Ein Kommentar von Paul A. Nuttall
Orbán hat deutlich gemacht, dass sein Land die Europäische Union nicht verlassen wird – obwohl er auch signalisierte, dass er für bedeutende Veränderungen innerhalb der Union kämpfen werde. In einer Rede vor den Anhängern seiner Partei Fidesz in Budapest sagte Orbán: "Wir wollen die EU gar nicht verlassen, sie können uns nicht so einfach loswerden. Wir wollen unsere Souveränität behalten, und wir wollen uns nicht in den Vereinigten Staaten von Europa wiederfinden statt in einem Bündnis der Integration." In Bezug auf die Vergangenheit Ungarns sagte Orbán auch: "Nach der kommunistischen Bürokratie wollen wir diesmal kein neues Diktat aus Brüssel."
Orbán wurde in den vergangenen Jahren zunehmend unbequem, was den Kurs der EU anbetrifft, und ist besonders besorgt darüber, wie die westeuropäischen liberalen Werte allen Mitgliedsstaaten aufgezwungen werden – unabhängig davon, ob sie damit einverstanden sind oder nicht. Der Premierminister sagte zu einer jubelnden Menge, dass "wir das Recht nicht aufgeben werden, unsere Grenzen zu verteidigen und Migranten abzuweisen. Wir bestehen zudem darauf, dass die Ehe in Ungarn zwischen einem Mann und einer Frau stattfindet, ein Vater ein Mann und eine Mutter eine Frau ist" und "dass man unsere Kinder in Ruhe lassen" solle.
Orbán bereitet Brüssel zunehmend Kopfschmerzen – so sehr, dass einige EU-Mitgliedsstaaten es vorziehen würden, Ungarn ganz aus der Union zu verabschieden. Tatsächlich sagte der niederländische Premierminister Mark Rutte kürzlich, dass "Ungarn keinen Platz mehr in der EU hat", was die ungarische Justizministerin Judit Varga zu der Antwort veranlasste: "Ungarn will die EU nicht verlassen. Im Gegenteil, wir wollen es von den Heuchlern befreien."
Ich selbst jedenfalls bin mir nicht sicher, ob die EU langfristig gerettet werden kann. Die Probleme nehmen deutlich zu, und Brüssel scheint ständig damit beschäftigt zu sein, Brandherde zu löschen – sei es beim erneuten Aufflammen der COVID-Pandemie auf dem Kontinent, der Frage der Migranten an der polnisch-weißrussischen Grenze, oder dem ständigen Streit mit Großbritannien nach dem Brexit. Hinzu kommt ein feindseliges Ungarn, das, wie Orbán sagte, entschlossen ist, Reformen anzustreben, die Brüssel nicht eingehen will. Aber welche Reformen wünscht er sich?
Nun, in erster Linie möchte er, dass Nationalstaaten die Macht behalten, ihre eigenen Gesetze zu erlassen und anzuwenden, die den eigenen Traditionen und Werten entsprechen. Orbán will auch ein Ende der tieferen Integration, die seiner Meinung nach die Souveränität der Nationalstaaten untergräbt. Vereinfacht gesagt will er weniger Einmischung der EU in die Angelegenheiten seines Landes.
Damit befindet sich Orbán auf direktem Kollisionskurs mit der EU, deren klares Ziel von Anfang an die vollständige Integration ihrer Mitgliedsstaaten war. In der Tat, wie das alte Sprichwort sagt, "geht Probieren über Studieren", und die Flagge, die Hymne, die Einheitswährung und jetzt die geplante EU-Armee, sind klare Indikatoren dafür, wohin das europäische Projekt gehen soll.
Orbán hat sich kürzlich in einer Reihe von Fragen mit der EU gezankt. Die Entschlossenheit seiner Regierung, LGBT-Literatur aus den Schulen fernzuhalten, hat eine extreme Reaktion von EU-Abgeordneten ausgelöst, die umgehend eine Verhängung von Sanktionen forderten. Ein unbeirrter Orbán reagierte daraufhin mit der Drohung, ein nationales Referendum zu diesem Thema einzuberufen. Der ungarische Regierungschef will auch, dass angemessene Grenzkontrollen eingeführt werden, und er möchte, dass die EU dafür aufkommt. Obwohl die EU die Idee der Finanzierung von Grenzmauern oder Zäunen zunächst ablehnte, scheint sie nach den chaotischen Szenen an der polnisch-weißrussischen Grenze eine peinliche Kehrtwende zu vollziehen. Wir werden also Zeugen eines Sieges von Orbán und seiner Regierung über die Bürokratie der EU.
Orbán hat signalisiert, dass er bereit ist, innerhalb der EU für diese Ziele zu kämpfen, und dies könnte für Brüssel ein großes Problem darstellen – zumal es keinen wirklichen Mechanismus gibt, um einen Mitgliedsstaat rauszuwerfen, da dies die Einstimmigkeit des Europäischen Rates erfordert. Ein Beispiel dafür, wie lästig Orban sein kann, ereignete sich vergangenes Jahr, als Ungarn zusammen mit Polen die Ratifizierung des 1,8 Billionen Euro umfassenden EU-Haushalts blockierte, bis sie Zugeständnisse in Fragen des EU-Rechts erhielten.
Orbán versucht auch, Allianzen mit ideologischen Brüdern zu bilden. So war er beispielsweise ein lautstarker Unterstützer der polnischen Regierung in ihren jüngsten Auseinandersetzungen mit Brüssel um den Vorrang beim EU-Recht. Tatsächlich könnte seine eigene Regierung an der Schwelle zu einem ähnlichen Kampf mit der EU bei der Abschiebung von Flüchtlingen stehen.
Und schließlich hat Orbán kürzlich versucht, die Rechte Europas zu einen, um eine weitere EU-Integration zu verhindern, und er hat eine Reihe von Treffen mit seinen Amtskollegen aus Italien, Frankreich, Polen, der Tschechischen Republik und Slowenien abgehalten, um diese Bestrebungen zu fördern. Das Endziel besteht darin, eine Gruppe gleichgesinnter Abgeordneter im Europäischen Parlament zu bilden, die zur zweitgrößten Fraktion in der Kammer wird.
Langfristig glaube ich fest daran, dass Ungarn, wie auch viele andere Staaten, die EU eines Tages verlässt. Kurz- und mittelfristig ist jedoch klar, dass Orbán Brüssel ein hartnäckiger Dorn im Auge sein wird, der die Führer der liberalen westeuropäischen Mitgliedsstaaten weiter in Rage bringen wird.
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Paul A. Nuttall ist Historiker, Autor und ehemaliger Politiker. Er war von 2009 bis 2019 Mitglied des Europäischen Parlaments und war ein prominenter Aktivist für den Brexit.