Ein Kommentar von Dr. Karin Kneissl
Als im Herbst 1995 die damalige EU, die eben auf 15 Mitglieder herangewachsen war, den Barcelona-Prozess beschloss, war dies auch der erste institutionalisierte Ansatz, gemeinsam die irreguläre Migration zu stoppen. Die drei großen Mittelmeeranrainer Frankreich, Italien und Spanien waren damals mit unkontrollierter Migration vor allem aus dem Maghreb und deren gesellschaftspolitischen Folgen konfrontiert.
Der ergebnislose Barcelona-Prozess
Ziel dieses Prozesses war, eine umfassende wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit zwischen den nördlichen und südlichen Mittelmeerstaaten in Form von Assoziierungsverträgen zu gestalten. Mit der Auslagerung von Produktion in diese Billiglohnländer sollte die Arbeitslosigkeit und damit die Migration bekämpft werden. Doch zeitgleich wussten die EU-Staaten ihre Märkte vor Importen aus dem südlichen und östlichen Mittelmeerraum zu "schützen". Das ambitionierte Projekt barg von Anbeginn Widersprüche. Weder führte es zu einer nachhaltigen wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Stabilisierung in diesen Staaten mit hoher Geburtenrate und konstant massiver Jugendarbeitslosigkeit noch ließ sich hiermit die Migration über das Mittelmeer stoppen.
Wohlgemerkt sprechen wir hier von den 1990er-Jahren. Die Meerenge von Gibraltar war damals eine der meist genutzten Routen, ohne dass es der spanischen Küstenwache gelang, die Migration unter Kontrolle zu bringen. Wechselseitige Rückführungsabkommen und vor allem die eiserne Hand des Langzeitherrschers Muammar al-Gaddafi in Libyen ermöglichten ein Eindämmen der Migrations- und Fluchtbewegungen. Oft unter sehr brutalen Bedingungen, die in Brüssel wohl bekannt waren. Aber man zahlte dankbar den libyschen Polizisten in Nordafrika.
Die "humanitären" Interventionen
Mit den arabischen Revolten und der europäischen Intervention in Libyen im März 2011 drehte sich vieles neuerlich im steten Migrationsroulette über das Mittelmeer. Gaddafi warnte in einer theatralischen Rede vor den Folgen seines Sturzes. Er sollte recht behalten. Bereits acht Jahre zuvor hatte der Sturz des irakischen Diktators Saddam Hussein die nachfolgende Zerstörung des Landes und den Exodus des Irak losgetreten. Es folgten die Kriegsdramen in Syrien und Afghanistan.
Die Bilder, die uns seit Monaten aus dem Grenzraum zwischen Weißrussland und Polen erreichen, erinnern teils an den Sommer 2015, als Hunderttausende Migranten sich über die Balkanstaaten auf den Weg nach Mitteleuropa machten. Ungarn war hierbei nur Transitland, denn die Menschen wollten nach Deutschland. Die Grenzen waren auf Vorschlag von Bundeskanzlerin Angela Merkel offen und unkontrolliert. Gegenwärtig stehen wieder Zehntausende Menschen, oft aus dem Nahen Osten, an der EU-Außengrenze. Für Weißrussland benötigen die meisten Migranten aus dem arabischen Raum keine Visa. Ihr Ziel ist weder Weißrussland noch Polen, das den Grenzraum zur Sicherheitszone ausgebaut hat.
Warschau geht auf Konfrontation mit der Zivilbevölkerung sowie den Regierungen von Weißrussland und Russland. Eine weitere Dimension eines militärischen Risikos schiebt sich zusätzlich zwischen die Migranten: Die Sicherheitskräfte des NATO-Mitglieds Polen und die Armee von Weißrussland. Warschau wird nicht müde, die Verantwortung für all das Moskau in die Schuhe zu schieben. Das ist mehr einem Reflex als einer Reflexion geschuldet. Zumindest ist für einige Wochen eine Art EU-Solidarität gegenüber Polen wieder sichtbar, während noch im Oktober Brüssel und Warschau im Namen der Rechtsstaatlichkeit einander täglich attackierten. Die Migration lenkt wie schon oft von anderen Themen ab, neue Allianzen bilden sich.
Das attraktive Deutschland
Wie schon im Jahr 2015 skandieren die Menschen wieder "Germany". Die Gründe sind leicht erklärt: Zwischen 2015 und 2016 erreichten rund eine Million Menschen Deutschland. So können zum einen Verwandte den Reisewilligen helfen, über diese Nordostroute nach Deutschland einzureisen und zunächst privat unterzukommen. Zum anderen arbeiten aber auch die einschlägigen Schlepperverbände von Deutschland aus. Diese Route ist nicht völlig neu, sie wird nur gegenwärtig intensiv genutzt. Trotz des Winterwetters. Die besondere Attraktivität Deutschlands liegt aber im umfassenden Sozialsystem, das Asylbewerbern ohne große Hürden zur Verfügung steht.
