Ein Kommentar von Scott Ritter
Präsident Wladimir Putin sagte diese Woche, der Westen nehme die Warnungen Russlands, seine "roten Linien" nicht zu überschreiten, auf die leichte Schulter.
"Wir äußern ständig unsere Bedenken in Bezug auf diese Angelegenheiten, wenn wir über 'rote Linien' sprechen", sagte er bei einer Rede bei einem hochkarätigen Treffen russischer Diplomaten. "Unsere Partner sind insofern eigenartig, als dass sie – wie soll ich es milde ausdrücken? – einen oberflächlichen Umgang mit unseren Warnungen vor roten Linien haben."
Dies ist nicht das erste Mal, dass der russische Präsident den Westen vor Russlands "roten Linien" und den Folgen ihrer Überschreitung warnt. Im vergangenen April erklärte er: "Wir wollen wirklich keine Brücken niederbrennen". Putin fügte hinzu, dass "diejenigen, die diese Haltung mit Schwäche verwechseln, wissen müssen, dass Russlands Reaktion auf jede Aggression asymmetrisch, schnell und hart sein wird. Wir werden in jedem Fall selbst entscheiden, wo die rote Linie durchgeht."
Ein Großteil der geopolitischen Instabilität, die heute in Europa in Bezug auf die Meinungsverschiedenheiten zwischen Russland und der NATO zu beobachten ist, lässt sich auf die sogenannte "Erbsünde" der NATO-Osterweiterung und ihre Auswirkungen auf den Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) zurückführen. Dieser Vertrag wurde 1990 geschlossen, um den Abbau der großen Landarmeen zu bewerkstelligen, die einerseits von den USA und der NATO sowie andererseits von der Sowjetunion und dem Warschauer Pakt in Europa aufgestellt worden waren.
Die Niederträchtigkeit der USA und der NATO bei der Verletzung mehrerer Garantien, die dem damaligen sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow im Jahr 1990 gegeben wurden, dass die NATO sich nicht nach Osten ausdehnen und geopolitische Realitäten in Europa nicht ausnutzen werde, indem man versuchen würde, ehemalige Mitglieder des Sowjetblocks unter das eigene Dach zu ziehen, sind aktenkundig und bekannt. Vielleicht weniger erforscht sind die Auswirkungen, die diese mutwillige Verletzung einer zuvor kritischen sowjetischen "roten Linie" auf den KSE-Vertrag hatte. Die Kombination aus der Auflösung des Warschauer Paktes und der NATO-Osterweiterung machte den ursprünglich ausgehandelten Vertrag zu einem weitgehend irrelevanten Dokument, dessen Bedingungen und Überlegungen durch die tatsächlichen Ereignisse überholt wurden.
Um dem Abkommen neues Leben einzuhauchen, haben die Vertragsparteien das Abkommen über die Anpassung an den KSE-Vertrag ausgehandelt und dessen Bedingungen geändert, um der Realität eines Europa nach dem Kalten Krieg gerecht zu werden. Aber selbst hier konnten die NATO und die USA ihre vertraglichen Verpflichtungen gegenüber Russland nicht einhalten. Sie dehnten den Geltungsbereich des Militärbündnisses auf die drei ehemaligen baltischen Sowjetrepubliken Estland, Lettland und Litauen aus, von denen keines eine Vertragspartei des KSE war. Als Russland darauf bestand, den KSE-Vertrag zu ändern, um dieser neuen Realität Rechnung zu tragen, wurde dies von den USA und der NATO zurückgewiesen.
Gleichzeitig mit der Erweiterung der NATO und der Untergrabung der Absicht des KSE-Vertrags arbeiteten die USA und die NATO bei einem weiteren Vorhaben zusammen, das darauf abzielte, die russische nationale Sicherheit zu untergraben. Im Jahr 2002 traten die USA aus dem ABM-Vertrag aus und begannen fast umgehend damit, Abwehreinrichtungen gegen Raketen auf dem Boden der Mitglieder des Militärbündnisses zu installieren. Die Kombination aus NATO-Erweiterung, Annullierung des KSE-Vertrags und der Installation von Abwehreinrichtungen gegen Raketen, mit denen man russische Raketen abfangen kann, veranlasste Moskau, seine Mitgliedschaft im KSE-Vertrag auszusetzen. Dies ermöglichte es wiederum, Truppen innerhalb seiner eigenen Grenzen zu verlegen, um diesen neuen Bedrohungen zu begegnen.
