von Paul A. Nuttall
Eine Reihe westeuropäischer Länder hat ihre Besorgnis über die Ambitionen der Europäischen Union geäußert, sechs Balkanstaaten zum Beitritt zur EU einzuladen. Tatsächlich scheint sich zwischen Brüssel und einer Reihe von EU-Mitgliedsstaaten in Frage des Balkans eine Kluft zu entwickeln. Während die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen hofft, noch in diesem Jahr Beitrittsgespräche mit Albanien und Nordmazedonien aufnehmen zu können, sind einige europäische Regierungen zurückhaltender.
Am 6. Oktober soll ein Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der EU und des Balkans stattfinden, auf dem – so die Hoffnung – eine gemeinsame Erklärung zur Bekräftigung der Beitrittsverpflichtung vereinbart werden kann. Doch zur Stunde elf rudern einige westliche Hauptstädte bei ihren früheren Zusagen zurück. Es wird angenommen, dass es sich bei den betreffenden Ländern um Frankreich, die Niederlande und Dänemark handelt – Nationen, die bei der Osterweiterung der EU tonangebend waren. Was hat also zu deren Kehrtwende geführt? Die Antwort lässt sich in einem Wort geben: Brexit.
Paris, Amsterdam und Kopenhagen befürchten, dass der Brexit kein Einzelfall gewesen sein könnte. Sie befürchten, dass eine weitere Einwanderungswelle aus Osteuropa die Wähler Westeuropas gegen die EU aufbringen könnte, und dazu führen, dass sich immer mehr Mitgliedsländer für den Austritt aus der Union entscheiden könnten. Und sie haben durchaus Gründe, sich Sorgen zu machen. Denn ohne den Beitritt Bulgariens und Rumäniens im Jahr 2007 wäre es, meiner Meinung nach, nie zum Brexit gekommen. Obwohl sich die Wähler des Vereinigten Königreichs aus einer Vielzahl von Gründen für den Austritt aus der EU entschieden haben, etwa wegen der horrenden Beitragszahlungen und mangelnder demokratischer Rechenschaftspflicht, würde nur ein Dummkopf behaupten, dass die Einwanderung nicht ganz oben auf der Liste stand.
Und es war meine Partei, die UKIP, die diese Agenda vorangetrieben hat. Wir warnten davor, dass eine Flut von Migranten entstehen würde, die nach Westen ziehen wollen, sobald für Bulgaren und Rumänen die Beschränkungen für das Recht auf Arbeit im Vereinigten Königreich im Januar 2014 auslaufen würden. Für uns war es ein simpler Fall von Wirtschaftslogik: Warum in Bulgarien für 500 Euro im Monat arbeiten, wenn man in Großbritannien das Vierfache verdienen kann?
Natürlich wurden wir damals von etablierten Politikern und der linken Presse ausgelacht. Die Regierung behauptete, dass wir Panik schüren würden und dass weniger als 13.000 kommen werden. Doch 2017 lebten bereits 413.000 Bulgaren und Rumänen in Großbritannien. Dies hat viele Menschen zweifellos in das Brexit-Lager getrieben. Und genau das befürchten einige Staaten Westeuropas, dass sich sowas wiederholen wird.
Frankreich zum Beispiel scheint zunehmend europaskeptischer zu werden. Tatsächlich sehen wir es an den Umfragewerten von Marine Le Pen und auch daran, dass der ehemalige französische Brexit-Unterhändler Michel Barnier mittlerweile wie ein Brexiter klingt. Darüber hinaus lehnt Dänemark Einwanderung zunehmend ab. Tatsächlich hat die dänische Regierung Anfang des Monats ihre Absicht signalisiert, Migranten für ihre staatlichen Beihilfen arbeiten zu lassen. Das Letzte, was die dänische Regierung will, ist ein weiterer großer Zustrom von Migranten, insbesondere aus der EU, die das Recht auf Niederlassung und Freizügigkeit haben.
Es gibt noch andere Gründe, warum ich glaube, dass diese westeuropäischen Staaten bestrebt sind, dem EU-Beitritt der Balkanländer den Stecker zu ziehen. Der erste ist die ständige europäische Sorge um das Kräftegleichgewicht. Ich wies schon vor einiger Zeit darauf hin, dass derzeit innerhalb Europas ein Kulturkampf herrscht und die Trennlinie von Ost nach West verläuft. Auf der einen Seite gibt es Osteuropa, das von Christentum und traditionellen Werten geprägt ist, und dann gibt es den liberalen Westen, der die Werte der Vergangenheit zugunsten des Lebensstils nach dem Motto "leben und leben lassen" weitgehend vermeidet.
In der EU hat derzeit der Westen die Mehrheit der Stimmen. Treten jedoch sechs Balkanstaaten bei, dann kippt die Bilanz nach Osten und die Dinge beginnen sich auszugleichen. Zu Polen und Ungarn kommen Länder wie Serbien, die ähnliche Werte vertreten und das Gesicht der Union verändern können.
Ein weiterer Grund für die neue Unlust, auf den Balkan zu expandieren, mag mit dem Rücktritt von Angela Merkel zusammenhängen. Schließlich war Merkel eine vehemente Befürworterin der EU-Expansion auf den Balkan und sagte kürzlich: "Es liegt im eigenen Interesse der Europäischen Union, den Erweiterungs-Prozess hier voranzutreiben".
Zudem könnte das – eher unwahrscheinliche – Szenario eingetreten sein, dass Politiker aus ihren Fehlern in der Vergangenheit gelernt haben. Das mag jetzt unwahrscheinlich erscheinen, aber es ist möglich. Einige könnten zum Schluss gekommen sein, dass groß nicht immer besser ist, wenn es um die EU geht. Oder vielleicht ist man auch zu dem Schluss gekommen, dass es töricht ist, unterschiedliche Nationen zusammenzuzwingen, von denen viele nichts gemeinsam haben, außer der Tatsache, dass sie auf demselben Kontinent liegen.
Eines ist sicher, die Balkanländer werden sich von dieser Kehrtwende gekränkt fühlen. Serbien, Kosovo, Bosnien-Herzegowina, Montenegro, Albanien und Nordmazedonien haben vor langer Zeit Zusagen aus Brüssel bekommen, eines Tages der Union beitreten zu dürfen. Nun scheint es, dass diese Zusagen wegen innenpolitischer Wahlbedenken im Westen, zurückgenommen werden könnten. Die Balkanstaaten sollten sich also die Frage stellen, ob sie mit solchen EU-Schönwetterfreunden wirklich eine Union eingehen wollen?
Mein Rat lautet: Macht es nicht!
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Übersetzt aus dem Englischen.
Paul A. Nuttall ist Historiker, Autor und ehemaliger Politiker. Er war von 2009 bis 2019 Mitglied des Europäischen Parlaments und war ein prominenter Aktivist für den Brexit.
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