Die etwas andere Migrationskrise in der Pandemie
Doch die politische Stimmung ist inmitten der Pandemie zwischen Inflation, hohen Energiepreisen und Impfstreit aufgeheizt. Auch die deutsche Öffentlichkeit ist zermürbt, das Interesse an den vielen Dramen hält sich in Grenzen. Es herrscht nicht die Willkommenseuphorie wie im Herbst 2015, als ein großer Teil der Deutschen den Neuankömmlingen zujubelte. Jene Bilder gingen durch die Welt und hatten ihre Folgewirkungen.
Hinzu kommt noch eine weitere Dimension. Die neue Front im engeren Sinne dieses Begriffs ist diesmal nicht das Mittelmeer, sondern die EU-Außengrenze entlang des Baltikums und Polens. Im Grenzraum herrscht der Ausnahmezustand. Die polnischen Behörden erlauben weder Journalisten noch Hilfsorganisationen den Zutritt zu dem Gebiet. Im Jahr 2015 spielten die Filmkameras noch eine völlig andere Rolle, um die Massenmigration zu ermöglichen. Die EU-Kommission schweigt laut zum Mauerbau, der im Fall Ungarns vor fünf Jahren noch zu großen Zerwürfnissen zwischen Brüssel und Budapest führte. Gewissermaßen steht die Europäische Union auch vor einem Scherbenhaufen ihrer völkerrechtlichen Verpflichtungen in Fragen Menschenrechte und Schutz vor Verfolgung.
Das neue Vokabular "hybrider Kriegsführung"
Doch bekanntlich wird eher der Splitter im Auge des anderen als der Balken im eigenen erkannt, wie es ein biblisches Zitat schon formulierte. Anstatt daher Ursachenforschung und Gewissensbefragung vor der eigenen Haustüre zu betreiben, geht es im aktuellen Vokabular der EU-Spitzen um den Vorwurf einer "hybriden Kriegsführung" an die Adresse von Weißrussland und Russland, die beide für die aktuelle Fluchtroute verantwortlich gemacht werden.
Es ist die Rede davon, dass Flüchtlinge instrumentalisiert würden und diese Migrationswelle, vor der zumindest seit 2018 wiederholt gewarnt wurde, auf das Konto Russlands ginge. Es handelt sich um den Ausdruck einer weitreichenden Realitätsverweigerung.
Dass Weißrussland vielen Staaten im Nahen Osten Visafreiheit einräumt, ist kein Geheimnis. Es ist nicht das einzige Land, das eine etwas eigentümliche Linie in den Vorgaben zur Visavergabe verfolgt. Nicht anders lautete der außenpolitische Kurs Serbiens über Jahre hinweg, als Zehntausende Menschen aus Iran, Sri Lanka aber auch Nigeria via Serbien in die EU kamen. Belgrad tat damals nichts anderes als Weißrussland heute: Es gestattete einer Reihe von Staaten die Visafreiheit, falls diese den Kosovo nicht anerkannten oder dessen Unabhängigkeit wieder aberkannten. Als Außenministerin der Republik Österreich verwies ich damals wiederholt auf dieses brisante Thema, fand aber in den EU-Gremien kein Gehör.
Im Vergleich zur aktuellen Situation treten sowohl Polen als auch die EU-Vertreter völlig ungerechtfertigte Krisen mit Russland und der Türkei los, indem sie diesen Staaten Provokationen unterstellen. In Bezug auf die Türkei geht es um die Rolle der Fluglinien, die diese Migranten teils befördern.
Stille Telefondiplomatie
Während sich viele Redaktionen am medialen Säbelrasseln emsig beteiligen, arbeitet man parallel an Kommunikationsschienen. Paris und Berlin telefonieren, was ihnen wiederum die östlichen EU-Staaten zum Vorwurf machen. Ginge es nach den politischen Interessen Polens, dürfte der Rest Europas weder mit Moskau noch mit Minsk sprechen. Die polnische Diplomatie sollte es besser wissen, dass gerade in solchen Momenten das Gespräch geboten ist. Ob und in welchem Umfang es gelingt, das Patt zu lösen und diese Migrationskrise nicht mit Wasserwerfern, sondern Rückführungen der Menschen in ihre Heimatstaaten zu lösen, wird sich in den kommenden Tagen und Wochen zeigen.
Diese Tragödie ist nicht vom Himmel gefallen, sondern sie reiht sich in eine bekannte Chronologie ein. Die Fluchtbewegungen werden weltweit weiter gehen, dies bedingen auch demographische Fakten, die den Migrationsdruck dauerhaft beschleunigen. Europa schickte seine zornigen jungen Männer einst in die Kolonien, wo so mancher zu Ruhm und Reichtum gelangte, während er in der Heimat eher im Kerker gelandet wäre. In meinem Buch "Testosteron Macht Politik" erörterte ich diese Fragen und wurde damals auch dafür attackiert. Doch wer vor historischen Fakten und der menschlichen Natur die Augen verschließt und sich ins Moralisieren flüchtet, ist in der Politik ebenso wie in der Berichterstattung fehl am Platze.
Indes geht die unendliche Migrationsgeschichte der EU weiter. Sie findet in diesen Wochen zweifellos ungelegen statt, denn die Zermürbung ist geradezu spürbar. Die Biologie fragt nicht nach dem Sinn, sie kann aber vieles in brisante Richtungen beschleunigen. Ein Blick in die jüngere Geschichte Europas sollte uns vor gefährlichen Ausritten bewahren.
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