Kommentar von Sergei Aksjonow
Die ganze Nacht hindurch lodern Lagerfeuer an der Grenze zwischen Weißrussland und Polen. Tausende junger Männer, Frauen und Kindern, alle mit dunklerer Haut, wärmen sich daran und warten auf den Sonnenaufgang. Im Białowieża-Urwald herrscht eisiger Frost, Schneefall droht einzusetzen.
Die Habseligkeiten der Menschen sind in Ballen, Rucksäcken und Schulterbeuteln verpackt – der anstehende Weg wird ein weiter sein. Diese neuen Hunnen – energisch, in Kapuzen und den für sie gänzlich ungewöhnlichen Uschankas – warten darauf, dass sich die Pforten des europäischen Paradieses öffnen. Dann können sie, erschöpft vom jahrelangen Überlebenskampf in ihrer zerstörten Heimat, endlich mit ihren einstigen weißen Herren die Früchte von deren Wohlstand teilen.
Doch die erwähnten Herren scheinen ihre hohen Standards der Menschlichkeit und Gastfreundschaft vergessen zu haben: Am Morgen des neunten November schloss Polen den Grenzübergang Kuźnica Białostocka in der Nähe des weißrussischen Grodno, weil es nicht wollte, dass Flüchtlinge auf seinem Staatsgebiet Schutz und Unterkunft suchen. An die Grenze beordert wurden zwölftausend Angehörige von Militär und Antiterroreinheiten. Bataillone der Territorialverteidigung wurden in Alarmbereitschaft versetzt. Für ein perfekt abgerundetes Bild fehlen nur noch die Panzer. Zum Einsatz von Landminen und Maschinengewehren ist es noch nicht gekommen, aber vielleicht kommt das ja noch. Über die gleichgültige und unmenschliche Haltung der polnischen Regierungsbehörden gegenüber diesen Parias der Welt kann man nicht anders als in Staunen geraten.
Angesichts dieses Unverständnisses mussten die Migranten auf eigene Faust handeln. Was sollen auch sie tun – bleiben, wo sie sind und erfrieren? In einem passenden Moment gelang es einigen Männern, mit Hilfe vorsorglich mitgenommener Metallscheren Breschen in den neuen polnischen, mit reichlich Stacheldraht versehenen Grenzzaun zu schneiden, gleich darauf stürzte sich die Meute hindurch. Einige schafften es durchzukommen. Die übrigen wurden von den polnischen Grenzschützern mit Tränengas besprüht und durch Warnschüsse in die Luft zurückgedrängt. Sogar Unterstützung aus der Luft wurde herangezogen, um "psychischen Druck" auf die Flüchtlinge auszuüben.
Gerade das letztgenannte Mittel ist vielsagend. Anscheinend wähnt man in Warschau aus alter europäischer Gewohnheit heraus, es mit Wilden und Halbmenschen zu tun zu haben. Sollen diese in ihrem Leben noch keines dieser Fluggeräte gesehen haben? Unter den Migranten befinden sich Iraker, Kurden, Emigranten aus Afghanistan, dem Nahen Osten und Nordafrika. Deren Länder sind zwar nicht reich, doch in der Regel ist dies das Resultat einer jahrelangen militärischen und politischen Einmischung des Westens. Also fliehen sie dorthin, wo sie ein satteres Leben erwarten. Flüchtlingsströme als Folge der Destabilisierung der Dritten Welt, nannte dies seinerzeit der Märtyrer Muammar al-Gaddafi von einer Tribüne der UNO voraus.
Gaddafi ist nicht mehr – dafür jedoch Russlands Außenministerium. Dessen Sprecherin Maria Sacharowa erinnerte nun daran, wie unter sehr aktiver Beteiligung Warschaus der Irak zerstört wurde:
"Über 2.000 polnische Soldaten drangen in diesen souveränen Staat ein, um dort die Demokratie zu etablieren. Warum also nicht heute mindestens ebenso viele 'dankbare Iraker' aufnehmen, deren Vorfahren mitnichten von einem solchen Leben träumten – weil sie ihr eigenes Leben in ihrem eigenen Land aufbauten, bis rücksichtslose Demokratisatoren dort einfielen?"
Die Frage ist rein rhetorisch, und die Antwort darauf kann nur Schweigen sein.
Jeglicher Muße für Polemik mit Russland, von konfrontativer Polemik ganz zu schweigen, gingen die polnischen Politiker urplötzlich verlustig. Die nur ein paar tausend zählenden friedlichen Flüchtlinge haben sie buchstäblich vernichtend geschlagen. Moralisch gesehen, sind sie nun nicht weniger gelähmt als seinerzeit durch die Rote Armee im Jahr 1939. Präsident Andrzej Duda verschob sogar seinen Besuch in die Slowakei angesichts des Chaos an der eigenen Grenze. Am Dienstag wurde eine Sondersitzung des Sejm, des polnischen Parlaments, einberufen.
Zuvor hatten die Abgeordneten für die Abschiebung der Migranten nach Weißrussland gestimmt, was sich jedoch als schwierig erwies. Die Praxis der sogenannten 'Pushbacks' wurde von Menschenrechtsaktivisten und dem Roten Kreuz als rechtswidrig eingestuft.
