Eine Analyse von Scott Ritter
Die Bombardierung durch die US-Luftwaffe im März 2019, zur Unterstützung der syrisch-kurdischen Streitkräfte, um die letzten Überreste des Islamischen Staates im Irak und in Syrien (ISIS) zu beseitigen, die sich in das Dorf Baghuz an der syrisch-irakischen Grenze verkrochen hatten, wurde erneut auf den Prüfstand gestellt, nachdem die Behauptung aufgestellt worden war, dass das Verteidigungsministerium versucht habe Vorwürfe zu vertuschen, dass hier ein Kriegsverbrechen stattgefunden haben könnte. In diesen Anschuldigungen, die erstmals in einem Artikel in der New York Times erhoben wurden, wird behauptet, dass etwa 80 Menschen, darunter 64 Frauen und Kinder, durch einem vorsätzlichen Luftangriff von F-15E-Jagdbombern mit 250 – 1000 kg schweren Bomben der US-Luftwaffe getötet worden sind.
Auch wenn die Untersuchung des Vorfalls bei abschließender Prüfung möglicherweise nicht unter die rechtliche Definition eines Kriegsverbrechens fällt, scheint sie doch Teil eines größeren Musters gefühlloser Gleichgültigkeit der US-geführten Anti-IS-Koalition gegenüber zivilen Opfern zu sein, die bei den Kämpfen gegen ISIS in Kauf genommen wurden. Was wiederum auf die Schlacht um Raqqa, die einstige Hauptstadt des kurzlebigen ISIS-Kalifats, zurückgeht.
Diese Schlacht, die zwischen Juni und Oktober 2017 ausgefochten wurde, legte genau die Verfahren fest, die von den US-Streitkräften bei der Durchführung des Angriffs auf Baghuz im März 2019 angewendet wurden. Diese Methoden ignorieren, wie im Falle von Baghuz, weitgehend sowohl die große Anzahl getöteter Zivilisten als auch die Möglichkeit, dass deren Tötung in die Kategorie eines Kriegsverbrechens fallen könnte.
Raqqa geriet Anfang 2014 unter die Kontrolle von ISIS, im Zuge eines Vorläufers einer größeren Offensive, die später im selben Jahr gestartet wurde und bei der die Truppen von ISIS große Gebiete in Syrien und im Irak eroberten, einschließlich der irakischen Stadt Mossul. Die USA, die Ende 2011 alle kämpfenden Truppen aus dem Irak abgezogen hatten, entsandten Einheiten nach Bagdad, um den Widerstand der irakischen Armee gegen die Vorstöße des IS zu unterstützen, die mit ihrem Kalifat bereits vor den Toren der irakischen Hauptstadt standen. In den folgenden zwei Jahren, kämpften US-Streitkräfte Seite an Seite mit einer neu organisierten irakischen Armee, mit pro-iranischen Milizen und iranischen Spezialeinheiten, um den IS in den Großraum von Mossul zurückzudrängen. Unterdessen begannen in Syrien kurdische Verteidigungskräfte, auch bekannt als YPG – die mit der Kurdischen Arbeiterpartei PKK, einer Guerillabewegung in der Türkei, verbündet waren – eine Kampagne zu starten, um gegen die Kämpfer des IS vorzugehen, die das syrische Kurdistan bedrohten.
Während die US-Regierung bereit war, diese kurdischen Streitkräfte materiell zu unterstützen und auszubilden, verhinderte die Verbindung zwischen der YPG und der PKK solche Bemühungen aus Angst, die Türkei, einen NATO-Verbündeten, zu entfremden. Auf Anraten von General Raymond Thomas, dem Chef des US-Kommandos für Spezialoperationen, änderte die YPG "ihr Label", um Unterstützung seitens der USA zu erhalten, und nannte sich fortan SDF – Syrische Demokratische Kräfte.
Einige Tage später, am 30. Oktober 2015, gab Präsident Barack Obama bekannt, dass er einige Dutzend US-Spezialeinheiten nach Syrien entsenden werde, um die neu gegründete SDF bei ihrem Kampf gegen ISIS zu beraten. Der Pressesprecher des Weißen Hauses, Josh Earnest, betonte, dass "diese Spezialeinheiten keinen Kampfauftrag haben."
