaler Politik, die industrielle Basis der USA inzwischen schwach. Keine guten Voraussetzungen für Materialschlachten.
Der Hauptpanzer der US-Armee, der M1 Abrams, wurde vor bald 50 Jahren entwickelt und ab 1980 in Dienst gestellt. Davon haben die USA zwar viele, angeblich 5.000 in Funktion und weitere 3.000 gelagert, aber das besagt nichts darüber, in welchem Zustand sie sind. Freunde, die in der Nähe des US-Stützpunkts in Grafenwöhr wohnen, spotten darüber, dass die dortigen Panzer, wenn sie die Kaserne verlassen, oft schon nach einigen Ampeln mit gerissenen Ketten liegenbleiben. Aber selbst wenn alle dieser Panzer, die in den letzten Jahren in Richtung Russland transportiert wurden und jetzt in den baltischen Staaten oder in Polen stehen, im allerbesten Zustand wären – es stellt sich dieselbe Frage wie bei den Schiffen, nur verschärft.
Es gibt Berechnungen zu den Verlusten im Donbass-Krieg; es haben sich wirklich Menschen die Mühe gemacht, jedes einzelne Fahrzeug, ob Panzer oder Schützenpanzer, zu identifizieren. Sie kamen auf ukrainischer Seite auf einen Totalverlust von 627 gepanzerten Fahrzeugen und die Übernahme von weiteren 376 durch die Donbass-Milizen. Wir reden also von einem Verlust von insgesamt knapp 1.000 Fahrzeugen.
Es gab allerdings nur drei große Gefechte, die die meisten dieser Verluste auslösten, alle drei sowohl zeitlich als auch räumlich begrenzt. Die ersten beiden waren die Kessel an der russischen Grenze und die Schlacht um Ilowaisk im Sommer 2014, und das dritte war der ukrainische Angriff im Frühjahr 2015, der im Kessel von Debalzewo endete. Das heißt, diese Verluste von tausend Fahrzeugen waren das Ergebnis von wenigen Wochen intensiver Gefechte, gegen lokale Milizen, nicht gegen die russische Armee.
Ein Zusammenprall zwischen der NATO und Russland hätte eine völlig andere Qualität, eine wesentlich längere Frontlinie (der Donbass ist verglichen damit winzig) und schon allein dadurch ganz andere Verluste. Übrigens kann man sich auf Videos aus dem Jemen jederzeit ansehen, dass ein M1 Abrams schon gegen alte sowjetische Panzerfäuste nicht gut aussieht.
Klar, nur ein Bruchteil dieser tausend Fahrzeuge waren Panzer, weil schließlich die Schützenpanzer mitgezählt wurden. Und dennoch, die auf den ersten Blick beeindruckende Zahl wird schon deutlich kleiner, wenn man sie mit dem "Umsatz" eines großen Krieges in Verbindung bringt.
Abgesehen davon ist der Donbass – und das gilt für beide Seiten – eine besondere Region, weil Metallverarbeitung die traditionelle Industrie dort ist, also keine der beiden Seiten Probleme damit hatte, Personal für Wartung und Wiederherstellung zu finden. Mit der Metallarbeiterdichte im Baltikum oder selbst in Polen sieht es schon anders aus. Es genügt eben nicht, einen Panzer irgendwohin zu karren. Es genügt nicht einmal, die Besatzung mitzuliefern. Außer natürlich, man betrachtet beides als Wegwerfmaterial.
Eine Nachschublinie über den Atlantik bliebe im Ernstfall eine Fantasie, weil mindestens so verlustreich wie die Konvois nach Großbritannien im U-Boot-Krieg. Und auf Seiten der europäischen Verbündeten sieht es nicht wesentlich besser aus. Die Logistik ist das Rückgrat eines jeden Krieges. Wie war das nochmal mit der Deutschen Bahn? Was war das für eine Nummer mit dem Mangel an LKW-Fahrern? Schon die ganz gewöhnliche Logistik für die alltägliche Produktion ist brüchig. Damit wollen sie einen Krieg führen?
