Von Bernd Murawski
Demokratie bedeutet nach allgemeinem Verständnis, dass die Bevölkerung eines Landes sich für eine Regierung entscheiden kann, die nach ihrem Willen handelt. Hierzu wählen Bürger Repräsentanten, die vorgeben, sich für ihre Belange einzusetzen. Eine Kontrolle ist schwierig, ja nicht einmal sind die Volksvertreter an den Auftrag der Wähler gebunden. Dies wäre kein Problem, wenn sie nicht als Teil der Elite Eigeninteressen hätten, die den Wünschen und Erwartungen der Mehrheit vielfach widersprechen. Ebenso wenig Verlass ist auf Oppositionsparteien, gesellschaftliche Organisationen oder Medien, da auch deren Ziele nicht mit jenen der Allgemeinheit kongruieren.
Dieses Dilemma hat den Kampf um demokratische Rechte bis in die Gegenwart überschattet. Wenn Deutschland dennoch einen großen Schritt vorangekommen ist, dann ist dies zwei Initiativen zu verdanken: zum einen dem nach dem Zweiten Weltkrieg gefassten Vorsatz, nie wieder Faschismus, Krieg und Völkermord zuzulassen. Zum anderen den Protesten der späten Sechzigerjahre, in deren Folge historische Verbrechen schonungslos aufgedeckt und verbliebene Bastionen autoritärer Herrschaft geschliffen wurden.
Dabei hat sich die Erkenntnis gefestigt, dass eine verfassungsmäßige Verankerung von Grundrechten zwar wichtig ist, aber keineswegs ausreicht. Vielmehr leben Demokratien von der politischen Kompetenz und dem gesellschaftlichen Engagement der Bürger. Wo sich diese nur rudimentär entwickeln konnten oder mittels entpolitisierender Massenbeeinflussung verschüttet werden, sind demokratische Errungenschaften tendenziell bedroht.
Demokratieexport trotz eigener Defizite
Als akute Gefahr für die Demokratie betrachten westliche Politiker und Medien den Einflussgewinn der extremen Rechten. Dem kann beigepflichtet werden, wobei allerdings zu hinterfragen ist, weshalb sich Bürger jenen Kräften zuwenden. Augenscheinlich profitiert der Rechtspopulismus von einer wachsenden Unzufriedenheit, die maßgeblich der neoliberalen Wirtschaftspolitik geschuldet ist. Zugleich bietet er einen willkommenen Vorwand für die Einschränkung demokratischer Rechte.
Die in letzter Zeit verstärkte Diffamierung und Drangsalierung kritischer Basisaktivitäten wie auch alternativer Medien macht deutlich, dass von den Herrschenden selbst eine Bedrohung der Demokratie ausgeht. Als Youtube alle RT-Beiträge unter fadenscheinigen Gründen löschte, sah es die Bundesregierung nicht als nötig an, für das Recht auf freie Meinungsäußerung zu intervenieren. Der folgende Satz aus dem Koalitionsvertrag gibt Anlass zu der Befürchtung, dass diese Praxis fortgesetzt wird: "Wir befähigen die liberalen Demokratien Europas dazu, Desinformation, Fake News, Kampagnen, Propaganda sowie Manipulationen aus dem In- und Ausland besser abwehren zu können."
Trotz unübersehbarer eigener Makel erhebt die politische Elite des Westens den Anspruch, andere Völker zur Demokratie bekehren zu wollen. Hierzu werden in deren Heimat Personen und Gruppierungen unterstützt, die sich zu liberalen Werten bekennen. Häufig reicht eine Gegnerschaft zu den Machtträgern, um den Titel "demokratische Opposition" zu erwerben und zu einem Hoffnungsträger stilisiert zu werden. Flankierend werden Medienpropaganda und Sanktionen zur Destabilisierung der Verhältnisse in den Zielländern eingesetzt.
Wie im Folgenden an den Beispielen China, Russland und Weißrussland aufgezeigt wird, ist für die westlichen Demokatieexporteure irrelevant, ob ihre Schützlinge über eine Massenbasis verfügen. Ebenso wenig interessiert, ob deren Aktivitäten dem Allgemeininteresse dienen. Der Wille der Bevölkerung ist nicht gefragt, es geht um die Durchsetzung westlicher Wertevorstellungen. Manche Deutsche mögen auf die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg zurückblicken, als sie selbst Objekt einer "Umerziehung" waren, die für sie offenkundig segensreich war. Für die Bürger Mittel- und Osteuropas, die sich nach der Wende Anfang der 90er in einem neuen Gesellschaftssystem zurechtfinden mussten, dürfte dies großenteils nicht mehr zutreffen.
