von Bernd Müller
Die Debatte um die Impfpflicht polarisiert. Doch zwischen den Parteien in Deutschland herrscht weitgehend Eintracht: Die allgemeine Impfpflicht solle auf den Weg gebracht werden. Als erster Schritt dahin soll ab Mitte März die "einrichtungsbezogene Impfpflicht" gelten.
Ohne Impfnachweis soll ab 16. März 2022 niemand mehr in Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen und ambulanten Pflegediensten arbeiten dürfen. Das berichtete das RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Und SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil sagte am Freitag im ZDF-Morgenmagazin, Mitte März sei ein sinnvoller Zeitpunkt, weil sich bis dahin alle Pflegekräfte doppelt impfen lassen könnten. Bis Mitte Dezember soll der Bundestag über einen entsprechenden Antrag entscheiden.
Begründet wird der Schritt damit, dass alte und vorerkrankte Menschen vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus geschützt werden sollen. In den zurückliegenden Wochen waren immer wieder Pflegeheime von Corona-Ausbrüchen betroffen – und den Sündenbock dafür steht schon fest: das ungeimpfte Personal. Ob jenes wirklich die Verantwortung dafür trägt, das ist längst nicht geklärt. Noch eine andere Frage ist nicht beantwortet: Wenn nur die Impfpflicht die Alten schützt, wieso lässt man sie in den nächsten drei Monaten ungeschützt?
Auf dem Weg zur allgemeinen Impfpflicht orientiert sich die neue Bundesregierung womöglich am Beispiel anderer europäischer Länder und geht stufenweise vor. Im Tagesspiegel wies am Freitag Veronika Grimm, Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Lage, darauf hin: Um die Verhältnismäßigkeit zu wahren, sei man in jenen Ländern stufenweise vorgegangen und habe zuerst die Impfpflicht in Einrichtungen eingeführt oder bestimmte Gruppen verpflichtet.
Allerdings geht das auch Frau Grimm nicht schnell genug:
"Beginnt man in Deutschland mit diesem ersten Schritt, ist zudem fraglich, ob der zweite nicht erst im Zuge einer weiteren Welle und nach weiteren umfassenden Einschränkungen politisch überhaupt durchsetzbar wäre", schreibt sie. Bevor aber die Impfung zur Pflicht erhoben werden könne, müsse es eine 'Impfoffensive' geben."
Eine schnelle Einführung der Impfpflicht fordern auch Vertreter der deutschen Wirtschaft. Ihnen geht es dabei weniger um den Schutz der Gesundheit, sondern vielmehr um Kosten, Aufwand, Umsätze – und Gewinne.
Reinhold von Eben-Worlée, Präsident des Interessenverbandes "Die Familienunternehmer e.V." sagte laut Die Welt: "Gerade ungeimpfte Beschäftigte machen bei der Überprüfung für Firmen den größten Aufwand." Die Nachweise von Genesenen und Geimpften seien schnell kontrolliert, dagegen brauche es für die Durchführung und Kontrolle von Tests für Ungeimpfte viel Zeit: "Das sorgt bei Vorgesetzten für Aufwand und Verdruss."
Im Handelsblatt sagte er:
"Unsere Pflicht als Unternehmer ist es, die Wirtschaft am Laufen zu halten – und das geht nur mit gesunden und vollständig geimpften Mitarbeitern."
Mit anderen Worten: Wenn die Arbeiter nicht gesund und vollständig geimpft sind, dann ist es für die Unternehmer auch nicht möglich, gute Geschäfte zu machen. Wenn man zwischen Lockdown und Impfpflicht entscheiden müsste, dann sei letzteres der kleinere Eingriff in die Freiheit. Natürlich meinte er damit nur die Freiheit der Unternehmen.
Um einen neuen Lockdown zu verhindern, sei die Impfpflicht angemessen, heißt es auch vom Bundesverband mittelständischer Wirtschaft (BVMW). Hans-Jürgen Völz, Chefvolkswirt des Verbandes, erklärte: Die 3G-Regel sei für die unternehmerische Praxis ungeeignet. Damit seien hohe Test- und Dokumentationskosten verbunden. Deshalb plädiert er für die 2G-Regel am Arbeitsplatz, was einer faktischen Impfpflicht entspricht.
