von Dagmar Henn
Das britische Gericht hatte sich den passenden Tag für seine Entscheidung gesucht. Heute ist der internationale Tag der Menschenrechte; am 10. Dezember 1948 hatten die Vereinten Nationen die Erklärung der Menschenrechte verabschiedet. Artikel 5 dieser Erklärung lautet:
"Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden."
Schon das Hochsicherheitsgefängnis in Belmarsh, das ursprünglich errichtet wurde, um IRA-Kämpfer möglichst abschreckend zu inhaftieren, ist ein Bau gewordener Verstoß gegen diesen Artikel. Ganz zu schweigen vom Beschluss des britischen Berufungsgerichts, die Auslieferung von Julian Assange, der seit bald zwei Jahren dort in Haft ist, an die USA zu ermöglichen und die Entscheidung darüber in die Hände der britischen Innenministerin zu legen.
Ginge es nicht um Assange, der durch die Veröffentlichung von US-Kriegsverbrechen gegen den Grundsatz verstoßen hat, vom Balken im eigenen Auge des Westens zu schweigen, und handelte es sich nicht um einen Prozess vor einem britischen Gericht – wir würden auf allen Kanälen Forderungen nach Sanktionen hören. Aber hier geht es um Großbritannien und letztlich um die USA. Da kocht man noch den größten Skandal auf kleiner Flamme.
Assange hatte eine Plattform mitgegründet, die dazu dienen sollte, geheim gehaltene Dokumente zu veröffentlichen, WikiLeaks. Dokumente, die Chelsea Manning, damals IT-Spezialistin der US-Armee, an WikiLeaks weitergegeben hatte, führten zu einem Skandal; insbesondere ein Video, das Aufnahmen aus einem US-Hubschrauber zeigt, der auf eine Gruppe von Männern schießt, die vermeintlich bewaffnet sind, dabei aber unter anderem einen Reuters-Fotografen tötet, und dann auch noch weitere Personen erschießt, die versuchen, Getroffene zu bergen.
Dieses Video war so heikel, weil die US-Armee seit dem Vietnamkrieg, der noch ungefiltert über die Fernsehbildschirme flackerte und zu gewaltigen Protesten führte, hohen Aufwand betreibt, das wahre Gesicht ihrer Kriegsführung nicht öffentlich werden zu lassen. Nun kursierte ein Beleg für ein Kriegsverbrechen frei im Internet, für jedermann sichtbar. Dieses eine Video unterlief die sorgsame Betreuung Hunderter "eingebetteter" Journalisten, die die weltweite Öffentlichkeit mit geschönten Darstellungen versorgten.
Manning war 2013 in den USA vor Gericht gestellt und unter anderem wegen Spionage zu 35 Jahren Haft verurteilt worden, wurde 2017 aber von Barack Obama begnadigt. Rechtlich war die Anklage bizarr, schließlich ist Spionage eine Tätigkeit für eine feindliche Macht; die Aufdeckung von Verbrechen vor der Weltöffentlichkeit hat mit Spionage nichts zu tun, und insbesondere die auf dem Video gezeigten Handlungen sind auch nach US-Recht Kriegsverbrechen.
Das hielt die Vereinigten Staaten nicht davon ab, bei ihrem Auslieferungsersuchen gegen Assange auf dasselbe Konstrukt zurückzugreifen, das die Weltöffentlichkeit zur feindlichen Macht erklärt. Auch ihm legen sie Spionage zur Last.
Die ganze Verfolgung von Assange ist eine einzige Geschichte von Verdrehungen und Lügen. Zuerst kam es zu einem Verfahren in Schweden, das auf falschen Vergewaltigungsvorwürfen beruhte. Es war von vorneherein klar, dass Schweden, sollte es seiner habhaft werden, ihn an die USA ausliefern würde; der Vorwurf der Vergewaltigung erwies sich aber als sehr nützlich, um viele seiner anfänglichen Unterstützer abzuschrecken. Schweden beantragte und bekam auf Grundlage dieser konstruierten Verurteilung einen internationalen Haftbefehl, und Assange wurde in London verhaftet. Nachdem er auf Kaution freigelassen worden war, flüchtete er sich in die ecuadorianische Botschaft in London, in der er über sieben Jahre hinweg blieb, ohne das Gebäude verlassen zu können.
Als es in Ecuador zu einem Regierungswechsel kam und der gewählte Lenín Moreno, der von der Partei des vorherigen Präsidenten Rafael Correa aufgestellt worden war, sich unmittelbar nach der Wahl als Verräter an seinen Wählern erwies, musste Assange die Botschaft verlassen und wurde wegen Verstoßes gegen die Kautionsauflagen sofort von der britischen Polizei verhaftet.
Das war nicht mehr als ein Vorwand, um ihn festsetzen zu können, was allein daran zu erkennen war, dass man ihn in das Gefängnis von Belmarsh brachte, das noch berüchtigtere britische Gegenstück zu Stuttgart-Stammheim. Und wie zu erwarten war, beantragten die USA seine Auslieferung, weshalb er auch nach den 50 Wochen Haft, zu denen er absurderweise wegen eines Kautionsvergehens verurteilt worden war, das auf dem längst geplatzten schwedischen Prozess beruht hatte, nicht freigelassen wurde.