Fall eins: China
China wird im Koalitionsvertrag als Systemrivale bezeichnet. Was hier angedeutet wird, sprechen westliche Politiker und Medien bei anderer Gelegenheit direkt aus: Die Volksrepublik China sei kein demokratischer Staat. Dem setzt die Pekinger Führung entgegen, dass sich historisch verschiedene Demokratiemodelle herausgebildet haben und nationale Besonderheiten berücksichtigt werden sollten. Entscheidend sei, ob die Bevölkerung das politische System befürwortet.
Tatsächlich erhält die chinesische Regierung nach dem "Edelman Trust Barometer" eine breite Unterstützung der Landesbürger. Die Zustimmungsrate liegt bei 82 Prozent und damit deutlich über dem deutschen Wert von 59 Prozent.
Ein besseres Vergleichsobjekt aus den 27 von Edelman befragten Staaten wäre Kolumbien, das ein ähnliches wirtschaftliches und zivilgesellschaftliches Entwicklungsniveau wie China aufweist. Für dessen Wahl spricht außerdem, dass es das westliche Demokratiemodell praktiziert, ja sogar in die OECD aufgenommen wurde. Selbstredend gehört Kolumbien zu den 110 Staaten, die eine Einladung des US-amerikanischen Präsidenten zum Demokratiegipfel erhalten haben. Die Orientierung an westlichen Vorgaben wird jedoch von den Bürgern des Landes nicht mitgetragen. Mit 33 Prozent bekommt die kolumbianische Führung einen der niedrigsten Werte.
In China gibt es mehrere politische Parteien sowie eine Vielzahl von Organisationen mit unterschiedlichen Aufgaben und Schwerpunkten. Die dominante politische Kraft ist die Kommunistische Partei, der immerhin rund zehn Prozent der erwachsenen Bevölkerung angehören. Laut Parteistatut werden eine aktive Teilnahme und ein offener Meinungsaustausch angestrebt. Das Einbringen abweichender Sichtweisen wird ausdrücklich gewünscht.
Wie in westlichen Demokratien, dürfte es auch in China eine Diskrepanz zwischen Anspruch und Realität geben. Besonders bei der Kontrolle der machtausübenden Organe offenbarten sich in der jüngsten Vergangenheit mehrfach gravierende Schwächen mit zuweilen dramatischen Folgen. Trotz jener Rückschläge nehmen nach Forschern von Dalia Research nur 20 Prozent der Chinesen in ihrer Heimat ein Demokratiedefizit wahr, bei Werten von 27 Prozent für Deutschland und 36 Prozent für Frankreich.
Fall zwei: Russland
Russland liegt mit 34 Prozent Zufriedenheit nach dem "Edelman Trust Barometer" nur knapp über Kolumbien. Der niedrige Wert deckt sich mit einer Umfrage des Lewada-Instituts, bei der lediglich 18 Prozent der Befragten für den Status quo votierten. Gleichwohl sehen die Bürger die Alternative nicht im westlichen System, das mit 16 Prozent noch weniger Zustimmung erhielt. Stattdessen wünschen sich 49 Prozent sowjetische Verhältnisse zurück. Dies ist der höchste Wert seit der ersten durchgeführten Umfrage im Jahr 1996. Zugleich antworteten mit zwei Dritteln mehr Befragte als zuvor, dass für sie die Lebensqualität wichtiger als der Machtstatus ihres Landes ist. Letzteres wird im Westen gern unterstellt, wenn russische Bürger eine Sehnsucht nach sowjetischen Zeiten kundtun.
Es sind vor allem die großen Einkommensunterschiede, die für wachsenden Unmut sorgen. In der neuen russischen Sicherheitsstrategie vom letzten Juli ist das Bestreben erkennbar, diesem Problem verstärkte Aufmerksamkeit zu widmen. Die Regierung plant nicht nur zusätzliche Maßnahmen im Wirtschafts-, Sozial- und Gesundheitssektor, sondern setzt zugleich die Entscheidungsträger in Wirtschaft und Verwaltung moralisch unter Druck. Liberales Gedankengut soll zurückgedrängt und durch traditionelle russische Werte ersetzt werden.