Die US-Spezialeinheiten wurden Teil einer kombinierten Task Force – Operation Inherent Resolve (CJTF-OIR), einem US-Militärkommando, das im Oktober 2014 zur Bekämpfung des IS eingerichtet wurde. Neben ihrer Ausbildungs- und Beratungsmission, unterstützte die CJTF-OIR auch die Ausführung von Luftangriffen durch US-Militärflugzeuge sowie die Durchführung von Geheimdienst-, Überwachungs- und Aufklärungsoperationen (ISR) gegen ISIS.
Der Schlüssel zu diesen Bemühungen der USA waren hochausgebildetes Personal aus Spezialeinheiten, bekannt als Joint Terminal Attack Controllers (Vereinte Kontrolle für finale Angriffe) oder JTACs, das hauptsächlich aus den Reihen der Spezialkräfte der US Air Force stammte, mit der Identifizierung von Angriffszielen beauftragt war und den Flugzeugen der USA und der Koalition Zieleinweisung leistete, die mit dem Abwurf von Sprengmitteln betraut waren.
Unter normalen Kampfbedingungen würden die JTACs an der Front eingesetzt, wo sie die Luftangriffe beobachten und leiten würden. Da Obama jedoch für US-Streitkräfte eine aktive Rolle in den Kämpfen strikt untersagt hatte, wurden die JTACs weit hinter den Kampflinien in Befehlsstellungen, kurz JOCs, eingesetzt, wo sie das Geschehen über Live-Videos von Drohnen, anderen Überwachungsflugzeugen und den Angriffsflugzeugen beobachteten und Angriffsziele identifizierten. Ursprünglich operierten die JTACs von einem JOC in Bagdad aus. Später, als der IS nach Norden in Richtung Mossul gedrängt werden konnte, wurde ein zweites JOC in der irakischen Stadt Erbil eingerichtet.
Als die Anti-IS-Kräfte jedoch näher an Mossul rückten, geriet ihre Offensive angesichts des starken Widerstands ins Stocken. Es wurde schnell klar, dass die derzeitige Anordnung zur Verwendung von JTACs aus sicherer Entfernung zur Steuerung der Luftangriffe nicht praktikabel war. Ende Dezember 2016 erließ Generalleutnant Stephen Townsend, der Kommandant der CJTF-OIR, daraufhin die Taktische Direktive Nummer 1, die es JTACs erlaubte, sich unmittelbar hinter den Frontlinien zu positionieren, wo sie sich direkt mit den Kommandeuren der irakischen Armee beraten konnten um reaktionsschnellere Luftangriffe gegen ISIS zu organisieren. Im Januar 2017 operierten US-JTACs in der Stadt Mossul.
Mossul fiel schließlich im Juli 2017 an die irakischen Streitkräfte. Der Kampf um Mossul gestaltete außerordentlich schwierig, mit schweren Verlusten auf beiden Seiten und führte dazu, dass ein Großteil der Stadt zerstört und, nach Angaben der Koalition, im Verlauf der Kämpfe etwa 326 Zivilisten getötet wurden. Der Schlüssel zu diesem Sieg war der intensive Einsatz der US-Luftwaffe, um die Kampffähigkeit des IS zu zerstören. General Townsend lobte die Bemühungen seiner JTACs und der Flugzeugbesatzungen und nannte den Kampf gegen ISIS in Mosul die "präziseste Kampagne in der Geschichte der Kriegsführung".
"Mögliche Kriegsverbrechen“ während der Schlacht von Mosul
Zur selben Zeit veröffentlichte Amnesty International einen Bericht, in dem behauptet wurde, dass die Taktiken der Koalition und der irakischen Streitkräfte im Kampf um Mossul "Kriegsverbrechen gleichkommen könnten". Laut dem Bericht wurden zwischen Januar und Mitte Mai 2017 möglicherweise bis zu 5.800 irakische Zivilisten getötet. Amnesty International stellte fest, dass selbst diese Zahl "eher gering sein könnte", da es auf Grund der Intensität der Kämpfe für Beobachter schwierig war, die genaue Zahl der Verletzten und Getöteten zu ermitteln.
