von Dagmar Henn
In der Innen- und Sozialpolitik ist der Inhalt des Koalitionsvertrags höchst widersprüchlich. Dort, wo Verbesserungen zumindest möglich sind, hat man den Eindruck, dass Punkte abgearbeitet wurden, die schon seit zwanzig Jahren durch die Programme geschoben werden; aber es gibt in vielen Fällen andere Vereinbarungen, die das sogleich wieder aufheben.
Ein einfaches Beispiel: das Recht zur Abgeordnetenbestechung soll reformiert werden (was dringend nötig ist) und die Grenze, ab der Parteispenden veröffentlicht werden müssen, wird von jetzt 50.000 auf 35.000 Euro gesenkt, ebenso soll die Möglichkeit beendet werden, Spenden als Sponsoring (z.B. von Parteitagen) zu verschleiern. Aber gleichzeitig findet sich folgender Satz, der genau in die Gegenrichtung wirkt: "Wir fördern und vereinfachen den Personalaustausch und die Rotation zwischen verschiedenen Behörden, zwischen Bund und Ländern sowie zwischen Verwaltung und Privatwirtschaft." Die Drehtür soll also noch geölt werden.
Dabei ist die Variante nachgelagerter Bestechung schon seit Jahren dominant. Abgeordnete und Ex-Minister wechseln auf hochbezahlte Jobs in Konzernen, denen sie nützlich waren, und Lobbyisten wechseln auf politische Positionen, wie beispielsweise Jens Spahn. Ähnlich verhält es sich mit Bundesbehörden oder parastaatlichen Institutionen wie der EMA. Praktisch bedeutet eine Erleichterung solcher Wechsel noch eine Erhöhung der Lobbyisten-Dichte in der staatlichen Verwaltung und der Politik; was bedeutet, die Korruption verringert sich nicht, sie wird nur in andere Kanäle gelenkt.
In der Rentenpolitik fährt der Zug in die falsche Richtung. Wie fatal kapitalmarktgestützte Rentensysteme wirken können, war 2009 und 2010 in den USA zu beobachten, als solche Rentenfonds reihenweise zusammenbrachen. In Wirklichkeit leidet die Rentenversicherung in Deutschland nicht an zu wenigen Beschäftigten, die Beiträge zahlen könnten, sondern an fehlender Einbeziehung der Gutverdiener, nicht vorhandenen Ober- und Untergrenzen der Leistung, aber vor allem an der seit Jahrzehnten schlechten Lohnentwicklung in Deutschland. Und was schlägt die Koalition vor? "Die umlagefinanzierte Rente wollen wir durch die Erwerbsbeteiligung von Frauen und älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sowie die erwerbsbezogene und qualifizierte Einwanderung stärken."
Einwanderung zieht sich ohnehin durch den gesamten Vertrag als eine Art Universalheilmittel. Probleme mit der Pflege? Mehr Einwanderung. Mangel an qualifizierten Handwerkern? Mehr Einwanderung. Selbst in der Tourismuswirtschaft hilft "mehr Einwanderung". Allerdings zeigt die Erfahrung der vergangenen Jahrzehnte, dass Einwanderung vor allem als Mittel genutzt wird, die Löhne unten zu halten; was wiederum die Probleme der Rentenversicherung noch verstärkt und nicht verringert.
Bürgergeld und Kindergrundsicherung werden als die großen sozialen Projekte dargestellt. Ja, eine Kindergrundsicherung, die tatsächlich die Lebensbedürfnisse eines Kindes absichert (einschließlich des Mietanteils) wäre ein entscheidender Beitrag, um die Armut von Alleinerziehenden und ihren Kindern zu verringern. Allerdings – weder bei der Kindergrundsicherung noch beim Bürgergeld werden irgendwelche Beträge genannt. Aber die Prioritäten des Vertrages sind deutlich: an erster Stelle steht die Einhaltung der Schuldenbremse. Dann folgen Klimaschutz, die Erhöhung der Rüstungsausgaben und der Forschungsausgaben. Es ist schon abzusehen, dass Kindergrundsicherung und Bürgergeld dann mit einem lauten Seufzer des Bedauerns und einem Verweis auf leere Kassen doch zur Luftnummer werden. Auch die angekündigte Steuergutschrift für Alleinerziehende ist nicht beziffert.
Ein großer Pferdefuß findet sich gut versteckt: "Begleitendes Coaching und aufsuchende Sozialarbeit werden Regelinstrumente in SGB II und SGB XII." Klingt ja erst einmal nett. Aber auch aufsuchende Sozialarbeit ist eine Form der Überwachung; sogar eine sehr weitgehende. Für das "Coaching" gilt dasselbe. Wer je mit den entsprechenden Behörden zu tun hatte, weiß, wie groß die Bandbreite ist und dass es nicht nur freundliche, fördernde Sozialarbeiter gibt, sondern auch solche, die gerne den Jugendhilfeeinrichtungen neue Geschäftsfelder verschaffen. Aufsuchende Sozialarbeit heißt zuallererst, dass die Unverletzlichkeit der Wohnung für die Betroffenen aufgehoben wird; und "Regelinstrument" heißt, dass die Einwilligung der Betroffenen nicht vorgesehen ist. Dahinter verbirgt sich die Vorstellung, ein armer Mensch sei notwendigerweise auch als Person defizitär. Das ist die mit freundlichen Formulierungen verkleidete Verachtung der Besitzlosen, die insbesondere in den Reihen der Grünen weit verbreitet ist.
