Ein Kommentar von Tom Fowdy
Die Evergrande Group, Chinas zweitgrößter Immobilienkonzern, steht offenbar kurz vor der Insolvenz. Er ist einer der größten der Welt und im Ranking der 500 größten globalen Firmen des Wirtschaftsmagazins Fortune gelistet. Der Konzern sieht sich jedoch mit Verbindlichkeiten in der Höhe von über 300 Milliarden US-Dollar konfrontiert und kämpft damit, seine Schulden zu bedienen, wodurch er einem Ausfall- und Insolvenzrisiko ausgesetzt ist.
Sein Aktienkurs stürzt ab und sein mögliches bevorstehendes Schicksal jagt erwartungsgemäß weltweit Schockwellen und Ängste durch die Märkte – etwas, das die Mainstream-Medien gerne aufgreifen, weil sie Horrorgeschichten über China lieben, erst recht, wenn sie sich in dessen Wirtschaft abspielen.
Infolgedessen gab es eine Flut von Artikeln, in denen die aktuelle Situation als angeblicher "Chinas Lehman Brothers Moment" bezeichnet wurde – in Anlehnung an das berühmte US-Finanzunternehmen, das 2008 pleiteging und die globale Finanzkrise auslöste. Jetzt sagen Kommentatoren unweigerlich dasselbe voraus und weisen darauf hin, dass der Untergang von Evergrande nicht nur Chinas eigene Wirtschaft erschüttern, sondern weit darüber hinaus Folgen haben könne. Eine Reihe bekannter westlicher Finanzinstitute haben Anleihen des Unternehmens gekauft und würden heftige Verluste erleiden, wenn das Unternehmen seinen Verpflichtungen in den kommenden Wochen nicht nachkommen kann. Viele spekulieren nun darüber, ob die chinesische Regierung Evergrande retten könnte.
Machen wir uns aber eines klar: Evergrande ist kein weiterer Lehman Brothers. Einer der Gründe für den exzessiven Zirkus sind nicht nur die berechtigten Befürchtungen um das Schicksal dieser Firma, sondern auch, dass im Mediendiskurs rund um China ein Kult der erbärmlichen Hysterie und der Lust auf Negativmeldungen herrscht. Wenn es um China geht, mögen westliche Medien nichts lieber, als alles auch nur im entferntesten Sinne Schlechte aufzugreifen und es in übermäßig dramatischen und apokalyptischen "Nachrichten" zu verpacken.
In der Folge schlagen sie oft blinden Alarm und landen mit ihren Einschätzungen immer wieder falsch. Es ist ein Nachrichtenzyklus, der auf einer "auf das Schlimmste hoffenden" Denkweise basiert, angetrieben von einer seltsamen Mischung aus orientalistischen wie auch schlicht ideologischen Vorurteilen.
Für jedes Ereignis innerhalb Chinas werden die schlimmstmöglichen Szenarien gemalt. China stand beispielsweise vor wenigen Monaten vor einer angeblichen Nuklearkatastrophe. Der anfängliche Ausbruch von COVID-19 im Jahr 2020 wurde als Chinas "Tschernobyl-Moment" und eine Bedrohung für das politische System selbst dargestellt, ebenso wie die Proteste in Hongkong ein Jahr zuvor. Und der Drei-Schluchten-Staudamm ist offenbar ständig "einsturzgefährdet". Die Liste geht endlos weiter. Wir alle wissen, dass es einen bestimmten Autor gibt, der vor über 20 Jahren ein Buch mit dem Titel "The Coming Collapse of China" (Der bevorstehende Zusammenbruch Chinas) verfasst hat – und in gewisser Weise spiegeln seine Thesen über China die heutigen Szenarien vom "Untergang" wider, die aus der inhärenten Überzeugung zu stammen scheinen, dass das politische und wirtschaftliche System des Landes unweigerlich scheitern wird – oder besser gesagt: aus der glühenden Hoffnung darauf.
Dieses wenig hilfreiche Medienmilieu erzeugt nur ein "weißes Rauschen" und eine Ablenkung von dem, was dort tatsächlich passiert. Und so ist es auch bei Evergrande. Die Firma mag auf den Knien hocken, aber es gibt einen kalkulierten Grund, warum man sie in Peking – zumindest bisher – am Rande zum Ruin wandeln lässt – sowohl aus wirtschaftlichen als auch aus politischen Gründen, nicht etwa aus Nachsicht oder Nachlässigkeit.
Tatsächlich hat Xi Jinping eine viel härtere Linie gegenüber einem als nicht nachhaltig empfundenem und von Schulden getriebenem Wirtschaftswachstum eingeschlagen. Er mag es nicht, wenn Unternehmen extreme Schulden machen, um kurzfristige Wachstumsziele ohne Nachhaltigkeit zu erreichen. Es ist diese Art von unkontrollierten Ausgaben, die im Mittelpunkt der Dissertation von Gordon Chang aus dem Jahr 2000 standen: Der Glaube, dass fehlende finanzielle Nachhaltigkeit das System zum Einsturz bringen würde.