Die Organisation warf der Koalition und den irakischen Streitkräften vor, "ihre Taktiken nicht angepasst" zu haben, indem sie "unpräzise, explosive Waffen mit weiträumiger Wirkung in dicht besiedelter städtischer Umgebung" eingesetzt hätten, obwohl sie wussten, dass irakische Zivilisten nicht aus dem Gebiet fliehen konnten. Amnesty International erklärte, dass die "Wahl der Waffen den Umständen entsprechend unangemessen war" und dass die Koalition es versäumt habe, die notwendigen Vorkehrungen zu treffen, um sicherzustellen, dass alle Ziele ausschließlich militärische Ziele waren, bevor ein Angriff gestartet wurde.
Das Internationale Komitee des Roten Kreuzes hat bei der Erörterung des Gesetzes über bewaffnete Konflikte zwei Grundprinzipien identifiziert, die militärische Kommandeure bei Kampfhandlungen berücksichtigen müssen, bei denen Zivilisten betroffen sein können. Das erste, das Unterscheidungsprinzip, besagt, dass ein Kommandeur immer klar zwischen Kombattanten und Zivilisten bzw. der Zivilbevölkerung als solcher unterscheiden muss. Darüber hinaus muss ein Kommandeur zwischen militärischen Zielen und zivilen Objekten unterscheiden. Wobei zu beachten ist, dass nur militärische Objekte angegriffen werden dürfen.
Das zweite Prinzip, das der Verhältnismäßigkeit, hält fest, dass bei Angriffe auf militärische Ziele Zivilisten und zivile Objekte so weit wie möglich von Kollateralschaden verschont werden müssen. Der kollaterale Schaden darf im Verhältnis zum direkten und konkreten militärischen Vorteil, den sich ein Kommandeur von der Operation verspricht, nicht überhöht sein. Wichtig ist, dass militärische Ziele nicht mehr als militärische Ziele zu betrachten sind, wenn sich dort Zivilisten aufhalten; denn sie teilen die Lebensgefahr durch ihre Anwesenheit im Zielgebiet. Angehörige der Streitkräfte haften nicht für kollaterale Schäden, wenn ihre Einsätze nach Treu und Glauben und in voller Übereinstimmung mit dem Kriegsrecht durchgeführt wurden. Die Tatsache, dass ein Gegner menschliche Schutzschilde vor sich herträgt, entbindet einen Kommandeur jedoch nicht von der Verpflichtung als Angreifer, Vorsorgemaßnahmen zu treffen und die Zivilbevölkerung zu schonen.
Als Reaktion auf die Vorwürfe von Amnesty International erklärte General Townsend: "Ich lehne jede Vorstellung ab, dass Angriffe durch die Koalition in irgendeiner Weise ungenau, rechtswidrig oder übermäßig gezielt gegen Zivilisten gerichtet waren", und fügte hinzu, dass die Koalition "außergewöhnliche Maßnahmen zum Schutz von zivilem Leben ergriffen habe und jedes Mal abgewogen habe, wie viele Zivilisten sich im Zielgebiet aufhalten und welche Munition man verwenden und wie man ein Gebäude angreifen soll um nur einen bestimmten Raum und nicht das gesamte Stockwerk oder das gesamte Gebäude zu zerstören."
Isoliert betrachtet ist es unmöglich, für die von Amnesty International behaupteten Kriegsrechtsverletzungen seitens der US-geführten Koalition während des Kampfes um Mossul eine Aussage zu treffen. Einen besseren Einblick erhält man jedoch, wenn man die Vorwürfe in Bezug auf Mossul mit den Ergebnissen eines anderen US-geführten Kampfes gegen den IS vergleicht – mit der Schlacht um Raqqa in Syrien.
Die Schlacht von Raqqa: Unterschiede zu Mosul
Die Schlacht um Raqqa begann am 6. Juni 2017, als Kämpfer unter dem Kommando der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) ihren Bodenangriff begannen. Es gibt drei Hauptunterschiede zwischen dem Kampf der von den USA unterstützten irakischen Streitkräfte in Mossul und dem Kampf der von den USA unterstützten SDF in Raqqa.