Ohnehin darf man das, was in einem Koalitionsvertrag steht, nicht immer für bare Münze nehmen. Ein Punkt dieses Koalitionsvertrags stand beispielsweise bereits im letzten. Bis heute müssen Heimkinder und Pflegekinder, die einen Job annehmen, drei Viertel ihrer Einkünfte an das Jugendamt abtreten. Schon die letzte Koalition wollte diese Regelung aufheben. Es ist nicht geschehen. Dabei geht es hier um die Änderung einer einzigen Zeile in einem einzigen Gesetz.
Wesentlich konkreter ist da das vorgesehene Dienstmädchenprivileg, das ausgerechnet mit der Förderung Alleinerziehender begründet wird. Zuschüsse für Haushaltshilfen nutzen nur denjenigen etwas, die den Rest finanzieren können. Das dürfte nur bei jenem kleinen Teil der Alleinerziehenden der Fall sein, der ohnehin keine finanziellen Probleme hat; die überlastete berufstätige Alleinerziehende, die bisher trotz Vollzeitarbeit auf zuzahlende Sozialleistungen angewiesen war, wird sich auch mit Gutscheinen keine Haushaltshilfe leisten können. Da haben Grüne und FDP ihre gutbürgerliche Klientel bedient und das Ganze hübsch in sozial klingende Phrasen gehüllt.
Die Verbesserung der Möglichkeiten zur beruflichen Weiterbildung ist etwas, das in Deutschland überfällig war. Wir haben zwar eines der besten Systeme beruflicher Bildung überhaupt, aber bei beruflichen Weiterbildungen ist Deutschland europaweites Schlusslicht. Die Pläne, im bisherigen SGB II künftig stärker auf echte Berufsausbildungen zu setzen als auf Bewerbungskurse und ähnliche Beschäftigungstherapien, klingen erst einmal vernünftig. Es sind zumindest Schritte, das im SGB II explizit verankerte Bildungsverbot ein wenig aufzuweichen. Die Hoffnungen, die die Ampler darauf setzen, dadurch auch den Mangel in bestimmten Berufen beheben zu können, dürften aber ihre Grenze im hohen Anteil Älterer im SGB II finden, die eigentlich in Erwerbsunfähigkeitsrente gehen können sollten, wenn es die noch im erforderlichen Ausmaß gäbe. Bei Jüngeren dürfte das Problem sein, dass die bisher von den Jobcentern beauftragen Bildungsträger selbst meist gar nicht das qualifizierte Personal für eine echte Berufsausbildung haben.
Einer der Auslöser dafür, dass jetzt an vielen Stellen das qualifizierte Personal fehlt, ist die Tatsache, dass in der dualen Berufsausbildung in manchen Sparten schon seit Jahrzehnten zu wenig ausgebildet wurde. Die Betriebe haben schlicht die Kosten gespart und auf den Import billiger Arbeitskräfte gesetzt, insbesondere im Bausektor. Jetzt fehlen ihnen die Meister, ohne die ihnen auch diese Arbeitskräfte nichts mehr nützen. Mehrere Bundesregierungen haben bei dieser Entwicklung schlicht weggesehen; die Wahrnehmung volkswirtschaftlicher Notwendigkeiten war einfach "aus der Mode" geraten.
Ob die angehende Bundesregierung wirklich vorhat, daran etwas zu ändern und zu verbessern, wird sich an einer ganz einfachen Frage festmachen lassen: Wenn sie fähig ist, gesamtwirtschaftlich zu denken, müsste sie ziemlich schnell für eine Übernahme des Lkw- oder Bus-Führerscheins durch die Arbeitsagenturen sorgen. Schließlich gibt es in diesem Bereich inzwischen echte Lücken, zu denen die Tatsache, dass die schlecht bezahlten Fahrer auch noch die Ausbildung selbst finanzieren sollen, beträchtlich beiträgt. Ändert die Regierung hier nichts, sondern verweist weiterhin auf Einwanderung oder die Anwerbung osteuropäischer Fahrer, dann ist klar, dass sie keines der inzwischen aufgelaufenen Probleme eines echten Fachkräftemangels angehen wird.