Dahinter steht die Überzeugung, dass die Ausbreitung von Korruption, Kriminalität und Armut wie auch die Entstehung einer Oligarchenschicht westlichen Einflüssen geschuldet waren. Gleichzeitig waren während der Präsidentschaft Boris Jelzins immense Reichtümer außer Landes geschafft worden. Das hinterlassene Chaos konnte Wladimir Putin nach seinem Machtantritt nur mit Mühe und dank gestiegener Öleinnahmen überwinden. Nach verbreiteter Auffassung war er gezwungen, den Oligarchen erhebliche Zugeständnisse zu machen. Besonders die Pauschalsteuer von 13 Prozent auf Einkommen und die Besteuerung von Dividenden mit nur neun Prozent geraten aktuell in den Fokus der Kritik.
Die Unzufriedenheit treibt die russische Bevölkerung in eine entgegengesetzte Richtung, als sie sich westliche Demokratieförderer erhoffen. So konnten die Kommunisten bei den diesjährigen Parlamentswahlen ihren Stimmenanteil von 13 auf 19 Prozent erhöhen, während die liberale Jabloko von zwei auf 1,3 Prozent abrutschte. Dass nach der Lewada-Umfrage 62 Prozent der Bürger ein staatliches Planungs- und Verteilungssystem wünschen, bestätigt diesen Trend.
Fall drei: Weißrussland
Während die neue Bundesregierung das russische System im Koalitionsvertrag zwar mit dem Attribut "autoritär" belegt, aber zugleich Kooperationsbereitschaft signalisiert, wird die weißrussische Führung zum Paria erklärt. Im Text heißt es: "Wir stehen an der Seite der Menschen in Belarus und unterstützen ihren Wunsch nach Neuwahlen, Demokratie, Freiheit sowie Rechtsstaatlichkeit und fordern die bedingungslose Freilassung aller politischen Gefangenen."
Grundlage für diese Sicht bildet die Nichtanerkennung der Präsidentschaftswahlen im letzten Jahr. Dabei sollte es am Votum der Bürger Weißrusslands keinen Zweifel geben. Dass der Wahlsieger Alexander Lukaschenko heißt, wird sogar von Recherchen der westlich orientierten NGO "Golos" gestützt. Deren Vertretern ist nach eigenen Angaben gelungen, in 1.310 von 5.767 Wahllokalen Auszählungsprotokolle zu fotografieren. Danach stimmten 61,7 Prozent für Lukaschenko und 25,4 Prozent für die Oppositionskandidatin Swetlana Tichanowskaja. Da sich die Aktivitäten der NGO vermutlich weitgehend auf Minsk beschränken, wo der Widerstand über dem Landesdurchschnitt liegen dürfte, kann das offizielle Resultat von 80 Prozent für den amtierenden Präsidenten durchaus zutreffen.
Dafür sprechen ebenso frühere Wahlergebnisse. Als die Opposition im Jahr 2010 einen ähnlich großen Stimmenanteil für Lukaschenko in Zweifel gezogen hatte, antwortete der CDU-Bundestagsabgeordnete und OSZE-Wahlbeobachter Georg Schirmbeck: "Die Vorwürfe der Opposition, Lukaschenko habe Wahlbetrug begangen, kann ich – so leid es mir tut – so nicht bestätigen." Gleichwohl betonte Schirmbeck, dass es angesichts der Kontrolle der Massenmedien durch die Minsker Führung keinen fairen Wahlkampf gab. Jedoch dürften die Verhältnisse in den meisten zum US-Demokratiegipfel eingeladenen Staaten kaum anders sein.
Wie bei den Ausführungen zu China und Russland wird auch im hiesigen Fall allein der Frage nachgegangen, ob dem Volkswillen Rechnung getragen wird. Dessen ungeachtet gibt es Gründe für Kritik etwa an der übermäßigen Einschränkung persönlicher Freiheitsrechte. Andererseits wird im Westen vielfach unterschlagen, dass die UN-Menschenrechtsabkommen den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten ein vergleichbares Gewicht beimessen. Würde darauf Bezug genommen, dann müssten der weißrussischen Führung Verdienste bescheinigt werden. Nach Auflösung der Sowjetunion hat sie ihren Bürgern eine Existenzunsicherheit erspart, die in den 90er-Jahren Russland überzog und für viele Bürger der Ukraine noch heute besteht.
Kulturrassismus und Wirtschaftsinteressen
Die Befürworter eines westlichen Demokratieexports respektieren offenbar weder Resultate von Umfragen noch Wahlentscheidungen, in denen sich der Wille der Bürger deutlich artikuliert. Diese werden vielmehr als Opfer einer Willkürherrschaft angesehen, weshalb es gerechtfertigt erscheint, den Ländern ohne Rücksicht auf Mehrheiten das eigene politische System überzustülpen. Eine Installierung des westlichen Demokratiemodells erhält somit die Aura einer wohltätigen Aktion. Zu diesem Zweck werden nicht nur oppositionelle Kräfte finanziell unterstützt, sondern auch geeignete Personen rekrutiert und an westlichen Eliteschmieden auf künftige Führungstätigkeiten vorbereitet. Um einen Machtwechsel zu erzwingen, werden sogar paramilitärische Kräfte trainiert und ausgerüstet.