Erstens hatte es eine wesentliche Änderung der Regeln für den Kampfeinsatz gegeben. Kurz nach dem Amtsantritt von Präsident Donald Trump im Januar 2017, traf dieser sich mit seinen Militärkommandanten und gab Anweisungen, die eine Änderung der Einsatzregeln für das Vorgehen der US-Streitkräfte im Kampf genehmigten, um dem amerikanischen Militär mehr Flexibilität beim Besiegen des Feindes zu geben. Im Krieg gegen ISIS bedeutete dies, dass die Aufsicht über die sogenannte Autorität zur Zielerfassung – die Ebene, auf der Luftangriffe genehmigt werden – vom Kommandeur der CJTF-OIR (einem Drei-Sterne-General) auf einen untergeordneten Offizier des JOC delegiert wurde (ein Ein-Stern-General). Vielleicht noch wichtiger im Hinblick auf die Effizienzsteigerung war die Umsetzung der sogenannten "Kollektiven Verteidigungsregel bei Kampfhandlungen", die es den Truppen vor Ort ermöglichte, einen Luftangriff anzuordnen, wenn die unterstützte Einheit in direktem Feindkontakt mit dem IS stand.
Die zweite Unterscheidung war die direkte Rolle der SDF bei der Koordinierung der Feuerunterstützung für ihre Operationen. Laut der US-JTACs gab es mindestens zehn – wenn nicht sogar mehr – Mitglieder der SDF, die darauf trainiert waren während der Schlacht um Raqqa Luftangriffe anzufordern. Das SDF-Personal nutzte Samsung-Tablets, auf denen eine Anwendung namens Android Team Awareness Kit (ATAK) installiert war. Während in der Schlacht um Mossul ATAKs angewendet wurden, waren die Benutzer der Anwendung Teil einer staatlich kontrollierten Militäreinheit. Die SDF jedoch waren nichtstaatliche Kombattanten, Kräfte, die von der türkischen Regierung immer noch als Terroristen angesehen wurden. Ihnen die Möglichkeit zu geben, Luftangriffe zu koordinieren, war eine bedeutende Abweichung vom normalen militärischen Prozedere.
Mit ATAK erstellten SDF-Soldaten GPS-Koordinaten auf Satellitenbildern, die auf den Geräten vorinstalliert waren. Ähnliche Bilder wurden auf iPads geladen, die US-Flugbesatzungen und dem JTACS zur Verfügung standen. Die Bilder waren mit Anmerkungen versehen, sodass jedem Gebäude und seinen Hauptmerkmalen eine eindeutige alphanumerische Kennung zugewiesen werden konnte.
Wenn ein SDF-Kommandant die Zerstörung des Gebäudes A32 wünschte, konnte er diese Anfrage mittels eines Übersetzers, über eine Chat-App oder ein verschlüsseltes Telefon an ein JTAC übermitteln. Wenn der SDF-Kommandant mit ISIS im Kampfhandlungen verwickelt war, wurde das JTAC autorisiert einen Angriff zu genehmigen. Das JTAC kontaktierte dann das für den Angriff bestimmte Flugzeug und übermittelte die alphanumerische Kennung des Ziels, das der Pilot ausfindig machte und überprüfte. Sobald diese Prozedur abgeschlossen war, konnte der Pilot dazu übergehen die vorgesehenen Kampfmittel abzuwerfen.
Die dritte Unterscheidung war das Vorhandensein von Artillerieeinheiten der US Marineinfanterie, die in der Lage waren, ausgedehnten und anhaltenden Beschuss zu liefern, mit dem die Luftangriffe der Koalition ergänzt wurden, und die diese in vielen Fällen sogar ersetzten. Im März 2017 bestand die Artillerieeinheit als eine Batterie von sechs M777 Haubitzen, mit denen man im Verlauf von zwei Monaten 400 Einsätze ausführte und mehr als 4.000 Granaten abfeuerte.
Diese Einheit wurde im Juni 2017 durch eine weitere Batterie von sechs M777 Haubitzen ersetzt. Im Laufe von nur fünf Monaten feuerte diese Einheit über 35.000 Granaten vom Kaliber 155-mm auf Ziele des IS in und um Raqqa ab. Zeitweise war der Beschuss der Haubitzen so intensiv, dass zwei Kanonenrohre ausbrannten, was im modernen Kampf praktisch bisher nie vorgekommen war. Um das in einen Kontext zu setzen: Die Marineinfanterie und die US-Armee setzten 1991 während der Operation Desert Storm 760 Artilleriegeschütze ein, um damit etwa 60.000 Granaten abzufeuern und bei der Invasion des Irak im Jahr 2003 feuerten die US-Streitkräfte 34.000 Granaten ab.