Aber China hat sich genau davon entfernt, und der Schwerpunkt unter Xi Jinping liegt darauf, die Angebotsseite zu kontrollieren, übermäßige Kreditvergaben zu begrenzen und ein geringeres, aber dennoch organisches und nachhaltiges Wirtschaftswachstum zu erzielen. Als die COVID-19-Krise im vergangenen Jahr Chinas Wirtschaft traf, wurden die finanziellen Mega-Anreize, auf denen sich die USA und Großbritannien abstützten, bemerkenswerterweise vermieden. Diese Wirtschaftsstrategie ist einer der Gründe, warum Chinas jährliches Wachstum unter der Ägide von Xi Jinping von etwa 10 Prozent auf 6 Prozent sank – weil es gefährlich ist zu überborden. Ein Teil dieser Strategie bestand darin, Unternehmen zu warnen, dass man sie – wenn sie ihr Geschäft nicht nachhaltig aufbauen und dann untergehen – nicht retten werde, sondern scheitern lassen wird. Damit soll die Wirtschaft zu mehr Effizienz gezwungen und eine produktivere, besser strukturierte Wirtschaft geschaffen werden.
Aus diesem Grund ist die Zahl der säumigen Unternehmen in China angewachsen. Aber die Frage bleibt: Wird Evergrande untergehen und eine Finanzkrise auslösen? Auch hier: Nein, oder zumindest nicht so, wie es erwartet wird. Die chinesische Regierung hängt Evergrande erstmal auf die Trockenleine, um anderen eine politische Warnung zu senden: Keine Firma ist zu groß, um scheitern zu können – und politische Interventionen sind nicht garantiert.
Eine andere Theorie besagt, dass sie bereit sei, Evergrande fallen zu lassen, weil man nicht möchte, dass der Immobilienmarkt des Landes überhitzt und Immobilien und Vermögenswerte unerschwinglich werden. Eine potenzielle Immobilienblase war eine weitere potenzielle Falle für Chinas Wachstum. Daher hält man sich in Peking aus einer Vielzahl sorgfältig überlegter Gründe mit einer Intervention im Fall Evergrande zurück, da sich daraus erhebliche wirtschaftliche Konsequenzen ergeben würden.
Das bedeutet nicht, dass Chinas Regierung nichts tun wird. Chinas Finanzsystem funktioniert nicht wie das im Westen. Alle großen Banken sind im Staatsbesitz. Die Regierung kann ihre eigenen Kontrollen und Regeln nach Belieben durchsetzen und einfach "der wirtschaftlichen Schwerkraft trotzen" – gerade deshalb waren Thesen über Chinas Zusammenbruch so oft falsch.
Die Regierung mag das Unternehmen selbst sterben lassen, wird aber einspringen, um die Gläubiger und Investoren zu bedienen, denn unter keinen Umständen möchte China für eine globale Finanzkrise – oder gar einen Zusammenbruch – verantwortlich gemacht werden, nicht zuletzt in einer Zeit, in der Peking ohnehin für alles zum Sündenbock gemacht werden soll. Es gibt viele Lösungen für diese Krise, aber China hat anscheinend eine politische Entscheidung getroffen, dass der Status quo nicht fortgesetzt werden kann. Firmen, die sich auf diese Weise mit Schulden überladen, können ohne ernsthafte Reformen nicht weitermachen wie bisher.
In diesem Fall tun die Mainstream-Medien das, was sie immer tun: Sie machen sich plötzlich über China Sorgen. Nichts wird so sehr genossen, so sehr erhofft oder so sehr erwartet, wie eine Krise, die den ideologischen Wunsch weiter aufkeimen lässt, dass sich dadurch der politische Status quo in China ändern werde.
Evergrande ist nur das neueste Thema dieser unangebrachten und erbärmlichen Hysterie. Über die Schlagzeilen hinaus betrachtet, will China lediglich einen nur durch Schulden angetriebenen Kurs seines Wirtschaftswachstums beenden – und genau das macht China. Auch wenn Evergrande wie durch ein Wunder aus diesem Schlamassel herauskommen sollte, hält Xi Jinping für den Konzern einige harte Lektionen bereit. Es liegt in seinem politischen Interesse und im Interesse eines nachhaltigen Wachstums Chinas insgesamt, dieser Firma Schmerzen zu bereiten.
RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.
Übersetzt aus dem Englischen.
Tom Fowdy ist ein britischer Autor und Analyst für Politik und internationale Beziehungen mit dem Schwerpunkt Ostasien. Er twittert unter @Tom_Fowdy.
Mehr zum Thema - Wie China sich vor den Fallstricken hütet, die Washington besitzt und auch auslegt