Die Innenpolitik ist ebenfalls eine Art historischer Mischung. Da gibt es auf der einen Seite gewisse bürgerrechtliche Traditionen in der FDP und auch bei den Grünen, die sich irgendwo im Regierungsprogramm wiederfinden wollen. Es gibt also unter anderem das Versprechen eines besseren Informationsfreiheitsgesetzes und der Aufhebung aller Geheimhaltung nach 30 Jahren, wobei hier die entscheidende Frage sein wird, ob diesmal auch die Akten der vielen deutschen "Dienste" einbezogen werden oder ob sie wieder ausgenommen bleiben. Es gibt positive Ansätze im Strafrecht und in Bezug auf die Polizei. Aber es gibt eben auch die andere Seite, deren Aufblühen wir in den letzten Jahren verfolgen konnten; die massive Einengung des politisch als noch legitim erachteten Raums, die Zensurbestrebungen, die Nutzung vager, unbelegter Behauptungen zur Diskriminierung unerwünschter Opposition, wie wir es von "Querfront" bis "Querdenker" beobachten können.
So löblich es ist, wenn Videoüberwachung und Onlinedurchsuchungen beschränkt werden sollen, so bedrohlich wirkt die Verwendung höchst dehnbarer Begriffe im Koalitionsvertrag der Ampel.
Diese Passagen werden schon zu Beginn mit diesem Satz eingeleitet: "Im internationalen Systemwettstreit gilt es, unsere Werte entschlossen mit demokratischen Partnern zu verteidigen." Diese Formulierung gilt, das belegt der folgende Text, nach innen wie nach außen.
Dann kommt folgender Satz: "Um die Integrität des Öffentlichen Dienstes sicherzustellen, werden wir dafür sorgen, dass Verfassungsfeinde schneller als bisher aus dem Dienst entfernt werden können." Das riecht schon nach Regelanfrage und Berufsverbot; also nach dem genauen Gegenteil dessen, was die Passagen, die aus der bürgerrechtlichen Tradition verblieben sind, versprechen. Und dann werden die entsprechenden Stichworte geliefert, die die gemeinten Verfassungsfeinde genauer definieren.
"Wir stellen uns allen verfassungsfeindlichen, gewaltbereiten Bestrebungen und Verschwörungsideologien entschieden entgegen." Die "Verschwörungsideologie" – dieser schwammige Allzweckbegriff, der in den vergangenen Jahren ständig genutzt wurde, um abweichende Meinungen zu deklassieren, wird plötzlich mit "verfassungsfeindlich" gleichgesetzt. Unter dem" Stichwort "Digitale Gesellschaft" werden dann "klare Regeln gegen Desinformation" gefordert. Damit ist der nächste Kampfbegriff gefallen.
Und noch eines: "Wir befähigen die liberalen Demokratien Europas dazu, Desinformation, Fake-News, Kampagnen, Propaganda sowie Manipulationen aus dem In- und Ausland besser abwehren zu können." Hinter solchen Sätzen lauern ganz reale Verschwörungen wie das Steele-Dossier; diese Liste könnte direkt von der Pressestelle der NATO stammen.
Fehlen eigentlich nur noch die Begriffe "Hass und Hetze." Aber auch die finden sich, wenn auch nur halb: "Wir stärken die Arbeit gegen Hass im Netz und Verschwörungsideologien." Nun, es ist noch nicht allzu lange her, dass jene, die vor einer Impfpflicht warnten, als "Verschwörungstheoretiker" angegriffen wurden.
Vor dem Hintergrund dieser Aussagen wird auch deutlicher, was mit folgenden Sätzen gemeint ist: "Akteurinnen und Akteure der nachhaltigen Demokratieförderung, die auf Basis von Respekt, Toleranz, Würde und Menschenrechten arbeiten, werden auch in Zukunft mit öffentlichen Mitteln gefördert. Die Arbeit und Finanzierung der politischen Stiftungen wollen wir rechtlich besser absichern." Das klingt völlig unschuldig, wenn man die anderen Aussagen nicht kennt. Dann schlägt das Erkennen plötzlich um, und vor dem geistigen Auge stehen eine Antonio-Amadeu-Stiftung und Correctiv.
Das berüchtigte Overton-Fenster des akzeptierten Diskurses ist also kurz davor, sich völlig zu schließen. Damit werden all die bürgerrechtlich inspirierten Aussagen völlig konterkariert, denn genau auf den angeführten Begriffen, von "Verschwörungstheorie" bis "Desinformation" beruhte die Blockade jeder echten politischen Debatte in den vergangenen Jahren.
Während also die verbliebenen Bürgerrechtsliberalen ein paar Punkte in den Vertrag schreiben durften, wird dennoch klar signalisiert, dass die Wirklichkeit so undemokratisch bleibt, wie sie es schon in den letzten Jahren wurde. Mehr noch, die Erweiterung des Begriffs Verfassungsfeind auf alle, die mit dem Etikett "Verschwörungstheoretiker" belegt werden könnten (und das war in den letzten Jahren so gut wie jeder, dessen Meinung von der regierungsamtlichen nur abwich), lässt befürchten, dass eine Säuberung des Apparats von den letzten Resten Dissidenz bevorsteht. Eigentlich ist es schon fast verwunderlich, dass nicht auch gleich "Klimaleugner" als Verfassungsfeinde gebrandmarkt wurden; aber das gibt ja der Begriff "Verschwörungsideologie" bei Bedarf auch noch her.
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