"Die Mission der Artillerie der Marineinfanterie war es, ISIS daran zu hindern, Boden zu gewinnen oder sich aus ihren Verteidigungspositionen hinaus zu bewegen", bemerkte Oberstleutnant Jon O’Gorman, Kommandeur der Artillerieeinheit beim CJTF-OIR. O’Gorman fügte hinzu, dass die Marines "unnachgiebige und hochpräzise Feuerkraft auf den Feind regnen ließen." Laut CJTF-OIR war die "US Marine Corps Artillerieeinheit im Einsatz, um der Koalition größere Beweglichkeit zu verleihen und den syrischen Streitkräften die Niederlage des IS in Raqqa zu ermöglichen und zu beschleunigen." Ein Oberstabsfeldwebel der Armee sagte: "Wir brauchten die Marines um Druck auf ISIS auszuüben, und wir brauchten sie um ISIS-Kämpfer zu töten." Und sie taten es gründlich. Laut Generalmajor John Love, dem Kommandeur der 2. Marinedivision, "töteten die Marine-Artilleristen, mehr ISIS-Kämpfer als jeder andere da draußen, einschließlich der Spezialeinheiten."
Möglicherweise haben sie aber auch mehr Zivilisten getötet "als jeder andere da draußen". Die maximale Reichweite einer M777 beträgt knapp 30 Kilometer. Bilder, die während des Einsatzes der Marines bei Raqqa aufgenommen wurden, zeigten die Artilleriestellungen etwa 15 Kilometer vom Zentrum der Stadt entfernt. Bei 30 Kilometern beträgt der Streukreisradius (CEP) etwa 275 Meter, was bedeutet, dass die Hälfte der abgefeuerten Geschosse in einem 275-Meter-Umkreis um das Ziel landen. Je näher man dem Ziel kommt, desto kleiner wird dieser Kreis. Bei 15 Kilometer Reichweite beträgt der CEP der M777 etwa 95 Meter. Der tödliche Radius einer 155-mm-Granate, die von einer M777 abgefeuert wird, beträgt 70 Meter. Die Realität ist, dass, selbst wenn das Artilleriefeuer genau ist, über einen beträchtlichen Bereich des Zielgebietes eine Menge Tod und Zerstörung verteilt wird.
Mangel an genauer Intelligenz & Verletzung von Prinzipien
Im Gegensatz zur Schlacht um Mossul, wo US-Artillerie sehr viel restriktiver eingesetzt wurde, operierten die Marines in Raqqa in einer eigentlichen Zone des freien Feuers, 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Angesichts der Beschränkungen, die US-Kampfflugzeugen durch die Anwesenheit syrischer und russischer Kampfflugzeuge in der Nähe auferlegt wurden (eine Realität, die dazu führte, dass ein syrischer Kampfjet von US-Flugzeugen abgeschossen wurde), konnten amerikanische Piloten nicht einfach über dem Zielgebiet herumlungern und abwarten. Vielmehr mussten sie direkt ins Zielgebiet reinfliegen, ihre Bomben abladen und dann sofort wieder rausfliegen. Dies erforderte eine strengere Koordination. Aber eine strengere Koordination bedeutete nicht automatisch eine größere Genauigkeit.
"Wir versuchten, die Scharfschützen zu treffen, die in dieser dicht besiedelten Stadt operierten, aber wir hatten nicht die Taktik dafür", bemerkte ein amerikanischer Pilot. "Bombenabwürfe auf ein Ziel innerhalb von einem 100-Meter-Radius von einer befreundeten Stellung entfernt, was typischerweise eine Seltenheit ist, waren die tägliche Norm." Die Piloten erhielten oft Missionsbefehle nach dem Motto "Hey, du musst dieses vierstöckige Gebäude in dieser Stadt dem Erdboden gleich machen." Dies, so ein Pilot, "war grundlegend anders, als ich es erwartet hatte."
Auch der Mangel an genauer Aufklärung war ein Problem. "Unsere Aufklärungseinheiten erkennen keine Zivilisten, die sich in Gebäuden aufhalten", bemerkte ein amerikanischer Pilot. "Außerdem erschweren es Häuserschluchten, zivile Bewegungen und Lebensmuster zu erkennen." Das zivile Opferrisiko ist bei städtischen Operationen am höchsten, in Gebäuden, insbesondere bei dynamischer Zielerfassung, das heißt beim Abwerfen von Bomben oder dem Abfeuern von Artillerie.