Verständlicherweise ist eine Kooperation mit Gleichgesinnten in fremden Staaten entschieden leichter als mit lokalen Machtträgern, deren moralisch-ethische Anschauungen mit Argwohn und Ablehnung quittiert werden. Historische Hintergründe, kulturelle Besonderheiten und traditionelle Umgangsformen bleiben gewöhnlich unberücksichtigt, zumal sie sich schwer in westliche Konzepte integrieren lassen. Trotzdem geben sich Protagonisten eines Demokratieexports der Illusion hin, dass es den "Unsrigen am Ort" mit der Zeit gelingt, die Massen für die eigenen hehren Ziele zu gewinnen. Angesichts solcher Ignoranz bleibt zu hoffen, dass der Schock der diesjährigen Ereignisse in Afghanistan lange anhält und viele zu einem Umdenken veranlasst.
Offenbaren sich bei dem Bemühen um einen Export westlicher Herrschaftsformen Überheblichkeit und Kulturrassismus, so stehen zugleich handfeste Wirtschafts- und Machtinteressen dahinter. Um die Expansionsinteressen der nationalen Kapitale zu befriedigen, fungieren die politischen Führungen der westlichen Zentren als Wegbereiter einer wirtschaftlichen Penetration schwächerer Staaten. Sie drängen diesen politische Strukturen auf, die eine externe Einflussnahme erleichtern. Das durch neoliberale Vorgaben und Interessenlobbyismus geschwächte westliche Regierungssystem erweist sich hierbei als ideales Modell.
Je größer der ausländische Einfluss in einer Volkswirtschaft ist, desto stärker kann die politische Elite des Landes unter Druck gesetzt werden. Indessen hat sie kaum Veranlassung, ihre Gönner im Westen zu enttäuschen. Vielmehr nutzt sie deren Rückendeckung zum Ausbau von Privilegien, was gewöhnlich zulasten der Bevölkerungsmehrheit geschieht.Soweit sich historisch keine starke Zivilgesellschaft mit hohem Bürgerengagement herausgebildet hat, ist nicht mit signifikantem Widerstand zu rechnen.
Dennoch bietet sich mit der Emigration ein Gradmesser für Unzufriedenheit. Besonders betroffen ist die östliche EU-Peripherie, wo jeder sechste Este, jeder fünfte Bulgare und jeder vierte Lette nach der Wende sein Heimatland verlassen hat. Noch größer wäre der Zustrom aus Afrika. Aus Kenia, Südafrika und dem Senegal würde jeder zweite Volljährige nach Europa oder Nordamerika auswandern, in Nigeria und Ghana wären es sogar drei Viertel. Da alle genannten Staaten laut US-Einladungsliste als Demokratien gelten, signalisiert die "Abstimmung mit den Füßen", dass westlich inspirierte Herrschaftsformen auf wenig Akzeptanz stoßen.
Dagegen weist Russland zwischen 2010 und 2020 eine jährliche Nettoimmigrationsrate von 1,9 und Weißrussland von 1,7 auf 1000 Einwohner auf. Der chinesische Vergleichswert ist trotz Zunahme der Rückwanderung mit -0,2 leicht negativ. Deutlich schlechter sind die Zahlen für die großen Nachbarländer Indonesien, Philippinen, Indien und Pakistan, die sich allesamt auf der Washingtoner Liste befinden.
Das liberale Demokratiemodell bringt augenscheinlich allein jenen Staaten Vorteile, die zum westlichen Führungskreis gehören oder über Voraussetzungen verfügen, dorthin aufzusteigen. Nur wenige Länder konnten diesen Sprung vollziehen, erwähnt seien Irland, Singapur und Südkorea. Wer sich aktuell noch als Trittbrettfahrer durchschlagen kann, nimmt eine wachsende Abhängigkeit in Kauf. Zugleich sinkt die Fähigkeit, externem Druck zu trotzen, etwa wenn mit einem Kapitalabzug gedroht wird. Nur eine starke politische Zentralmacht ist offenbar in der Lage, nationale Interessen dauerhaft zu schützen. Ist ein Land daraufhin Destabilisierungsversuchen ausgesetzt, dann sollte deren Abwehr nach Möglichkeit ohne Einschränkung der Bürgerrechte erfolgen.
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