Die Bundeswehr hat schon vor Jahren die Nahrungsversorgung outgesourct; dasselbe dumme Spiel, das bei der US-Armee das Wasser teuer machte. Schließlich will jemand daran verdienen. Ein Beispiel: "Eine Studie des Verteidigungsministeriums zeigt, dass die Kosten für die Lieferung von abgefülltem Trinkwasser für die Truppen in Afghanistan bei 4,69 Dollar pro Gallone liegen. Mit einem täglichen Wasserbedarf von 5,2 Gallonen pro Tag pro Marine (die Menge für alle Arten des Gebrauchs), kostet allein die Versorgung mit Wasser für annähernd 20.000 Mann beinahe 500.000 Dollar täglich."
Aber zurück zum Bahnnetz. Gäbe es wirklich einen großen Konflikt zwischen der NATO und Russland, dann wären natürlich auch alle gen Osten führenden Bahnstrecken Ziele, und könnten problemlos mit Raketen unterbrochen werden. Dann müssen sie natürlich repariert werden. Nun, was Deutschland betrifft, muss man nicht allzu viel Bahn fahren, um zu wissen, dass es jetzt schon zu wenig Reparaturtrupps gibt. Im ganz alltäglichen Betrieb. Weil alles auf das absolute Minimum heruntergespart wurde. Ich weiß nicht, wie es in Polen aussieht; aber aus Deutschland wird niemand da sein, der eine solche Strecke wieder in Stand setzen kann. Ach ja, und es gibt natürlich weder Züge, die eben mal genutzt werden können, noch die dazugehörigen Lokführer. Es ist nun einmal wie bei den LKW; zu lange ein zu schlechtes Einkommen...
Es entbehrt nicht eines gewissen Charmes, dass die neoliberale Politik so dazu beigetragen hat, das großmäulige westliche Militärbündnis letztlich funktionsunfähig zu machen. Da hätte die Verbreitung von Elend und Verfall wenigstens einmal einen Vorteil für die Normalsterblichen.
Ehe sie sich irgendwelche dummen Gedanken in Richtung Russland leisten könnten, müssten so gut wie alle NATO-Mitglieder sowieso erst einmal ihr Militär wieder einsammeln, das sie großzügig in ferne Länder verteilt haben. Wir erinnern uns, im vergangenen Sommer, bei der Flut im Ahrtal, waren gerade 2.000 Soldaten der Bundeswehr im Einsatz; acht Jahre davor, beim Elbehochwasser, waren es noch 20.000. Damals hielt man diese Zahl für gering; auf eine entsprechende Anfrage im Bundestag lautete die Antwort, mehr stünden wegen der diversen Auslandseinsätze nicht zur Verfügung. Daraus kann man logisch schließen, im Jahr 2021 waren es eben nur noch 2.000, die nicht gerade im Auslandseinsatz waren oder sich gerade auf einen vorbereiteten. Glaubt wirklich irgendwer, die könnten alle unauffällig nach Hause geholt werden, damit man sie danach gen Osten karren kann? Oder meint irgendjemand, die verfügbaren 2.000 führten dazu, dass Schoigu vor Angst schlotternd unter dem Schreibtisch hockt?
Egal, wie man es dreht und wendet, es funktioniert nicht. Die NATO rasselt mit einer leeren Degenscheide. Und es wäre äußerst dringend, dass die politischen Exponenten dieses Landes wie der EU diese Tatsache endlich zur Kenntnis nehmen. Die Geschichte ist damit nämlich noch nicht am Ende. Denn es ist die Schwäche, nicht die Stärke der NATO und des US-Militärs, die die momentane Lage so gefährlich und die Verhandlungen so wichtig macht.