Ermittlungen des Verteidigungsministeriums nach dem Ende der Schlacht um Raqqa ergaben, dass während der fünfmonatigen Kämpfe 159 Zivilisten getötet wurden; einem ausführlichen Bericht von Amnesty International zufolge starben aber mindestens 1.600 Zivilisten. Tatsache ist, dass die USA nicht wissen, und auch nicht wissen wollen, wie viele Zivilisten in Raqqa getötet wurden. Man gab den SDF-Kämpfern, die oft von Rache motiviert waren, alle Mittel, um so viele IS-Kämpfer und -Unterstützer wie möglich zu töten.
Ein New Yorker Reporter begleitete einen dieser Kämpfer, während dieser entlang einer Hauptstraße bei Raqqa vorrückte und häufig innehielt, um Luftangriffe auf Gebäude anzufordern, die er mit seinem ATAK-System identifiziert hatte. Der Reporter stellte fest, dass es aus diesen Gebäuden heraus keinerlei Widerstand gab. Auch hätten die SDF-Kämpfer keinerlei Versuche unternommen um festzustellen, ob die zu bombardierenden Gebäude leer waren. Die SDF-Führung wies die Möglichkeit von zivilen Opfer stets zurück. "In Raqqa gibt es nur noch zwei Arten von Menschen“, sagte ein SDF-Offizier dem New Yorker Reporter. "ISIS und Diebe. Warum sonst haben sie die Stadt noch nicht verlassen?"
Zum Zeitpunkt des Berichts waren schätzungsweise 20.000 Zivilisten noch immer in Raqqa eingekesselt und konnten die Stadt nicht verlassen, selbst wenn sie es wollten. Ein Ausweg aus Raqqa bestand darin, den Fluss Euphrat zu überqueren, der an seinem östlichen Rand die Grenzen der Stadt umfließt. Im Januar 2017 haben die USA den Bewohnern der Stadt diese Möglichkeit genommen und Flugblätter abgeworfen, in denen den Bewohnern von Raqqa mitgeteilt wurde, dass jeder, der versucht, den Euphrat über eine Brücke oder mit einem Boot zu überqueren, als legitimes Ziel betrachtet werde. Und tatsächlich tötete am 5. Juni 2017 ein US-Angriff mit Kampfflugzeugen 21 Frauen und Kinder, die versucht hatten, den Euphrat zu überqueren.
Bei der Schlacht von Raqqa verletzte das Militär der Vereinigten Staaten sowohl das Prinzip der Unterscheidung, da es nicht ausreichend zwischen militärischen und zivilen Zielen unterschied, als auch das Prinzip der Verhältnismäßigkeit, mit dem es sich erlaubte, unverhältnismäßige militärische Gewalt in bestimmten Situationen anzuwenden, ohne zu überprüfen, ob tatsächlich eine Bedrohung vorlag, die das Ausmaß der angewandten Gewalt rechtfertigte.
Die Schlacht von Raqqa wurde zu einer Vorlage für alle zukünftigen Operationen gegen den IS, an denen die SDF und die USA beteiligt waren. Als die Aktionen zur endgültigen Eliminierung des IS rund um Baghuz im März 2019 durchgeführt wurden, entfesselte sich eine Tötungsmaschinerie, die es den USA ermöglichte, jede Aktion zu rechtfertigen, solange sie zur Unterstützung einer SDF-Einheit durchgeführt wurde, die behauptete, mit ISIS in Kampfhandlungen verwickelt zu sein. Wenn man die Wahrheit über die Ereignisse in Baghuz erfahren möchte, dann muss man einfach nur die Schlacht von Raqqa studieren.
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Scott Ritter ist ein ehemaliger Geheimdienstoffizier des US Marine Corps. Er diente in der Sowjetunion als Inspektor bei der Umsetzung des INF-Vertrags, im Stab von General Schwarzkopf während des Golfkriegs und von 1991-1998 als UN-Waffeninspektor. Man kann ihm auf Twitter unter @RealScottRitter folgen.