Die Staaten des Westens – zu denen alle Beteiligten gehören, die USA, Großbritannien und Assanges Heimat Australien – rühmen sich immer gerne ihrer Pressefreiheit. Die Presse sei die vierte Gewalt neben Legislative, Judikative und Exekutive. Und es gibt Sonderrechte für Journalisten. Sie dürfen ihre Quellen schützen, und sie werden üblicherweise für ihre Arbeit nicht vor Gericht gestellt. Seymour Hersh, der das Massaker von Mỹ Lai aufgedeckt hatte, wurde nicht angeklagt, obwohl die US-Armee auch diesen Vorfall nicht in der Öffentlichkeit sehen wollte. Nähmen die USA und Großbritannien ihr eigenes Presserecht im Verfahren gegen Assange ernst, dürfte es nicht stattfinden. Das britische Gericht hätte auf das Auslieferungsersuchen antworten müssen, dass nach britischem Recht keine Straftat stattgefunden hat. Der Vorwurf der Spionage ist das Hilfsmittel, um diesem Punkt ausweichen zu können.
Natürlich ist die Existenz des Internets in diesen Zusammenhängen ein Dorn im Auge. Die finanzielle Schwelle, Informationen zu publizieren, war noch nie so niedrig, und der Fall Assange ist nur eines der Mittel, die ergriffen wurden, um diese Möglichkeiten wieder zu beschneiden. Die Etablierung einer möglichst harten Unterscheidung zwischen "Qualitätspresse" und "Alternativmedien" ist ein weiteres.
Das Ziel besteht darin, an Assange ein Exempel zu statuieren. Auch diese Absicht ist rechtsmissbräuchlich. Und sie beinhaltet zusätzlich die Aussage, die Staaten behielten sich selbst vor, wen sie als Journalisten akzeptieren und wen nicht. Das allerdings ist die völlige Aufhebung der viel gepriesenen Pressefreiheit oder gar der "vierten Gewalt". Denn die Veröffentlichungen von WikiLeaks sind geradezu ein Musterbeispiel dieser Funktion, insbesondere das Video, das ein Verbrechen enthüllt.
Dabei muss man die Maßstäbe etwas zurechtrücken. Die Enthüllungen von WikiLeaks waren und sind schmerzhaft, aber sie führten bisher noch nicht einmal zum Rücktritt eines einzigen Ministers. Die Watergate-Enthüllungen hatten einen US-Präsidenten gestürzt. Es gibt also historische Fälle, in denen der jeweiligen Regierung und der bestehenden Macht weit größerer Schaden zugefügt wurde. Jenseits des konkreten Vorfalls im Video kann man wissen, dass die Geschichte der US-Kriegsführung voller Kriegsverbrechen ist; ein Schock ist diese Information nur für jene, die sich zuvor mit der Frage nie auseinandersetzten.
Die Veränderung in der Verfolgungsbereitschaft ist also noch weit massiver, als es auf den ersten Blick scheint. Heute müsste vermutlich auch ein Seymour Hersh um sein Leben fürchten wie Assange. Einzig "Enthüllungen" wie das berüchtigte Strache-Video, die im Dienste von Machtinteressen erfolgen, werden noch geduldet.
Das Gericht, das die Auslieferung von Assange ausgesetzt hatte, wagte es schon nicht mehr, die Frage journalistischer Tätigkeit überhaupt aufzugreifen; die Aussetzung erfolgte aus gesundheitlichen Gründen, gewissermaßen als Gnadenakt, nachdem Assange in Belmarsh unter Haftbedingungen leben muss, die der UN-Sonderbeauftragte Nils Melzer als psychische Folter bezeichnete. Nun wurde selbst diese Hintertür, die unter Preisgabe der Pressefreiheit wenigstens noch ein Mindestmaß an Humanität gewahrt hätte, geschlossen und alles in die Hände der britischen Innenministerin Priti Patel gelegt.
Patel ist so etwas wie die indischstämmige Reinkarnation Margaret Thatchers. Sie befürwortet die Todesstrafe. Die vielfältigen Warnungen, Assanges Leben sei durch die in den USA zu erwartenden Haftbedingungen akut gefährdet, dürften sie kaum beeindrucken. Es sind wenig Zweifel möglich, wie ihre Entscheidung ausfallen wird. Und leider sind ebenso wenig Zweifel möglich, dass all die anderen Staaten des Westens eben nicht nach Sanktionen rufen und den britisch-US-amerikanischen Umgang mit der Pressefreiheit ahnden werden.
Die Erklärung der Menschenrechte, deren Jahrestag das britische Gericht geschmackvollerweise wählte, enthält übrigens auch einen Artikel zur Pressefreiheit. Es ist Artikel 19.
"Jeder hat das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung; dieses Recht schließt die Freiheit ein, Meinungen ungehindert anzuhängen sowie über Medien jeder Art und ohne Rücksicht auf Grenzen Informationen und Gedankengut zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten."
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