Denn, gesetzt den Fall, die politischen Wirrköpfe in Washington (und vielleicht auch in Brüssel, falls sie gefragt würden) versuchten, ihre Vorstellung von Stärke umzusetzen und tatsächlich einen offenen Angriff auf Russland zu führen, was wäre die Konsequenz? Sie würden relativ schnell feststellen, dass sie deutlich mehr abgebissen haben als sie schlucken können. Und damit ist die Gefahr sehr groß, dass sie, statt nachzugeben, zu den noch verbliebenen Waffen greifen – zu den nuklearen.
Es hängt mehr an dem Popanz der US-Überlegenheit als das Wohlbefinden einiger alter Männer in Washington. Die ganze Finanz- und Internetökonomie, die meint, ohne reale produzierte Werte auskommen zu können, ist abhängig davon, dass andere Staaten erpresst werden können. Geht das nicht, bricht dieses Wirtschaftsmodell einfach zusammen. Nun hat niemand ein wirkliches Interesse daran, dass das mit einem lauten Knall geschieht. Die Variante, die unter Trump zumindest zu ahnen war – eine wenigstens partielle Reindustrialisierung und ein leiser, unauffälliger Rückzug – wäre für alle das Beste, auch für Europa. Ein militärischer Konflikt mit Russland würde aber für den lauten Knall sorgen, und damit bei den US-Eliten, denen ihre Felle dann rasant entgleiten, genau für die Stimmung sorgen, die bei Menschen mit Kontrolle über atomare Rüstung am Besten nie eintreten sollte: Wenn ich ohnehin untergehe, ist es auch egal, wen ich noch mitnehme...
Gäbe es eine Politik im wirklichen europäischen Interesse, müsste sie auf Distanz zu den USA gehen und zumindest erklären, dass man für Kriegsspielchen nicht zur Verfügung stünde. Sie müsste darauf drängen, ernsthafte Verhandlungen zu führen. Sie müsste den baltischen Giftzwergen deutlich signalisieren, dass jede ökonomische Hilfe daran gebunden ist, Aggressionen in Richtung des östlichen Nachbarn zu unterlassen. Andernfalls könnten sie ihr Glück mit Sprottenfang versuchen. Sie müsste den USA signalisieren, dass sie im Falle nicht vorhandener Verhandlungsbereitschaft ihre in Europa stationierten Truppen einpacken und nach Hause schicken können. Schlicht, sie müsste alles nur Denkbare tun, um eine militärische Auseinandersetzung mit Russland zu verhindern.
Aber auch die europäische Ökonomie hat einen gewaltigen parasitären Sektor, der die Politik bei Bedarf fest im Griff hat. Das haben nicht zuletzt die Raubzüge der Klinik- und der Pharmakonzerne durch die öffentlichen Kassen (und die privaten Geldbeutel) im Zuge von Corona belegt. Das ganze neoliberale Theater hatte ja gar kein anderes Ziel, als diesen Sektor immer weiter aufzublähen, um neue "Anlagemöglichkeiten" zu schaffen, die produktiv nicht zu finden waren. Und nicht nur die US-Version dieser parasitären Ökonomie hängt an der US-Armee. Die europäischen Bevölkerungen befinden sich in einer Art Geiselhaft; ihre Interessen, ja selbst die Sicherheit ihrer rein physische Existenz, sind denen dieses Teils der Wirtschaft diametral entgegengesetzt.
Es gibt noch eine leise Hoffnung, dass Teile innerhalb des US-Apparats die wirkliche Lage erkannt haben und zu einem ruhigen Rückzug bereit sind. Ob die europäischen Regierungen auch nur ansatzweise begriffen haben, wo sich die wirkliche Gefahr verbirgt, ist nach allen Äußerungen der letzten Wochen mehr als zweifelhaft. Statt jene Teile des transatlantischen Gegenübers zu stärken, die einen halbwegs kontrollierten Abstieg des einstigen Hegemons ermöglichen wollen, beschweren sie sich, wenn Washington nicht aggressiv genug klingt. Es sind nicht nur die parasitären Konzerne, die wir uns nicht mehr leisten können. Auch die zugehörigen politischen Marionetten nicht. Zumindest nicht, wenn dieses Europa eine Zukunft haben soll.
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