Für die Vereinigten Staaten war die Wiederbelebung der "Wir gegen sie"-Dynamik des Kalten Krieges, in Bezug auf Russland, weniger von den Bedürfnissen der nationalen Sicherheit als von der innenpolitischen Realität getrieben. Nachdem sie den Kalten Krieg "gewonnen" hatte, wollte die amerikanische politische Führung, in ihrer Herangehensweise an ihren "besiegten" ehemaligen Feind, nichts weniger als siegreich angesehen werden.
Aber obwohl die NATO-Osterweiterung ein Akt des geopolitischen Opportunismus war, konnte sie kein "Bedrohungsprofil" erzeugen, mit dem ein militärisches Bündnis aufrechterhalten werden könnte, das auf der Notwendigkeit eines Feindes beruht, der den geforderten Einsatz von Ressourcen rechtfertigen würde. Russland war um das Jahr 2000 keine Bedrohung für die NATO – und kein noch so heftiges Brusttrommeln und Getue der Vereinigten Staaten konnte diese Realität ändern.
Der Zerfall Jugoslawiens ermächtigte die NATO, sich von der Vorstellung zu lösen, dass sie nur als Verteidigungsbündnis existierte. Als sich die USA bei ihren militärischen Abenteuern in Afghanistan und im Irak an die NATO wandten, geriet der Block in eine existenzielle Krise, in der die Spaltung zwischen dem "alten" und dem "neuen" Europa von den Vereinigten Staaten ausgenutzt wurde. Während Frankreich und Deutschland – das "alte Europa" – vorsichtig waren, Truppen zur Unterstützung einer US-Invasion und Besetzung des Irak zu entsenden, trat das "neue" Europa in Form von Polen, der Ukraine und Georgien auf die Bühne. Und als ob es seine Unzulänglichkeiten im Irak kompensieren wollte, stellte sich das "alte Europa" hinter eine Übung zur Nationenbildung in Afghanistan, die der abenteuerlichen Anti-Terror-Politik, dem amerikanisch geführten globalen Krieg gegen den Terror, untergeordnet wurde.
Die Aufspaltung der NATO/Europas in politische Lager auf der Grundlage ihrer jeweiligen Bereitschaft, amerikanische politische Ziele zu unterstützen, die traditionell außerhalb des Rahmens eines transatlantischen Militärbündnisses liegen, führte zu einer schizophrenen Realität innerhalb der NATO, in der der Konsens durch die Bereitschaft der Organisation definiert wurde, amerikanische politische Ziele zu unterstützen. Afghanistan wurde zum Goldstandard der NATO-Relevanz, wobei sich sowohl das "alte" als auch das "neue" Europa mit aller Macht in die Mission der Nationenbildung einkauften.
Als die NATO-Erweiterung zu unvermeidlichen Konflikten mit Russland um Georgien (2008) und die Ukraine (2014) führte, rang das transatlantische Bündnis, abgelenkt durch Afghanistan, um eine kohärente Antwort. Als die NATO-Mission in Afghanistan 2021 angesichts eines überstürzten Rückzugs der USA zusammenbrach, geriet die NATO in eine umfassende Identitätskrise. Sowohl die NATO als auch die USA befinden sich in einer Legitimationskrise, wenn es um die Daseinsberechtigung des Bündnisses nach dem Afghanistan-Debakel geht.
Da keine neuen Abenteuer in der Fremde in Sicht sind, um ihre Existenz zu rechtfertigen, versucht die NATO auf ihrer Suche nach Relevanz erneut die Erinnerungen an den Kalten Krieg wiederzubeleben. Angesichts ihres Verhaltens in der Vergangenheit sollte es nicht überraschen, dass die NATO und die USA dabei erneut die Haltung einnehmen, russische Bedenken zu ignorieren. Das Problem ist jedoch, dass die NATO und die USA schon so lange russische "rote Linien" überschreiten, dass sie gefährlich farbenblind geworden sind, wenn es darum geht, die potenzielle Bedrohung und die möglichen Konsequenzen ihres Handelns zu erkennen.
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Übersetzt aus dem Englischen.
Scott Ritter ist ein ehemaliger Offizier für Aufklärung der US-Marineinfanterie und Autor von "SCORPION KING: America's Suicidal Embrace of Nuclear Weapons from FDR to Trump". Er diente den USA in der Sowjetunion als Inspektor für die Umsetzung der Auflagen des INF-Vertrags, während des Zweiten Golfkriegs im Stab von General Norman Schwarzkopf und war danach von 1991 bis 1998 als Waffen-Chefinspekteur bei der UNO im Irak tätig. Derzeit schreibt Ritter über Themen, die die internationale Sicherheit, militärische Angelegenheiten, Russland und den Nahen Osten sowie Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung betreffen. Man kann ihm auf Twitter unter @RealScottRitter folgen.
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