Die Wirtschaft fürchtet nicht nur die Kosten und das Dickicht an verschiedenen Regelungen; viele Unternehmen sehen rechtliche Unsicherheiten, die vor Gericht landen könnten. Manchen Branchen macht die Dauerschleife von Schließungen und Öffnungen zu schaffen, die Unternehmen in existenzielle Nöte bringen. Deswegen kippt bei ihnen die Stimmung in Richtung einer allgemeinen Impfpflicht.
Die Tendenz ist klar; doch es bleiben Zweifel, ob die komplette Impfung der Bevölkerung zu einem Sieg über die Pandemie führen wird. Der Blick auf Island, Gibraltar, Singapur, Spanien, Portugal oder Italien nährt solche Zweifel. Eine hohe Impfquote scheint nicht vor einer steigenden Zahl von weiteren Infektionen zu schützen. Doch wer darauf hinweist, mache sich verdächtig, schrieb jetzt Gunnar Schupelius in der B.Z.. Andere dürften schon früher damit Erfahrungen gesammelt haben.
Es bleibt dennoch erstaunlich, dass sich jetzt die meisten Politiker an die allgemeine Impfpflicht klammern. Auch die Partei Die Linke ist hier keine Ausnahme – nur dass sie als vermeintlich sozialistische Partei das unverblümte Interesse der Wirtschaft an einer schnellen Einführung der Impfpflicht komplett ausblendet:
"Die Impfpflicht wird die vierte Welle nicht mehr brechen können, ist aber als ultima ratio ein entscheidendes Instrument, weitere Wellen zu verhindern und Menschenleben zu retten", heißt es in einem kürzlich gefassten Beschluss. Schon zuvor hatte die Parteivorsitzende Susanne Hennig-Wellsow gemeinsam mit anderen behauptet, mit der Impfpflicht ließe sich die gesellschaftliche Ausgrenzung von Ungeimpften beseitigen.
In einem aktuellen Diskussionspapier heißt es: "Demgegenüber wäre eine Impfpflicht eine klare und einfache Lösung, da sie auf das Recht statt auf moralische Ausgrenzung setzen würde."
Statt gesellschaftlicher Ausgrenzung hätten die Ungeimpften dann "nur" mit "rechtmäßigen" Geldstrafen, Berufsverboten zu tun – also doch wieder mit gesellschaftlicher Ausgrenzung. Konkret heißt es in diesem Papier:
"Eine rechtlich normierte Impfpflicht bedeutet nach unserer Auffassung, dass ungeimpfte Personen ein noch zu bestimmendes Set an Sanktionen zu vergegenwärtigen haben. Darunter können Zugangsbeschränkungen zu gesellschaftlichen Bereichen fallen, die nicht zur Grundversorgung gehören (vgl. die derzeit geltenden 2G-Regelungen), oder wie bei der Masernimpfpflicht die Verhängung von Geldbußen oder das Verbot, bestimmten Berufen beispielsweise im Bildungs-, Sozial- und Gesundheitswesen nachzugehen."
Es ist genau dieses Set an Sanktionen, das auch die Bundesregierung an den Start bringen will. Und während manche Linken-Politiker davon schwadronieren, dass Bußgelder "sozial" gestaffelt ausfallen sollten, hat die schwarz-grüne Landesregierung in Baden-Württemberg längst deren zulässige Höhe ausrechnen lassen: Bis zu 2.500 Euro sind möglich. Auch nach sozialen Gesichtspunkten gestaffelt dürfte ein Bußgeld in dieser Höhe für viele den Ruin bedeuten.
Fast schon als eine leise Stimme der Vernunft hört man hier Dietmar Bartsch, Chef der Linksfraktion im Deutschen Bundestag, der sich zumindest am Freitag noch skeptisch gegenüber der Impfpflicht äußerte. In der Sendung "Frühstart" von RTL/ntv sagte er immerhin:
"Ich wäre jetzt dafür, erstmal ein Impfrecht durchzusetzen, dass man sich wirklich impfen lassen kann."
Denn in manchen Regionen wollen sich noch Menschen impfen lassen, bekämen aber erst Termine im Januar oder Februar angeboten.
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