Warschau hofft nun, dass ein solider Grenzzaun (vielleicht ja unter der passenden Bezeichnung "Wall Trump"), für den knapp eine halbe Milliarde Euro bereitgestellt wurde, die Migrantenströme einzudämmen hilft. Die polnisch-weißrussische Grenze jedoch ist über 400 Kilometer lang – und eine Absperrung konnte bisher nur auf 80 Kilometern Länge gebaut werden. Das Haupthindernis sind dabei die EU-Gesetze, die verlangen, den Unglücklichen zu helfen – und sie eben nicht in ihre Länder zurückzuschicken und so zu Leiden oder zum Tod zu verurteilen. Polen zog gegen diesen Humanismus zu Felde, doch ist das der Preis der EU-Mitgliedschaft: Wer Feuer will, muss Rauch leiden.
Nachdem Polen nun die Rolle des Vorpostens des europäischen Paradieses zufiel, hat es seine Differenzen mit Brüssel vorübergehend beiseitegelegt – und appelliert an Gleichgesinnte. Der ehemalige polnische Premierminister Donald Tusk forderte gar die Anwendung des vierten Artikels der NATO-Charta, der Konsultationen im Rahmen des Bündnisses wegen der Bedrohung eines seiner Mitglieder vorsieht. Naja, wenigstens nicht des fünften Artikels über die Solidarität bei der militärischen Abwehr eines Angriffs – das wäre den Europäern nämlich mittlerweile auch zuzutrauen. Die Angst hat tausend Augen.
Der Solist Polen wird traditionell vom Rest des liederlichen Chors vom Bisamrattensopran bis Eselsbass unterstützt – seinen baltischen Anhängern. In Litauen ist mittlerweile von Sanktionen gegen weißrussische Flughäfen die Rede.
Besonders vehement jedoch wird die Theorie, dass Minsk in den Andrang Tausender von Flüchtlingen an der Grenze verwickelt sei, von Deutschland mitgetragen. "Wir beobachten, dass das Lukaschenko-Regime weiterhin Migranten nach Belarus lockt und sie auf eine gefährliche Reise in Richtung EU schickt. Es gibt Hinweise darauf, dass das Minsker Regime die Menschen trotz der widrigen Verhältnisse und auch der winterlichen Temperaturen immer wieder zur Grenze schickt, zum Teil mit Zwang", äußerte die Sprecherin des Auswärtigen Amtes Andrea Sasse. Doch die Welt erinnert sich: Wenn überhaupt jemand irgendwann Migranten in die EU "lockte", so war es niemand anderes als Frau Merkel, die so gern Selfies mit ihnen schoss. Die Unterdrückten der ganzen Welt haben sich das gut eingeprägt. Soll sich doch Merkel jetzt auch vor den Deutschen verantworten. Oder dämmert es Berlin vielleicht einfach nur, dass das Reiseziel der Migranten in Weißrussland auch diesmal in Wirklichkeit Deutschland ist?
Der Ernst der Lage ebenso wie der Grad der Angst, die sich über weite Teile Europas gelegt hat, lassen sich auch daran ermessen, dass nun auch das US-Außenministerium in Erscheinung getreten ist. Der Sprecher des State Department, dem man in der Welt immer noch (wenn auch widerwillig) zuhört, äußerte sich besorgt über "eine Kampagne mit dem Ziel, einen außergewöhnlichen Strom von Migranten über die Grenze nach Europa zu schaffen". Er versprach, dass die USA weiterhin Druck auf die weißrussische Führung ausüben würden, um die nervöse Situation einzudämmen. Da versucht Washington also, Lukaschenko einzuschüchtern. Wie schafft man es dort überhaupt, selber nicht vor Lachen loszuprusten?
In Minsk äußern sich die politischen Behörden derweil nicht zur Situation. Das staatliche Grenzkomitee zeigt die dieser Struktur innewohnende geballte Gelassenheit. Der weißrussische "kollektive Karazupa" (legendärer sowjetischer Grenzschützer, nahm in 20 Jahren Dienst unmittelbar an der Grenze von 1932 bis 1952 338 illegale Grenzgänger fest und liquidierte 129 Spione und Saboteure, die ihre Waffen nicht niederlegen wollten; Anm. d. Red.) hatte dazu Folgendes zu sagen:
"Sie (die Migranten; RT) haben sich deswegen in einer so großen Gruppe organisiert, um auszuschließen, dass sie durch die polnische Seite gewaltsam wieder herausgedrängt werden – sowie um die Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft auf die Missachtung der Menschenrechte durch Warschau zu lenken."
Am 22. November findet in Wien eine Konferenz über die Lage in Weißrussland statt. Die Europäische Union bekommt damit die Chance, frühere Fehler zu korrigieren. Vielleicht wird der Strom der Migranten danach ja versiegen.
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Übersetzt aus dem Russischen.
Sergei Aksjonow ist Journalist, Politologe und Schriftsteller. Er blickt auf eine turbulente Laufbahn als Politiker und politischer Aktivist (Nationalbolschewisten, "Anderes Russland") sowie Menschenrechtsaktivist in Russland zurück.
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